von Thomas Großmann

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1. April 2012

Das eigene Leben ist nie abstrakt – auch nicht das der anderen, der Kollegen, der Freunde, der Familie. Doch hinter dem Schleier persönlicher Erinnerungen, der vielen Kleinigkeiten eines Lebens treten dann doch die Linien und Konflikte des 20. Jahrhunderts hervor. Auch wenn viele Namen und historische Fakten im Ungefähren bleiben, liegt doch in dieser Verbindung von Geschichte, Alltag und Familienerzählung der Reiz des Debütromans der Radiomoderatorin Marion Brasch. „Ab jetzt ist Ruhe“ erzählt aus der Sicht der jüngsten Tochter vom Generationenkonflikt der 70er und 80er Jahre, der in der DDR nicht auf der Straße sondern in den Familien am Küchentisch ausgetragen wurde. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes, Verletzungen, Liebe, Stolz und Eitelkeiten, Enge, Rebellion, Starrsinn, Gefühllosigkeit, nicht zu vergessen Alkohol und Drogen setzen der Familie so zu, dass erst Ruhe herrscht, als die Protagonistin zu Beginn des neuen Jahrhunderts Blumen auf die Gräber ihrer Eltern und der drei älteren Brüder legt.

Die Mutter und der Vater lernen sich in der Emigration in London kennen. Während sie mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis aus Wien flieht, erreicht der Vater allein in einem jüdischen Kindertransport das rettende England. Doch eigentlich fühlt er sich als Katholik, arbeitet als Messdiener und will Priester werden. Doch sein Gott macht sich rar. Mit Kriegsausbruch landet der Vater in einem Internierungslager für feindliche Ausländer und wird dort zum Kommunisten. Am Grab von Karl Marx kappt er später das Band, dass ihn noch mit Gott verband und wendet sich dem „Himmelreich auf Erden“ zu. Gegen den Willen seiner Frau geht der Vater nach Kriegsende zurück nach Deutschland, nach Ost-Berlin, um in der FDJ unter dem Symbol der aufgehenden Sonne das neue Land aufzubauen an das er glaubt. Ein Jahr lang zögert die Mutter und bleibt mit dem ersten Sohn in London, dann folgt sie ihrem Mann aus Liebe, nicht aus Überzeugung.

Als die Erzählerin vier Jahre alt ist, beginnen ihre Erinnerungen. Mitte der 60er Jahre ist der Vater stellvertretender Kulturminister der DDR und streitet sich mit seinem ältesten neunzehnjährigen Sohn, der eine Lederjacke trägt. Der mittlere Bruder ist vierzehn, der jüngere Bruder neun Jahre alt und teilt das Los der Erzählerin, immer dann des Zimmers verwiesen zu werden, wenn der Streit zwischen Vater und Sohn zu heftig wird. Am Ende knallen meist Türen. Zeitlebens bleibt die Erzählerin die „kleine Schwester“. Sie ist ihren Brüdern verbunden und doch bleiben sie für ihre Schwester unerreichbar. In ihrem Drang nach intellektueller und persönlicher Freiheit in den mehr als engen Grenzen der DDR sind die großen Brüder für die Erzählerin Vorbild und Orientierungspunkt. Sie sind der Gegenpol zum durchaus strengen Vater, der trotz aller Zweifel und Zurücksetzungen die Liebe zur Partei und zu ihren Zielen über die Bedürfnisse seiner Familie stellt.

1968 gerät die Welt aus den Fugen: „Im Land nebenan passierte etwas. Dort machten sie plötzlich die Fenster auf und ließen frische Luft herein. Doch die Männer, die ihre Träume vergessen hatten, wollten das nicht dulden und schickten Panzer in das Land“ (S. 39). Der älteste Bruder schreibt mit seinen Studienfreunden „Hände weg vom roten Prag“ auf einige Flugblätter und findet sich nach wenigen Tagen in Einzelhaft wieder. Der Vater will und kann ihm nicht helfen. Er muss selbst Buße tun, seine Partei nimmt ihm sein Amt und schickt ihn ein Jahr nach Moskau zur Schulung. Danach wird er Zweiter Sekretär der Bezirksleitung in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) – eine Strafversetzung wegen persönlichen Versagens, denn kommunistische Eltern haften besonders für ihre Kinder.

„Ich mochte unser neues Haus nicht. Mit seinen vier Etagen erschien es mir, verglichen mit unserem alten das zehn Stockwerke hatte, winzig klein und eng. Außerdem stank es immer nach Katzenpisse“ (S. 52). Nicht nur die Wohnqualität, auch das Familienleben hat gelitten. Die beiden ältesten Brüder sind aus dem Haus, der jüngste Bruder spricht nur noch vom „Alten“ und immer öfter ist die Stimmung schlecht. Nach einem Taschenlampenstreich herrscht die Mutter ihre zwölfjährige Tochter an: „Hast du den Verstand verloren? Reicht es nicht, dass wir hier in dieser elenden Stadt verschimmeln müssen? Musst Du es noch schwerer machen, es hier auszuhalten?“ (S. 70) Wenig später erkrankt die Mutter an Krebs, liegt monatelang im Krankenhaus und verschwindet langsam aus dem Leben der Familie.

Von da wächst die Erzählerin mehr und mehr mit sich allein auf. Die Brüder fern, die Mutter nicht mehr da, der Vater verschlossen. Er leidet an seiner Partei und der Krankheit seiner Frau. Nach einem Selbstmordversuch verliert er wieder sein Amt und wird auf einen repräsentativen Posten beordert – zurück nach Berlin. Der Tod der Mutter verbindet Kinder und Vater für einen Moment, dann gehen alle wieder ihrer Wege. Der Vater reist viel, der älteste Bruder schreibt, der mittlere schauspielert und der jüngste versucht sich ebenfalls an Literatur. Ab und an besucht die Erzählerin ihre Brüder, denn sie ist fasziniert von deren rauchenden Freundinnen und Freunden, den Schriftstellern, Künstlern, Musikern und Schauspielern. Es wird viel getrunken in der Geschichte: viel Alkohol und Kaffee – wie fast überall in der DDR. Über das Essen erfährt man wenig, nur eine Suppenanekdote prägt sich dem Leser ein. Die Erzählerin arbeitet gerade in der Setzerei einer großen Zeitung als ein Parteitag stattfand. An jeder Druckmaschine steht ein Aufpasser und trotzdem ergänzt ein Setzer den Satz „Der Parteitag trat in die Mittagspause“ durch die Bemerkung „Es gab Erbsensuppe“. Niemand fiel die Ergänzung auf und die Zeitung ging in den Druck. „Der Übeltäter bekam ein Disziplinarverfahren, wurde streng gerügt und musste eine Stellungnahme schreiben“ (S. 253). Für kleine Scherze war die Partei nicht zu haben – ganz besonders nicht in ihren Medien.

Zwischen den Polen der unangepassten Brüder einerseits und dem kompromisslosen Vater andererseits sucht die Erzählerin nach Halt in eigenen Freundschaften und in der Musik einer kleinen Band mit der sie durch die Klubs tingelt. Doch den Ausgleich zwischen Brüdern und Vater, auf den sie immer wieder hofft, gelingt nicht. Im Gegenteil: als ein bekannter Sänger das Land nicht mehr betreten darf, protestiert der älteste Bruder und muss auch in den anderen Teil der Stadt umziehen. Damit ist er noch unerreichbarer als zuvor. Auch für seine jüngeren Brüder, die trotz ihrer eigenen Erfolge als Schauspieler und Dramaturg immer mehr Alkohol trinken. Als sich der mittlere Bruder das Leben nimmt, fährt der Vater auf Dienstreise und kommt erst Tage später zur Beerdigung zurück. So wie sich langsam das Land auflöst, löst sich auch die Familie auf. Der Vater erkrankt im Sommer 1989 während tausende Bürger das Land verlassen und stirbt bevor die DDR ganz verschwunden ist.

Der Roman ist offenkundig eine autobiografische Erzählung der Autorin und die Versuchung ist groß, die Leerstellen gedanklich zu füllen und den Text als historisches Sachbuch zu lesen. Doch der Charme des Buches entspringt eben nicht aus den abstrakten Fakten zu einer Familie und ihrem Leben in der DDR. Vielmehr liegt der Reiz in der Selektivität der erzählten Erinnerung an eine ferne Jugend, an das Aufwachsen in engen Grenzen und mit kleinen Freiheiten, die man sich nehmen konnte. Mit der klaren, direkten und sehr persönlichen Sprache der Autorin öffnet der Roman gerade für jüngere Leser ein Fenster in eine Zeit, die sich die Nachgeborenen kaum mehr vorstellen können. Die Distanz des scheinbar Fiktiven ermöglicht Empathie für die Gefühlswelt der Erzählerin und schärft den Blick auf die eigene Familie, das eigene Aufwachsen in einer anderen Zeit mit anderen Konflikten. Die Geschichte der Familie gewinnt als Roman viel mehr Konturen und Tiefe. Dem konkreten Leben kommt der Leser so viel näher als mit nüchterner historischer Sachlichkeit. 

Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie, S. Fischer Verlag Frankfurt/Main 2012, 397 S., 20 Euro.