von Frank Rexroth

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8. September 2022

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Frank Rexroth bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen".  Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Winter- und Sommersemester 2021/22 im Online-Format statt. Zeitgeschichte|online veröffentlicht die Eingangsstatements der Veranstaltung in einem Dossier. Die Vorträge wurden bis auf wenige Ausnahmen von der Audioaufnahme transkribiert und überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.


 

Geschichtliche Grundfragen
Teil IV

Gibt es angesichts der Pluralisierung der Geschichtswissenschaften (noch) eine Geschichte im Singular und (wie) kann man sie darstellen?
Diskussion am 4. Juli 2022 (online)

Eingangsstatement von Frank Rexroth (Universität Göttingen)

 

Beide Fragen sind recht tastend formuliert: Hat es denn jemals eine "Geschichte im Singular" gegeben? Kann man sich überhaupt ein Medium und eine Darstellungsweise vorstellen, die die vorausgesetzte "eine" Geschichte, wenn es sie denn gibt, abzubilden vermag? Kann man das, und wenn ja: wie macht man das?

Die Ausrichtung der Fragen auf Gegenwart und Zukunft möchte ich gerne zunächst unterlaufen, indem ich sie historisiere und mich vorab auf eine Betrachtung jener Pluralisierung der Geschichtswissenschaften einlasse, von der man offenbar annimmt, dass sie in einem Spannungsverhältnis zu dem wünschbaren Zustand der „einen Geschichte“ steht. Anschließend zwei Thesen, die sich auf die Ausgangsfrage beziehen.

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Die Fragen, die uns gestellt wurden, lassen eine ausgesprochen wissenschaftskritische Deutung zu, nach der die Pluralisierungs-, ergo Differenzierungsprozesse im Inneren der Kulturwissenschaften die Hauptursache dafür sind, dass die Erfahrbarkeit einer historischen Totalität verhindert wird oder wenigstens verlorenzugehen droht. Diese Differenzierungsprozesse haben unsere Wissenschaften bekanntlich schon seit 200 Jahren begleitet, also während einer Zeit, in der sich immer mehr Disziplinen, Fächer und Sparten ausbildeten, in der sich beispielsweise die Beschäftigung mit dem Mittelalter je nach der Entscheidung spezialisierte, ob man archäologisch, kunsthistorisch, philologisch oder historisch arbeiteten wollte. Diese Binnendifferenzierungen im Inneren der historischen Wissenschaften blieben dabei keineswegs der Vorstellung von einem idealen Ganzen oder auch nur einem einheitlichen Ziel verpflichtet, sondern der der methodischen Spezialisierung (um bei meinem Beispiel zu bleiben: archäologische Funde oder nicht-schriftliche Artefakte oder das Nibelungenlied oder eine Privaturkunde verstehen zu können). Unser Ensemble von Wissenschaften ist mit anderen Worten eher nach der Logik der Stratifikation als derjenigen einer funktionalen Differenzierung entstanden; letztere hätte die Vorstellung von einem Ganzen vorausgesetzt, und die war jenseits geschichtsphilosophischer Entwürfe niemals federführend gewesen. Wissenschaft war eben zunächst nicht als ein Ganzes da, das dann in Disziplinen zerfallen wäre, sondern entstand in einem kontingenten Amalgamierungsprozess aus Denkformen und Praktiken, die sehr unterschiedlichen Vorstellungen verpflichtet waren und im Inneren der Universität dann sekundär und recht kontingent aufeinander bezogen wurden.

Fraglich ist daher die implizierte Annahme, dass eine nicht-binnendifferenzierte Wissenschaft in der Lage gewesen wäre (möglicherweise im Kopf der einen Person), die eine Geschichte zu denken. Denn wie detailverliebt, spezialistisch, ja manchmal krähwinklerisch die Perspektiven unserer Disziplinen in den letzten 200 Jahren auch immer gewesen sein mögen – im Licht des Wissens, das sie angehäuft haben, erscheinen uns die Vorstellungen von der „Geschichte an und für sich“ oder eines Menschheitsganzen, wie sie im 18. Jahrhundert geäußert wurden, doch überholt. Fühlt man ihnen auf den Zahn, wie Martina Kessel das neulich in einem Göttinger Vortrag getan hat, merkt man schnell, dass jene „alle Menschen“-Formeln der Vergangenheit jeweils einen großen Teil der Menschheit unberücksichtigt ließen. Diese Sprechformeln waren zwar wirksam, bieten uns aber keinen tatsächlichen Orientierungswert.

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Mit zu bedenken ist bei unserem Thema auch die Tatsache, dass parallel zur Pluralisierung der Wissenschaft durch die Differenzierung in Disziplinen, Fächer und Sparten eine folgenreiche zweite Art von Differenzierung im Gange war: nämlich die Scheidung von faktualem und fiktionalem Weltbezug, eine Scheidung, die im 18. Jahrhundert an Fahrt aufnahm und die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen war, wie wir dank Daniel Fulda wissen. Sie war schon insofern folgenreich für die historischen Wissenschaften, als die Unterscheidung der beiden gänzlich unterschiedlichen Wahrheitsansprüche von Faktualität und Fiktionalität in einer Art von Re-entry ins Innere der Wissenschaften zurückgelangte, nämlich in der Scheidung von diskursiv orientierter Geschichtsforschung und narrativ organisierter Geschichtsschreibung. Dass die Historiographie weiterhin als Verwandte des fiktionalen Schreibens angesehen wurde, ist kein Wunder, denn die Praxis des Erzählens, der Narrativierung, der Übernahme von vorgegebenen Plotstrukturen und Scripts, ist "ontologisch indifferent", wie Albrecht Koschorke das nennt: Egal ob unser Gegenstand wahr oder erfunden ist – wir bedienen uns beim Erzählen derselben Techniken und Plausibilitäts-Erzeuger.

Bleiben wir noch für einen Augenblick bei dieser Trias: dem fiktionalen Erzählen (das ja häufig historische Materien betrifft), der Geschichtsschreibung und der historischen Forschung. Die, die etwas von der Vergangenheit erfahren wollten, hatten es lange Zeit vorgezogen, sich von Geschichtsdichtung belehren zu lassen, lieber von Schiller dem Dramatiker als vom Historiker des Dreißigjährigen Krieges. Als die Dichter der klassischen Moderne um das Jahr 1900 dann aber erklärten, dass sie ihren Glauben an die Repräsentanzfunktion von Sprachzeichen verloren hatten, dass sie bei der Verwendung von Wörtern wie "Geist", "Seele" oder "Körper"  von einem "unerklärliche[n] Unbehagen" ergriffen würden, dass  ihnen "die Wörter […] im Munde wie modrige Pilze" zerfielen, und als ihnen die Könige ihrer Dramen zu absurden Figuren gerieten (Ubu Roi, 1896), lastete ein Erwartungsdruck auf der Geschichtsschreibung, ein Verlangen nach verständlicher Unterweisung über die Welt, die von der Fachwissenschaft nicht mehr bedient werden konnte – jedenfalls nicht im Modus der Forschung. Denn die Fachwissenschaft hatte die Methodisierung der Geschichtsforschung zwar erfolgreich vorangetrieben und für diesen Bereich strenge Methodenstandards etabliert. Ihre Methoden waren solche der Systematisierung und des Vergleichs, sie verlangten nach einer diskursiven Organisation des Materials. Demgegenüber stand die Schilderung deutlich diachroner Verläufe unter weniger methodischer Beobachtung. Mit der Geschichtsforschung wurde die Geschichtsschreibung nicht mit-modernisiert, jedenfalls nicht in gleichem Maß.

Wo diese szientistische Grundhaltung bejaht und verteidigt wurde, geriet das historische Erzählen zu einer suspekten Angelegenheit. Das Erzählen galt den frühen Annalesisten ebenso wie der deutschen Sozialhistorie als ein "hidden persuader", und wenn sie sich selbst daran machten, „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ zu schreiben, dann bezeichneten sie ihr Produkt fast verschämt als einen „Forschungsbericht“, um den Eindruck zu zerstreuen, hier könnte es sich am Ende etwa um Historiographie handeln.

Die Zuversicht, dass sich auch die historia ad narrandum methodisch kontrollieren lässt, dass sie ein Genre von hoher Absorptionsfähigkeit ist, das nicht nur die Ergebnisse der Forschung integrieren und verarbeiten, sondern künftiger Forschung Aufgaben zuweisen kann, ist noch recht neu. Ein Meilenstein ist meines Erachtens die Öffnung der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie in Richtung auf faktuales Erzählen hin, wie sie von dem von mir schon zitierten Albrecht Koschorke betrieben wurde. Die Geschichtswissenschaft bedarf desselben Interesses an der Erzählung, wie sie sich in manchen Nachbarwissenschaften schon eingebürgert hat.

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Nach diesen Vorüberlegungen die beiden angekündigten Thesen:

  1. Ich halte es nicht für sinnvoll, an der Vorstellung von der einen Geschichte festzuhalten, sei es als ein jemals zu Erfassendes noch als regulative Idee. Es mag Menschen gegeben haben, die Geschichte in einem bewundernswert weiten, sei es globalen oder longue-durée-Horizont eingefangen haben. Meine persönlichen letzten beiden Begegnungen mit Annäherungen solcher Art betrafen etwa Michael Borgoltes Globalgeschichte des mittelalterlichen Jahrtausends (2022) und Jürgen Habermas‘ Genealogie des Diskurses um die Relation von Glauben und Wissen (2019). Beides sind wirklich grandiose Werke, werden aber das Schicksal aller solcher Werke teilen, die jemals geschrieben wurden: dass sie auf historische Tatsachen ebenso wie auf Auslassungen und perspektivenbedingte Verengungen aufmerksam machen. In beiden Fällen, bei Borgolte wie bei Habermas, ist es auch völlig evident, dass die Autoren mit gar nichts anderem rechnen als mit der Dynamik von Würdigung und Widerspruch, Fokussierung und Erweiterung. Solche Kritik wird sich aus zwei Quellen speisen: zum einen dem Spezialisten- und Detailwissen, das in dem beschriebenen stratifizierten Wissenschaftsbetrieb gewonnen wird, und zum anderen aus der unaufhebbaren Einsicht in die Perspektivengebundenheit auctorialer Positionen, seien diese auch noch so reflektiert.
  2. Die historiographische Darstellungsart, der ich persönlich am meisten Zukunft zubilligen würde, ist keineswegs neu. Es handelt sich um die Problemgeschichte, also diejenige Art von Historiographie, die auf eine komplexe Problemlage fokussiert und im diachronen Durchhang deren historische Tiefen- aber eben auch Breitendimension ausleuchtet. Probleme wird es ja genug geben, also auch den Anlass, über sie historisch zu arbeiten.