von Ewald Frie

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16. Juli 2024

Dieser Text ist eine Verschriftlichung des Eingangsstatements von Ewald Frie bei der Diskussionsreihe "Geschichtliche Grundfragen". Die von Rüdiger Graf (ZZF), Matthias Pohlig (HUB) und Ulrike Schaper (FU Berlin) initiierte Veranstaltung fand im Wintersemester 2022/23 und im Sommersemester 2023 im Online-Format statt. Die Reihe wird im Jahr 2024 weitergeführt.
zeitgeschichte|online veröffentlicht alle Eingangsstatements der Veranstaltungen in einem Dossier. Die Vorträge wurden entweder von der Audioaufnahme transkribiert oder als Skript von den Vortragenden eingereicht und redaktionell überarbeitet, dabei wurde Wert darauf gelegt, die rein sprachliche Form der Statements beizubehalten.

 

Geschichtliche Grundfragen

Teil IX: Beschreiben, erzählen, argumentieren oder analysieren Historiker*innen?

Diskussion am 26. April 2024 (online)

Eingangsstatement von Ewald Frie (Universität Tübingen)

 

Historisches Arbeiten beginnt nicht mit dem Erzählen. Vorrangig sind anderen Tätigkeiten: recherchieren, beobachten, analysieren, kombinieren, argumentieren. Ohne diese Basisoperationen ist eine historische Erzählung wenig wert. Es gibt auch gute Gründe, beim Beobachten, Analysieren und Argumentieren zu verbleiben. Wissenschaftlich restringierte Codes erleichtern den Anschluss. Ergebnisse sind reisefähiger, wenn sie in Containern verpackt und gut beschriftet sind. Ich habe selbst im Zusammenhang mit dem SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ ziemlich abstrakte Texte geschrieben, um interdisziplinäres und epochenübergreifendes Arbeiten leichter zu machen. Ich habe davon profitiert, dass Niklas Luhmann, Stefan Hirschauer und viele andere abstrakte Texte geschrieben haben, die sich auf diese Weise mit meinen Problemstellungen in Verbindung bringen ließen. In Droysens Historik gibt es vier Formen der Darstellung, von denen die Erzählung nur eine ist.[1] Historiker und Historikerinnen können erzählen, müssen es aber nicht. Welche Darstellungsform wir wählen, hängt von unseren Absichten, von unseren Fähigkeiten und von den Moden der Menschenmärkte ab, auf denen wir uns verdingen.

Für das historische Erzählen als eine Darstellungsform geschichtlichen Wissens möchte ich werben, und möchte ein paar Gründe anführen:

  1. Erzählen macht Spaß, der darüber hinaus manchmal sogar noch ordentlich bezahlt wird. Ich weiß das, seit ich als Student Besucherinnen und Besucher durch das Mühlenhof Freilichtmuseum Münster geführt habe. Freundlicherweise hat Paul Nolte schon vor 25 Jahren das monetäre Argument verwendet. Die Forderung der „Historiker der Bundesrepublik“, wie er sie nennt, nach einem Abschied vom Erzählen, nach Analyse und Systematisierung, sei in der Praxis begrenzt geblieben. Bücher sollten auch Erfolg haben.[2]
  2. Im Erzählen fügen sich die Dinge neu. Weil das Erzählen ein über sich hinausweisender Akt ist, der Unschärfen mit sich bringt, assoziativ ist, Metaphern nutzt, ergeben sich Verknüpfungen und Zusammenhänge, die ich zuvor abstrakt argumentativ noch nicht habe formulieren können. Nun aber sind sie in der Welt. Ich kann in einem nächsten Schritt versuchen, sie argumentativ solide nachzubauen, vielleicht sogar sie abstrakt zu formulieren. Erzählen bringt Erkenntnis, jedenfalls, wenn man in der Lage ist, sich selbst beim Erzählen zu beobachten.
  3. Erzählen verweist auf ein Publikum. Ich erzähle jemandem etwas. Anders als viele andere Wissenschaften hat die Geschichtswissenschaft das Interesse der Öffentlichkeit. Wir sollten das wertschätzen. Im Erzählen können wir zeigen, was in unserer Wissenschaft steckt, welches Aufklärungspotential sie hat. Wir sollten den Menschen da draußen sagen, was wir so tun, warum wir es tun und warum es sich lohnt, Geld für uns auszugeben und hoffnungsvolle junge Erwachsene durch uns unterrichten zu lassen.

Das Erzählen hat freilich auch Kosten, die einzukalkulieren sind. Auch dazu einige Überlegungen:

  1. Die Erzählung muss mit den Pflichten der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen spielerisch umgehen. „Wer seine Methode thematisiert, degradiert sein Ergebnis zum bloßen Produkt einer Maschinerie und raubt ihm damit das Leben“[3], hat Hermann Kurzke im Rückblick auf das Schreiben seiner Thomas-Mann-Biographie geschrieben. Ich finde nicht, dass das Nachdenken über Standort, Handwerkszeug und Rahmung in einer Erzählung keinen Platz haben kann. Aber es muss selbst erzählt werden und einen Platz in der Erzählung im Ganzen finden. Das ist eine Kunst.
  2. Erzählen ist auch ein Handwerk. Es gibt bessere und schlechtere Erzählungen. Erzählungen müssen aufgehen. Sie haben einen Anfang, ein Ende, am besten einen Bogen dazwischen, und sie brauchen Spannung, Witz und Leben. Dadurch ergeben sich Präferenzen für Darzustellendes, die den Ergebnissen von Beobachtung, Analyse, Kombination und Argumentation nicht entsprechen müssen. In meiner Familiengeschichte gibt es am Ende eines Unterkapitels den Satz „Ihr Name war Ruine“. Es handelt sich um die letzte Kuh, die meinem Vater einen Preis auf einer DLG-Schau eingebracht hat. Der Satz ist wissenschaftlich völlig wertlos, weil mein Vater ja, als er die Kuh mit dem PR-Desaster-Namen versah, nicht wissen konnte, dass sie die letzte Preisträgerin sein würde. Es macht aber Spaß, ihn zu schreiben (und ich hoffe auch, ihn zu lesen), weil der Name, wie sich aus dem Kapitel ergibt, die Lage auf unserem Hof Ende der 1960er Jahre charakterisiert und weil die Namen der Rindviecher eine Art running gag in dem Buch sind, den ich aber immer auch wieder reflektiere, damit den Lesenden das Lachen im Halse stecken bleibt und sie auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken gezwungen sind. Aber rechtfertigt das die Hintanstellung wissenschaftlicher Relevanzkriterien? Manchmal schon, finde ich.
  3. Erzählungen sollen kurz und kurzweilig sein. Es ist nicht Aufgabe des Erzählenden, sein Publikum spüren zu lassen, wie mühselig die Arbeit im Archiv war, wie sterbenslangweilig die Quellen, wie kaugummiartig die Literatur und wie langweilig das Starren in den Rechner beim Hoffen auf eine Idee. Es ist auch nicht Aufgabe des Erzählers, vor seinem Publikum alles auszubreiten, was er gefunden und bedacht hat. Er soll seine Geschichte erzählen, wie sie sich aus der Recherche und den damit verbundenen wissenschaftlichen Basisoperationen ergeben hat. Mehr nicht. Der Erzähler soll die Zuhörenden glauben machen können, dass ihm das Erzählte gerade eben eingefallen ist, mühelos, einfach so. Wie durch ein Wunder fügt sich seine Geschichte. Aber geht durch Kürzung und Pointierung nicht auch Wissenswertes, Forschungsrelevantes verloren? Kann schon sein, finde ich. Als Ersatz gibt es die segenreiche Einrichtung des wissenschaftlichen Aufsatzes.
  4. Nicht alles eignet sich in gleicher Weise für eine Erzählung. Ich erinnere die Älteren an die Debatte um Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“. In meinen erzählenden Büchern habe ich die NS-Zeit nicht ausgespart, aber doch gerafft, um mit Zeitsprüngen einen eigenständigen erzählerischen Sinn zu vermeiden. Es geht freilich auch anders – und besser – wie Michael Wildt in „Zerborstene Zeit“[4] gezeigt hat. Ich wähle meistens Ironie oder Lakonie, um Unglücke, Katastrophen und Dramen so anspielen zu können, dass die fröhliche Textfassade erzittert. Es gibt umgekehrt auch Grenzen des Nicht-Erzählens. Als ich begann, die Biographie Ludwig von der Marwitz‘ zu schreiben, habe ich mir die Aufgabe wie die Beschreibung des Wegs einer Flipper-Kugel vorgestellt. Die Analyse von Strukturen allein sollte ausreichen, um den Lebensweg einer Person zu klären. Das hat nicht funktioniert. Die Biographie ist ohne Erzählung nicht zu haben. Hier gerät die Geschichtswissenschaft an ihre Grenzen.

Beschreiben, erzählen, argumentieren oder analysieren Historikerinnen und Historiker? lautete die Frage. Am besten tun sie das alles, lautet meine Antwort. Aber nicht alles ist gleich wichtig. Man kann auch ohne erzählerisches Talent eine gute Historikerin sein. Wenn es an Beobachtungsgabe, analytischem Verstand und argumentativer Kraft fehlt, ist hingegen ein Berufswechsel angezeigt. Anders herum ist die Erzählung unsere Verbindung zu der Welt da draußen, die uns alimentiert. Manche Themen können besser erzählt werden als andere. Aber ich habe auch schon ein Kinderbuch zur Verfassungsgeschichte Nordrhein-Westfalens geschrieben. Das Erzählen bietet eigene Erkenntnischancen, aber auch Gefahren. Es lohnt sich, mit beidem reflektiert umzugehen. Und Erzählen macht Freude. Mir selbst, und mit ein wenig Glück in den letzten 10 Minuten auch Ihnen – oder war das gar keine Erzählung?

 


[1] Johann Gustav Droysen: Grundriss der Historik, Leipzig 1868, S. 22-24.
[2] Paul Nolte: Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine ‚lange Generation‘, in: Merkur Jg. 53 (Mai 1999), H. 601, S. 413-432, hier 421.
[3] Hermann Kurzke: Zur Rolle des Biographen. Erfahrungen beim Schreiben einer Biographie, in: Christian Klein (Hg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002, 173-178, hier 173.
[4] Michael Wildt: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, München 2022.