2016 verfehlten es die meisten repräsentativen Umfragen, die Ergebnisse des Brexit-Referendums und der US-Präsidentschaftswahl richtig zu prognostizieren. Die falsche Vorhersage der Wahlergebnisse wurde auch als ein Beispiel für die Geschichte des Zweifels an wissenschaftlicher Expertise verstanden, waren doch die jeweiligen Umfragen unter Beachtung wissenschaftlicher Standards erstellt worden. Aber auch in anderen Bereichen werden wissenschaftliche Erkenntnisse seit einiger Zeit zunehmend angezweifelt oder bewusst verneint. Das liegt mitunter daran, dass Menschen wiederholt beobachten mussten, dass sich politische Entscheidungen, die maßgeblich durch ExpertInnen begründet waren, als falsch herausstellten (zum Beispiel im Rahmen der internationalen Finanzkrise ab 2007). Zugleich herrschte vor allem nach der US-Präsidentschaftswahl das Gefühl einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung. Die Grundlagen liberaler Demokratien schienen nicht mehr selbstverständlich gegeben und unangreifbar. Indes gab es politische Bewegungen, die Demokratien explizit in Frage stellten. Das Einzige, was man diesen Kräften entgegensetzen könnte, so schien es im medialen Diskurs, war die Klarheit und Unparteilichkeit wissenschaftlicher Argumente. Dafür jedoch müssten WissenschaftlerInnen aktiver am politischen Austausch teilnehmen. Viele journalistische Beiträge hinterfragten infolgedessen die Rolle der Wissenschaft[1] in liberal-demokratisch verfassten Gesellschaften. Dabei waren sich die Beiträge in zwei Punkten einig: Sofern es in der Wissenschaft um das Lösen von Problemen durch theoretisch informierte Forschung geht, die auf Fakten und schlüssigen Argumenten beruht und kritisch gegenüber der Geltung ihrer eigenen Methoden ist, muss sie in Opposition zu den politischen Entwicklungen stehen, die wir in vielen liberalen Demokratien beobachten. Der daran anschließende zweite Vorwurf war, dass die Wissenschaft daran scheitert, indem sie zu verschlossen, elitär, selbstzufrieden, politisch zu passiv und zu wenig interdisziplinär sei.
Mit Blick auf ihre gesellschaftliche Rolle stand und steht die Wissenschaft damit vor ganz unterschiedlichen, tiefgreifenden Herausforderungen. Ihre Expertise wird zwar gewünscht, doch gleichzeitig angezweifelt. Sie soll politischer sein, jedoch werden ihre Beiträge besonders in der politischen Diskussion in Frage gestellt.
Es bleibt die Frage: Was kann und soll Wissenschaft leisten? Wie politisch darf und sollte sie sein?
Die Gefahr des Postfaktischen
Die Debatten über die Rolle der Wissenschaft innerhalb der Gesellschaft haben sich auch am Begriff des Postfaktischen entzündet. Viele waren und sind besorgt über die Rhetorik und die Programme von politischen Bewegungen, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen als Meinung abtun und alternative Fakten proklamieren.
Die dahinterliegende Sorge ist, dass PopulistInnen sich von der „Wahrheit“ abwenden, die die Wissenschaft ihnen offenbart. Das ist insofern problematisch, da es das vereinfacht, was Wissenschaft ist. Wissenschaft schafft keine Wahrheiten, sondern – wie es in der klassischen Wissensdefinition in der Erkenntnistheorie heißt – wahre, gerechtfertigte Überzeugungen, die uns helfen, die Welt um uns herum und uns selbst besser zu verstehen. Zwar gibt es objektivierbare Beobachtungen, die wir gemeinhin auch als Fakten bezeichnen, aber das, worum es in der Wissenschaft eigentlich geht, sind Theorien und Hypothesen, die uns helfen, Beobachtungen zu verstehen und ihre Zusammenhänge zu erklären. Diese Theorien sind allerdings nicht unumstößlich verifizierbar, sie sind falsifizierbar und müssen es bleiben.
Wissenschaft kann einen politischen Diskurs, in dem Argumente zählen, die auf Emotionen und identitären Bezügen basieren, nicht dadurch retten, dass ihr ein Wahrheitsanspruch zugeschrieben wird. Wer das fordert, der missversteht nicht nur wissenschaftliche Methoden, sondern bringt die Wissenschaft auch in eine gefährliche Position. Denn so wird sie zu einem politischen Akteur gemacht, der benutzt wird, um eine politische Debatte mit einem Wahrheitsanspruch zu beenden. Doch wer so mit Wahrheit argumentiert, der handelt, wie Hannah Arendt in „Wahrheit und Politik“[2] sagte, nicht politisch.
Hingegen sollte sich die Wissenschaft auch politisch dafür einsetzen, dass ein öffentlicher Diskurs stattfindet und lebhaft geführt wird, in dem Argumente im Wettstreit miteinander stehen und kritisch überprüft werden. Die Wissenschaft sollte sich auch für diesen Diskurs öffnen und an ihm teilhaben, aber stets in dem Bewusstsein, dass sie ihn erübrigt. Wissenschaft kann ihre politische Rolle nur dann erfüllen und unbequem sein, wenn WissenschaftlerInnen sich dafür einsetzen, dass die Freiheit der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Freiheit der kritischen Funktion der Wissenschaft stets gewahrt bleiben. Wissenschaft ist somit per se kein Mittel gegen Populismus, und wissenschaftliche Argumente lösen keinen politischen Konflikt. Viel hängt davon ab, dass wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich, offen und frei zugänglich sind und dass die Ergebnisse der Forschung Teil des politischen Prozesses werden. Auch dadurch kann Wissenschaft politisch sein.
Kommunikation über die Wissenschaft und ihre Methoden
Angesichts des dynamischen Strukturwandels in etablierten und sozialen Medien droht sich ein wesentlicher Teil der Gesellschaft von einer evidenzbasierten Kommunikation zu verabschieden. Eines der Hauptprobleme von „Postfaktualismus“ ist, dass Forschung als Meinung abgetan wird, um alternative Fakten zu proklamieren, sodass PopulistInnen ihre Meinung wiederum als Erkenntnis vermitteln. „Gefühlte“ und „postfaktische“ Wahrheiten können sich jedoch nur durchsetzen, wenn die Kompetenz der scientific literacy gering ist, also das Wissen und Verständnis von und über wissenschaftliche Methoden und Zusammenhänge.
Zwar ist in den vergangenen Jahren der Bevölkerungsanteil der gut Ausgebildeten – gemessen an Bildungszertifikaten – angestiegen, Zertifikate alleine geben jedoch keinen Aufschluss über die zugrundeliegenden Kompetenzen. Beispielsweise zeigen die PISA-Studien, bei denen unter anderem die scientific literacy erhoben wurde[3], dass die Bildungsexpansion, gemessen am Zuwachs tertiärer Bildungsabschlüsse (akademische Abschlüsse sowie gleichwertige berufliche Bildungsprogramme), nicht gleichermaßen mit einem Anstieg der Personen mit hoher scientific literacy einhergeht. Dem Vertrauensverlust in die Wissenschaft und in faktenbasierte Argumentation kann nur begegnet werden, wenn es gelingt, die Kompetenz der scientific literacy, insbesondere in den bildungsfernen Milieus, auszubauen. Um das Wissenschaftsverständnis zu allen Bürgern zu bringen, müssen neue Strategien gefunden werden.
Ein allgemeines und grundsätzliches Verständnis von Wissenschaft ist jedoch kein Allheilmittel. In politischen Debatten muss es auch darum gehen, den „Anderen“ als potentielle Quelle valider Argumente anzuerkennen. Dazu gehört, dass wir die Position des Anderen, auch dann, und gerade wenn sie nicht unserer eigenen entspricht, ernst nehmen, indem wir versuchen, sie zu verstehen. Das entspricht dem Selbstverständnis der Wissenschaft: Sie muss sich für offene und kritische Debatten einsetzen, an der alle BürgerInnen aktiv partizipieren können.
Kommunikation in der Wissenschaft
Wissenschaft braucht Räume kritischen Denkens. Diese finden sich mitunter in wissenschaftlichen Zeitschriften, Monographien, Blog-Einträgen, Vorträgen und journalistischen Artikeln. Diese Räume sind meist hoch spezifisch und selbst für AkademikerInnen nur bedingt zugänglich. Obgleich diese Spezialisierung von außen wie eine Zugangsbeschränkung wirken kann, die den Eindruck des Elitären und des Verschlossenen erweckt, garantiert sie wissenschaftlichen Fortschritt und ermöglicht Methoden wissenschaftlicher Qualitätssicherung unter Forschenden.
Dennoch muss auch für Personen außerhalb der Wissenschaft klar sein, wie neues Wissen generiert und sichergestellt wird, was falsch und richtig ist, was einen Fortschritt darstellt und was nicht. Es ist wichtig, dass die Wissenschaft ihre Forschungsfragen und -ergebnisse so übersetzt, dass ein allgemein gebildetes Publikum diese versteht. Das bedeutet auch, dass sich die Wissenschaft direkt den BürgerInnen zuwenden muss und nicht im Expertendiskurs verharren darf. Die Einlösung dieser Aufgabe ist sehr anspruchsvoll und keinesfalls trivial. Doch genau darin steckt ein demokratisches Potential der Wissenschaft.
Das bedeutet nicht, dass das Feld den umstrittenen PR-Abteilungen der Universitäten überlassen werden sollte. Wissenschaft darf sich nicht mit einer stark vereinfachten Wissenschaftskommunikation zufrieden geben. Es geht nicht darum, Forschungsergebnisse in banalisierenden Erklärvideos einfach „nach unten“, zu Personen mit einem geringen Wissenschaftsbezug zu „droppen“, wie es im Titel heißt. Der Legende nach ließ Galileo Galilei Gegenstände vom Schiefen Turm von Pisa fallen, um dadurch die Fallgesetze zu beweisen und für Außenstehende zu erklären. Solch eine Form der Anschaulichkeit kann Teil eines viel komplexeren Verständnisses von Wissenschaftskommunikation oder „Dropping Science“ sein.
Die Wissenschaft — und damit die WissenschaftlerInnen — muss sich bewusst sein, dass bereits ihre originäre Tätigkeit emanzipatorisch ist. Indem sie an offenen, frei zugänglichen und kritischen Diskussionen in der Öffentlichkeit aktiv teilnehmen und diese fördern, leisten WissenschaftlerInnen einen wertvollen politischen Beitrag. Aber auch das schlüssigste wissenschaftliche Argument wird es nie vermögen, nur durch seine Wissenschaftlichkeit demokratische Legitimität zu ersetzen.
[1] Der Begriff Wissenschaft bezieht sich im Folgenden auf die Gesamtheit der wissenschaftlichen Disziplinen und kollektiven Akteure, zu denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ebenso wie wissenschaftliche Organisationen oder Institute zählen.
[2] Arendt, Hannah. “Wahrheit und Politik.” In: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im Politischen Denken. Herausgegeben von Ursula Lutz, 2., Durchg., 20:327–70. München/Zürich: Piper, 2000.
[3] Weitere Informationen zur Erfassung der Scientific Literacy in Pisa finden Sie hier.
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