von Martin Krauss

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1. August 2024

Dieser Gedanke scheint nicht originell zu sein: dass nämlich die Sportgeschichte eine Geschichte von Sieger*innen und Gewinner*innen ist. Was sonst sollte sie sein, schließlich implizieren Begriffe wie Weltrekord, Olympiasieg oder Weltmeistertitel ja stets, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der die beste Leistung erbracht hat, die es je gab.

Sport ist, darin sind sich Historiker und Historikerinnen weitgehend einig, ein Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft. Im ausgehenden 19. Jahrhundert gründeten sich zunächst im schon weit industrialisierten England Sportclubs, es wurden Meisterschaften und Ligawettbewerbe organisiert, Rekorde wurden registriert und Ranglisten erstellt. Die Clubs, Verbände und Komitees, die die Meisterschaften, Ligen und Olympische Spiele organisierten, hatten bestimmte Vorstellungen von dem, was sie Sport nannten, ein Sport von ihresgleichen. Gentleman-Sport. Sehr kurz gesagt: Frauen und Mädchen wurden zumeist ausgeschlossen. Arbeiter wurden zu Profis erklärt, denn sie bekämen ja Geld dafür, dass sie sich körperlich betätigten. Die Amateurregel war ein „indirektes Klassenkriterium“ (Hobsbawm 2017: 230), der Sporthistoriker Wray Vamplew fasst es kurz: „Wer ein Gentleman war, war ein Amateur; wer zur Arbeiterklasse gehörte, war kein Amateur.“ (Vamplew 2023: 75). Schwarze Menschen und andere People of Color durften nur selten antreten, ihnen waren aus rassistischer Motivation in der Regel die Bürgerrechte verwehrt. Auch Muslime, Juden, Buddhisten, Sikhs und sonstige Angehörige von nichtchristlichen Weltreligionen waren, wenn überhaupt, nur als Minderheit dabei. Wenig willkommen waren Vertreter afrikanischer oder asiatischer Länder.

Der frühe Sport, der sich aufschwang, die weltbesten Leistungen zu produzieren, vergleichbar zu machen und zu dokumentieren, kam also ohne sehr große, die überwältigende Mehrheit der Weltgesellschaft verkörpernde soziale Gruppen aus.

Bis zum heutigen Tag gibt es etwa im internationalen Schwimmsport kaum Schwarze Weltklasseathleten und -athletinnen. Im Kontrast zu diesem Befund steht das Wissen, dass spätestens ab dem 15. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert gerade in Afrika das Schwimmen auf einem sehr hohen Niveau betrieben wurde. Im späten 16. Jahrhundert notierte der flämische Entdecker Pieter de Marees, als er an der Goldküste im heutigen Ghana ankam, über die Menschen, die er traf: „Sie können sehr schnell schwimmen, allgemein übertreffen sie die Leute unserer Nation ganz leicht im Schwimmen und Tauchen.“ 1455 urteilte der venezianische Händler Alvise da Cadamosto, die Menschen, die er im Senegal traf, seien „die besten Schwimmer der Welt“. (Dawson 2018: 11 ff. und 83.; Dawson 2006: 1331 ff.; Sherr 2013: 47.)

Doch Schwimmen war eine gefährliche Fähigkeit. Die versklavten Menschen konnten sich etwa auf dem Wasser versammeln. Und sie konnten über das Wasser fliehen – vor ihrer Festnahme, in dem sie in einen Fluss oder See sprangen, oder nach einem Sprung vom Sklavenschiff, weshalb diese Schiffe meist große Netze an den Seiten hatten, die Sprünge verhindern sollten. (Dawson 2018: 15 und 39; Rediker 2023: 378; Dawson 2006: 1345 f. French 2023: 81).

Das Einzige, wo sich die Fähigkeit zu schwimmen für Sklavenhalter und Kolonialherren als profitabel erweisen konnte, waren Spektakel wie „Völkerschauen“. Die British Swimming Society beispielsweise veranstaltete Wettschwimmen mit versklavten Menschen. Die London Times wollte nicht glauben, dass das Schwimmen war: „Sie dreschen wild mit ihren Armen auf das Wasser wie die Segel einer Windmühle und schlagen mit ihren Füßen nach unten, prusten heftig und ziehen groteske Fratzen.“ Kurz: „Ihr Schwimmstil ist gänzlich uneuropäisch.“ (Dawson 2006: 1331; Sherr 2013: 38 f. und 86.)

Die Afrikaner kraulten, und die Europäer fanden das unnatürlich. Dass schon etwa 6.000 Jahre alte Darstellungen des Schwimmens, die in der Höhle des Gilf el-Kebir in der libyschen Wüste gefunden wurden, die Wechselschlagtechnik Kraulen zeigten, fiel nicht auf. Auch dass die alten Germanen beim Überqueren von Flüssen und Seen kraulten, war verdrängt. Tatsächlich war die Schwimm- und Badekultur, die es in Europa vor dem Mittelalter gegeben hatte, beinahe völlig ausgelöscht. Der frühe Schwimmhistoriker Carl Wolff aus Deutschland schrieb: „Mit dem 18. Jahrhundert war die alte Badeherrlichkeit verschwunden. Vor dem Baden in den Flüssen wurde gewarnt, Schwimmer gab es kaum noch.“ (zit. n. Krauss 2002: 11 ff.) Wenn danach Europäer Schwimmen lehren wollten, war das eine Kunst, die sie selbst nicht beherrschten. Statt Menschen zu befragen, die es konnten, wurde in der Tierwelt nach Vorbildern gesucht. Die Encyclopaedia Britannica von 1797 empfahl Schwimmern, „einige Frösche in einem Wasserbottich als Beispiel zu halten“, um zu sehen, wie man schwimmt. Dass man davon sehr überzeugt ist, zeigt sich auch daran, dass bis heute in Deutschland Kindern oft das technisch wesentlich schwierigere Brustschwimmen als erste Schwimmart beigebracht wird. (Sherr 2013: 78; Dawson 2006: 1329 ff.; Dawson 2018: 13; Pahncke 1979: 23 ff.; Joeres 1979: 20 und 26 ff.)

Zur Behauptung, das aus dem Froschbottich abgeschaute Brustschwimmen sei die Krönung der Zivilisation gesellte sich die Überzeugung, Schwarze könnten nicht schwimmen. Karl Weule, Direktor des Leipziger Museums für Völkerkunde, schrieb 1926: „Auffallend wasserfremd mutet der Erdteil Afrika an.“ (Weule 1926: 46.) Als Erklärung dieser vermeintlichen Wasserfremdheit wurden biologistische Hypothesen entwickelt: Menschen afrikanischer Herkunft hätten wohl schwerere Knochen, eine andere Muskelstruktur, ihr Körperschwerpunkt müsse ungünstig liegen, im Wasser kühlten sie bestimmt schneller aus. Es dürfte nicht so sehr verwundern, dass all diese Hypothesen – auch wenn sie teils bis vor wenigen Jahren oder gar bis heute verbreitet werden – Unfug sind und schon längst widerlegt wurden. (Evans 2019: 126 ff.) Aber: Noch 1990 wurde ein Mann in den USA als Rettungsschwimmer abgelehnt, weil er aufgrund schwarzer Hautfarbe eine schlechtere Wassertragfähigkeit habe. (Hoberman 1997: xvii.)

Interessanterweise nahm diese Art der biologistischen (und sich vermutlich ihres Rassismus nicht bewussten) Sportbetrachtung gar nicht wahr, dass es Schwarze Weltklasseschwimmer und -schwimmerinnen gab. Beispielsweise Enit Brigitha. 1972 und 1976 stand sie für die Niederlande in olympischen Finals, 1976 wurde sie in Montreal über 100 und 200 Meter Freistil jeweils Dritte hinter zwei DDR-Schwimmerinnen. Der erste männliche Schwarze Olympiasieger im Schwimmen war Anthony Nesty aus Suriname 1988 in Seoul über 100 Meter Schmetterling. Der erste Schwarze Weltrekordler war Cullen Jones mit der 4x100-Meter-Freistil-Staffel der USA im Jahr 2006.

Doch beispielsweise aus Südafrika war bei Olympischen Spielen noch nie eine Schwarze Schwimmerin am Start und erst einmal, nämlich 2021 in Tokio, ein Schwarzer Schwimmer. Dabei kamen während des Apartheidregimes, aber auch davor und danach, etliche Weltklasseschwimmer aus Südafrika. Sie waren jedoch alle weiß.

Schwimmen ist nur ein Beispiel. Es zeigt, dass der Begründung und Ausrufung des Phänomens Sport ein Prozess der Ausgrenzung und Verdrängung vorausging. Es zeigt zudem, dass die Sportgeschichte eine Geschichte des Kampfes um Teilhabe ist. Und nicht nur die Geschichte, auch die Sportgegenwart ist von Kämpfen gegen Ausschluss und um Partizipation gekennzeichnet. Den Sieg tragen diejenigen davon, die mitmachen durften. 

Dieser Text basiert auf Recherchen zu meinem neuen Buch „Dabei sein wäre alles. Wie Athletinnen und Athleten bis heute gegen Ausgrenzung kämpfen. Eine neue Geschichte des Sports“ (München 2024: C. Bertelsmann).

 

Literatur:

 

Kevin Dawson: Enslaved Swimmers and Divers in the Atlantic World, in: The Journal of American History, Vol.92, Issue 4, March 2006: 1327–1355, https://doi.org/10.2307/4485894, geöffnet 18.3.22.

Kevin Dawson: Undercurrents of Power. Aquatic Culture in the African Diaspora. Philadelphia 2018: University of Pennsylvania Press.

Gavin Evans: Skin Deep. Journeys in the Divisive Science of Race. London 2019: Oneworld.

Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Stuttgart 2023: Klett-Cotta.

John M. Hoberman: Darwin's Athletes. How Sport has Damaged Black America and Preserved the Myth of Race. Boston, New York 1997: Houghton Mifflin.

Eric Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875 - 1914. Darmstadt 2017: Theiss.

Ulrich Joeres (Bearb.): Schwimmen. Unterrichtsmaterialien zur Sportlehrerausbildung für den schulischen und außerschulischen Bereich. Schorndorf 1979: Hofmann.

Martin Krauss: Schwimmen. Geschichte, Kultur, Praxis. Göttingen 2002: Werkstatt.

Wolfgang Pahncke (unter Mitarbeit von Norbert Heise) (1979): Schwimmen in Vergangenheit und Gegenwart. Teil 1: Geschichte des Schwimmsports in Deutschland von den Anfängen bis 1945. Berlin 1979: Sportverlag.

Marcus Rediker: Das Sklavenschiff. Eine Menschheitsgeschichte. Berlin/Hamburg 2023: Assoziation A.

Lynn Sherr: Swim. Über Unsere Liebe zum Wasser. Berlin 2013: Haffmans & Tolkemitt.

Wray Vamplew: Games People Played. A global history of sport. London 2023: Reaktion Books.

Karl Weule: Ethnologie des Sports. Der Sport der Natur- und Urvölker. Exotische Sports, in: Gustav Adolf Erich Bogeng: Geschichte des Sports aller Völker und Zeiten, Bd. 1. Leipzig 1926: Seemann: 1-75.