von Christopher Banditt

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12. Dezember 2017

Im letzten Kriegswinter des Ersten Weltkriegs, am 21. Dezember 1917, kommt Heinrich Böll zur Welt. Obwohl er diesen nicht miterlebt, wird Krieg noch zu einem zentralen Moment in Bölls Leben und Werk werden. In der katholisch geprägten Geburtsstadt Köln wächst Heinrich Böll auf, besucht zunächst eine katholische Volksschule und legt mit 19 Jahren am humanistischen Gymnasium sein Abitur ab. Auf den Reichsarbeitsdienst folgt die Immatrikulation an der Kölner Universität. Durch Einberufung zur Wehrmacht im August 1939 werden nicht nur das Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie unterbrochen, sondern auch erste Schreib- und Publikationsversuche.

Im Zweiten Weltkrieg, den Böll als Angehöriger der Besatzungsarmee in Polen und Frankreich, im Landesschutz, in Lazaretten und einige Wochen an der Front erlebt, schreibt er zwar ausgiebig Feldpostbriefe, ansonsten aber keine Zeile Literatur.
Dafür liest er: so unterschiedliche Autoren wie Ernst Jünger, Adalbert Stifter, Léon Bloy oder Fjodor Dostojewski, mit deren Werken ihn die Frontbuchhandlungen, seine Familie und seine Partnerin – ab 1942 seine Ehefrau – Annemarie versorgen.[1] Zum Kriegsende befindet sich Böll in amerikanischer Gefangenschaft. Mit der Entlassung aus der Gefangenschaft und seiner Rückkehr ins zerstörte Köln beginnt die literarische Aufarbeitung.

Böll weiß, „dass das Thema Krieg nicht gesucht und nicht beliebt ist“ [2] beim deutschen Publikum, und dennoch bestimmen Krieg und Heimkehr Bölls frühe Texte. Er publiziert Kurzgeschichten und mit Der Zug war pünktlich (1949) seine erste Erzählung. Er illustriert in seinen Erzählungen vor allem die Umwertung der Gesellschaft durch Diktatur und Krieg, wenn etwa ein humanistisches Gymnasium zum Lazarett wird, wie in seiner berühmten Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… (1950). Mit seinem ersten Roman gelingt ihm ein frühes Meisterwerk. Das episodenhafte Wo warst du, Adam? (1951) spielt an Front und Etappe, zeigt den soldatischen Alltag im Wirtshaus und die Gräuel der Konzentrationslager. Diesen frühen radikalen Realismus sowohl seiner eigenen Werke als auch etlicher Mitstreiter aus der Gruppe 47 verteidigt Böll vehement gegen den Vorwurf der „Fünfundvierzigerei“[3]. Böll bekennt sich – auch begrifflich – zur sogenannten Trümmerliteratur.

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in der jungen Bundesrepublik veranschaulicht Böll etwa mit seinem melancholischen Roman Haus ohne Hüter (1954), der von zwei befreundeten Jungen mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund handelt, deren Väter nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Oder er bettet sein Ehedrama Und sagte kein einziges Wort (1953), das zu einem ersten Erfolg wird, in die kärglichen Kulissen der deutschen Trümmerlandschaften ein. Bereits hier zeichnet sich seine kritische Haltung gegenüber der starren katholischen Dogmentreue ab, die in der Romanhandlung nicht ohne Einfluss auf das Leben der jungen Eheleute bleibt.

„Gebunden an Zeit und Zeitgenossenschaft, an das von einer Generation Erlebte, Erfahrene, Gesehene und Gehörte“, empfindet sich Böll.[4] Er begreift sich als „leidenschaftliche[n] Zeitgenosse[n]“.[5] Folglich nehmen seine Werke Themen der noch jungen Bundesrepublik auf. So werden etwa mit der Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) Methoden und Macht der Boulevardpresse beleuchtet. Ähnlichkeiten zu den Praktiken der ‚Bild‘-Zeitung sind laut Vorwort „weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“. Böll greift hier auf eigene Erfahrungen zurück, als er nach einem kritischen Essay über die ‚Bild‘-Berichterstattung und den Umgang mit Ulrike Meinhof in einer Kampagne der Springer-Presse zum geistigen Sympathisanten der Baader-Meinhof-Gruppe erklärt wird.[6] Der Roman Fürsorgliche Belagerung (1979) thematisiert schließlich den RAF-Terror und die Bedrohungslage während des Deutschen Herbsts.

Doch Böll äußert sich nicht nur literarisch. In über 700 publizistischen Beiträgen, in Aufsätzen, Reden und Briefen[7] mischt er sich regelmäßig in gesellschaftliche Debatten ein und wird dabei zu einem public intellectual. Denn er sieht den Berufsstand der AutorInnen als „die geborenen Einmischer“.[8] Böll bezieht Stellung gegen die Notstandsgesetze des Jahres 1968, demonstriert mit der Friedens- und der Anti-Atom-Bewegung. Spätestens die atomare Nachrüstung der Bundesrepublik entfremdet ihn der SPD, die er vormals als „Bürger für Brandt“ noch unterstützt hat, und lässt ihn sich den ‚Grünen‘ annähern. Starke Kritik äußert Böll gegenüber der katholischen Kirche, aus der er 1976 schließlich austritt. Ihr fehlender Widerspruch gegen die Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, ihr teilweise lebensfremder Glaubenssatz, ihre uneingeschränkte Zustimmung zur Adenauer-CDU sind seine Kritikpunkte. Im Gegenzug bringt Ansichten eines Clowns (1963) Böll den Vorwurf des „Antikatholizismus“ ein. Für den zum Zyniker gewordenen Protagonisten des Romans hocken sich die Katholiken immerfort „hinter ihren Schutzwall aus Dogmen [und] werfen mit aus Dogmen zurechtgehauenen Prinzipien um sich“. Trotz allem, Heinrich Böll ist niemand, der stets Leichenbittermiene trägt. Er schreibt Satiren wie Doktor Murkes gesammeltes Schweigen (1955). Und seine Prosa ist durchsetzt von ironischen und unernsten Tönen, was nicht zuletzt seine beinah groteske Erzählung Ende einer Dienstfahrt (1966) zeigt. Zudem blickt er mit seinen Reisebeschreibungen über den westdeutschen Tellerrand hinaus. Das Irische Tagebuch (1957) erzielte hier den größten Bekanntheitsgrad. Oder er arbeitet als Übersetzer: beispielsweise von J. D. Salingers Epochenroman Der Fänger im Roggen (1951 erschienen, 1962 Neuübersetzung durch Böll).
Im Ost-West-Konflikt engagiert sich Böll ebenfalls, als er etwa den in der DDR mit einem Publikationsverbot belegten Lyriker Peter Huchel in Wilhelmshorst besucht und sich als Präsident des internationalen PEN-Clubs für dessen Ausreise einsetzt.

Das „Kernthema“ Bölls aber bleibt die bundesrepublikanische Gesellschaft und ihre unmittelbare Vorgeschichte. In Billard um halbzehn (1959) soll der einer Architektenfamilie entstammende Sohn nach dem Krieg ebenjene Abtei wiederaufbauen, die sein Großvater vor dem Krieg ursprünglich errichtet und sein Vater im Krieg für ein freies Schussfeld gesprengt hat. In diesem Roman montiert Böll mittels ausgefeilter Erzähltechnik aktuelle Handlung und Erinnerung so, dass Brüche und Kontinuitäten gleichsam sichtbar werden. Zeitgeschichte ist für Böll stets die „Folie und Materialschicht des Erzählens“.[9]
Zu einem Bestseller wird Gruppenbild mit Dame (1971). Von verschiedenen Figuren wie Wirtschaftswundergewinnern und gesellschaftlichen Außenseitern spinnt Böll hier die biografischen Fäden über die vermeintliche „Stunde Null“ hinweg in die Vergangenheit der Nazi-Diktatur. Aus dem Jahr 1970 mit „Starfighter in der Luft, Autolärm von einer Umgehungsstraße“ geht der Blick zurück auf eine Gesellschaft, die sich auf das Kriegsende und bereits auf die noch ungewisse Zeit danach vorbereitet. Zum konstitutiven Teil der Gegenwart wird ihre Vorgeschichte. Vor allem für Gruppenbild mit Dame erhält Böll 1972 als erster Deutscher nach 1945 den Literaturnobelpreis – ein Jahr nachdem Willy Brandt der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Bis zuletzt bleibt Böll ein politisch engagierter Autor. Zu Querelen kommt es im Jahr 1983 im Zuge der Verleihung der Ehrenbürgerschaft Kölns, als die städtischen VertreterInnen der CDU es kaum über sich bringen, neben dem Schriftsteller Böll auch den kritischen Mitbürger Böll zu würdigen. Am 16. Juli 1985 stirbt Heinrich Böll. Geblieben sind Zuschreibungen wie „Gewissen der Nation“ – ein Etikett, gegen das er stets Einspruch erhob[10] – oder „Chronist der Bundesrepublik“[11] und natürlich seine Werke – Schullektüre bis heute. Unstrittig ist zudem, dass er mit seinen kritischen Beiträgen die westdeutsche Debattenkultur bereichert hat und somit half, die Bundesrepublik demokratisch zu formen.[12]

Mit Bölls „Poetik der Zeitgenossenschaft“[13] bzw. seiner „Literatur als Zeitkritik“[14] haben sich bisher vornehmlich LiteraturwissenschaftlerInnen beschäftigt. HistorikerInnen hingegen haben auf Bölls herausgegebene Briefe aus dem Krieg (2001) – die umfänglichste Sammlung von Feldpostbriefen einer einzelnen Person – als Quellenmaterial zurückgegriffen.[15] Sie zeigen den späteren Anti-Militaristen teilweise noch als einen auf die Frontbewährung hin fiebernden „angry young man“.[16] Außerdem haben GeschichtswissenschaftlerInnen Bölls Reisebeschreibungen als Quelle genutzt: so etwa seinen (Augenzeugen-)Bericht von den Ereignissen bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, als eine sowjetische Panzerkanone auf die Kafka-Büste an dessen Geburtshaus zielte – „[e]ine absurde Szenerie, die von Kafka selbst stammen könnte“, wie der Historiker Stefan Wolle anmerkt.[17]

Gleichwohl bieten auch Heinrich Bölls belletristische Texte geschichtsinteressierten LeserInnen wertvolle Einblicke in die Zeitgeschichte. Sie illustrieren eine von der nationalsozialistischen Diktatur geprägte Kriegsgesellschaft. Sie vermitteln Zeitgeist und Sittenbilder der alten Bundesrepublik, die – insbesondere für nachgeborene Generationen – bisweilen nur noch schwer nachzuvollziehen sind: wenn etwa katholische Behörden an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei regeln oder belastete Nationalsozialisten neu reüssieren. Und sie künden von gesellschaftlichen Antagonismen, die in ihrer Schärfe heute kaum mehr vorstellbar scheinen: zum Beispiel wenn die junge, im Arbeitermilieu aufwachsende Katharina Blum vom Pfarrer in der Schule als „unser rötliches Kathrinchen“ vor der Klasse herabgesetzt wird.

Und doch weist Bölls erzählerisches Werk über den bloßen Status als Epochenzeugnis und Zeitkommentar hinaus. Mit der Veranschaulichung von Konstellationen, in denen das Individuum sich größeren Organisationsgewalten gegenüber sieht und zum ohnmächtigen „Subjekt der Geschichte“[18] wird, wohnt ihm ein universeller Anspruch inne. 

Heinrich Böll erinnert uns damit an sein humanistisches Credo, das er in seiner ersten programmatischen Schrift, dem Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952) entwirft, demzufolge „der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden".[19]

 

[1] Vgl. Alten, Philipp: Heinrich Böll: Der lesende Soldat – eine Teilrekonstruktion auf Grundlage der veröffentlichten Feldpostbriefe, in: Jung, Werner/Schubert, Jochen (Hg.): „Ich sammle Augenblicke“. Heinrich Böll 1917–1985, Bielefeld 2008, S. 49–79.
[2] Brief an Ernst-Adolf Kunz vom 10. Januar 1949, in: Die Hoffnung ist wie ein wildes Tier. Der Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Ernst-Adolf Kunz 1945–1953, Köln 1994, S. 166f, hier S. 166.
[3] Vgl. Trommler, Frank: Der „Nullpunkt 1945“ und seine Verbindlichkeit für die Literaturgeschichte, in: Basis. Jahrbuch für deutsche Literaturgeschichte 1, 1970, S. 9–25, hier S. 23.
[4] Böll, Heinrich: Frankfurter Vorlesungen, Köln 1966, S. 9.
[5] Böll, Heinrich: Drei Tage im März, in: ders.: Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 24: Interviews I: 1953–1975, Köln 2009, S. 461–547, hier S. 520.
[6] Eine pointierte Zusammenfassung der Auseinandersetzung und folgenden Rechtsstreitigkeiten bei: Kersten, Joachim: Heinrich Böll und die Springer-Presse, in: Neuhaus, Volker/Øhrgaard, Per/Thomsa, Jörg-Philipp (Hg.): Freipass. Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik. Schriften der Günter und Ute Grass Stiftung, Bd. 2, Berlin 2016, S. 97–108.
[7] Vgl. Schubert, Jochen: Heinrich Böll, Paderborn 2011, S. 72f.
[8] Böll, Heinrich: Einmischung erwünscht, in: Ders.: Einmischung erwünscht. Schriften zur Zeit, Köln 1977, S. 13–16, hier S. 15.
[9] Schubert: Heinrich Böll (wie Anm. 7), S. 40.
[10] Vgl. Böll: Drei Tage im März (wie Anm. 5), S. 538.
[11] Krekeler, Elmar: Was tun mit Böll?, in: Die Welt, 15.12.2007 (18.09.2017).
[12] Vgl. Vogt, Jochen: Einmischung noch erwünscht? Ein Rückblick auf Heinrich Böll, in: Hermand, Jost (Hg.): Positive Dialektik. Hoffnungsvolle Momente in der deutschen Kultur. Festschrift für Klaus L. Berghahn zum 70. Geburtstag, Oxford 2007, S. 247–260, hier S. 252.
[13] Żyliński, Leszek: Heinrich Bölls Poetik der Zeitgenossenschaft, Toruń 1997.
[14] Schnell, Ralf: Literatur als Zeitkritik: Heinrich Böll, in: Neuhaus/Øhrgaard/Thomsa (Hg.): Freipass (wie Anm. 6), S. 14–25.
[15] Vgl. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2007, passim.
[16] Finlay, Frank: „In this prison of the guard room“: Heinrich Böll’s Briefe aus dem Krieg 1939–1945 in the Context of Contemporary Debates, in: Taberner, Stuart/Berger, Karina (Hg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic, Rochester 2009, S. 56–69, hier S. 57.
[17] Wolle, Stefan: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008, S. 204.
[18] Jung, Werner: 6. September 1958, in: ders./Schubert (Hg.): „Ich sammle Augenblicke“ (wie Anm. 1), S. 165–181, hier S. 180.
[19] Böll, Heinrich: Bekenntnis zur Trümmerliteratur, in: ders.: Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 6: 1952–1953, Köln 2007, S. 58–62, hier S. 62.