von Corinna Kuhr-Korolev

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18. Januar 2024

Der 100. Todestag von Wladimir Ilitsch Lenin am 21. Januar 2024 gibt Gelegenheit, erneut zu diskutieren, welche Rolle er heute für Russland spielt und warum die Leiche des Revolutionsführers noch immer auf dem Roten Platz im Mausoleum liegt.[1] Kurzgefasst und vereinfacht lautet die Antwort, dass in Russland eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Geschichte zwar in der Zeit der Perestroika begonnen hat, dieser Prozess aber unter Putin stagnierte. Heute dominiert eine patriotische Geschichtsschreibung, in der die Geschichte der Sowjetunion verkürzt dargestellt wird. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg und der daraus folgende Großmachtstatus sind positive Bezugspunkte für das heutige Russland, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Da Lenin eines der zentralen Symbole der Sowjetunion ist, kann man sich von ihm ebenso wenig lösen wie von der sowjetischen Vergangenheit. Könnte der Todestag trotzdem die Gelegenheit bieten, Lenin unter die Erde zu bringen?

Zum Kult um den einbalsamierten Körper gibt es eine Reihe ausführlicher Überlegungen.[2] Keine Aufmerksamkeit erfuhr dagegen die Frage, wie mit den authentischen Objekten umgegangen wurde, die zum „unsterblichen“ Erbe Lenins gehören und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufbewahrt werden mussten. Auch dies wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis zu Lenin im heutigen Russland und nebenbei auf die russische Museumskultur im Zeitalter der Digitalisierung.

Der Tempel mit den Gegenständen, die von der Hand des Revolutionsführers berührt worden waren, befand sich in unmittelbarer Nähe des Mausoleums. 1936 wurde in einem historischen Gebäude am Roten Platz, in dem in vorrevolutionärer Zeit die Moskauer Stadtduma getagt hatte, das Zentrale Leninmuseum eingerichtet. Es gehörte zum Institut für Marxismus und Leninismus, und widmete sich neben der wissenschaftlichen Erforschung des Kommunismus, u.a. der Herausgabe der Leninschen Werke und der Sammlung der persönlichen Dokumente Lenins. Das Museum unterstand direkt dem ZK der Kommunistischen Partei und betreute in späteren Jahrzehnten verschiedene Filialen in den meisten Hauptstädten der Sowjetrepubliken. Jährlich versammelten sich Mädchen und Jungen zwischen neun und vierzehn Jahren in Klassenverbänden aufgereiht, um im Angesicht der großen Leninskulptur im Inneren des Museums ihre Weihen als Pionier*innen zu empfangen. Dienstreisende aus den sowjetischen Regionen sollten erst Dekrete, Schreibwerkzeuge und Sitzmöbel von Lenin bestaunt haben, bevor sie ins nebenan gelegene Kaufhaus GUM auf Suche nach defizitären Waren gingen. Nach dem Augustputsch 1991 ließ Boris Jelzin die Kommunistische Partei verbieten und alle Organisationen, die mir ihr verbunden waren, auflösen. Das Parteiarchiv, in dem ebenfalls wichtige Dokumente aus der Regierungszeit Lenins aufbewahrt wurden, blieb an seinem Ort, behielt seine Bestände und wurde lediglich umbenannt.[3] Das Leninmuseum dagegen wurde geschlossen, die Sammlung an das Staatliche Historische Museum (GIM) übergeben. In den 1990er Jahren war die Auffahrt zum Gebäude der Treffpunkt einiger trübsinniger Gestalten, die stalinistische Zeitungen und antisemitische Pamphlete verkauften und von der Rückkehr des Kommunismus träumten.

Erst zwei Jahrzehnte später eröffnete in dem mittlerweile renovierten und erweiterten Bau anlässlich des 200. Jahrestages des russischen Sieges über die Napoleonische Armee das Museum des Vaterländischen Krieges von 1812. Dies geschah im Einklang mit der Orientierung auf die Geschichte des imperialen Russlands.[4] Hier gab es keinen Platz mehr für Lenin. Auch nicht in der Dauerausstellung des Staatlichen Historischen Museums (GIM) im Nachbargebäude, denn dort wird die sowjetische Geschichte nicht thematisiert.

Als Lösung fand sich das Format einer digitalen Ausstellung, die zum 150. Geburtstag Lenins im Jahr 2020 online zugänglich gemacht wurde. Das Projekt entstand in einer Kooperation von GIM und dem ehemaligen Parteiarchiv RGASPI. Es wirkt fast, als handele es sich um ein heimliches Projekt. Auf der Hauptseite des Museums gibt es im Menü keinen Hinweis auf die Ausstellung. Zufällig entdeckt, wird das eindrucksvolle Intro erst sichtbar, wenn man etwas heruntergescrollt hat. Aber dann weht sie, die Rote Fahne, Lenin in goldenen Lettern, sein Lebensweg in revolutionären Bildern und 3D-Optik. Farbenfrohes Pathos der Revolution und die überragende Größe des Führers, Motive und Szenen übernommen aus Gemälden des Sozialistischen Realismus.
 

Screenshot der Startseite des digitalen Lenin-Museums 

 

Noch etwas weiter gescrollt und die Besucher*innen können sich entscheiden, ob sie einen langen Text über Lenins Lebensweg lesen, in perfekt digitalisierten Dokumenten stöbern oder sich eine Videoerklärung zu ausgewählten Objekten anhören möchten. Alles funktioniert auf Russisch oder Englisch. Oberhalb des Intro gibt es außerdem die Möglichkeit, die Sammlung unterteilt nach Bestandsgruppen digital zu erkunden oder sich über die Geschichte des Leninmuseums zu informieren. Der über eine Suchmaschine zugängliche Lenin-Bestand des GIM verfügt über fast 75.000 Einheiten. Darunter sind um die 20.000 Fotografien und circa 17.000 Plakate, 1700 Objekte aus dem Besitz Lenins und 1000 aus dem Nachlass von Stalin. Das alles ist vom Zustand der Erschließung und Nutzer*innenfreundlichkeit äußerst beeindruckend und kann einen für Stunden beschäftigen.[5]

 

Screenshot einer Seite des Kataloges der Objekte des Staatlichen Historischen Museums 

 

Wer dagegen nur einen kleinen Eindruck von russischer Museumspädagogik bekommen will, dem sei das Video über Lenins Rolls Royce ans Herz gelegt. Jedes Detail über den Fuhrpark, den die Bolschewiki von der Zarenfamilie übernahmen, wird hier erklärt. Vor allem aber ist es eine Belehrung darüber, dass es nicht ungezügelte Hang zum Luxus war, der Lenin dazu brachte, sich im Rolls Royce fahren zu lassen. Nein, dieses eine Model des Rolls Royce habe sich wie kein anderes Auto seiner Zeit durch jene hohe Zuverlässigkeit und einen leisen Motor ausgezeichnet, die der Revolutionsführer für die Erledigung seines weltbewegenden Dienstgeschäfts benötigte. Vermeintlich kritische Distanz zum Leninkult demonstriert das Video zu Lenins Ballonmütze. Anders als auf vielen Gemälden gezeigt, habe er während der Revolution einen bürgerlich anmutenden Hut getragen. Nicht aus Imagegründen, um sich bei der Arbeiterschaft anzubiedern, sondern aus praktischen Erwägungen habe Lenin später solch eine Ballonmütze als Kopfbedeckung bevorzugt.

 

Lenins Rolls Royce Katalogseite der Objekte des Staatlichen Historischen Museums 

 

Die Aufzählung von Fakten und Daten suggeriert Objektivität und Neutralität gegenüber der historischen Person Lenin. Jeder und jedem soll überlassen werden, sich selbst ein Bild zu machen. Im Widerspruch dazu steht jedoch die Gestaltung der Seite, der pathetische Ton und die Erläuterungen, die immer noch an Museumsführungen der 1970er Jahre erinnern. Eher zeugt die Ausstellung daher von Unsicherheit und Angst, eine Position einzunehmen, weil die Signale „von oben“ uneindeutig sind. Andrej Sorokin, der wissenschaftliche Leiter des RGASPI und Verfasser der Leninbiografie auf der Ausstellungsseite, beendete diese entsprechend mit einer offenen Formulierung. Bezüglich des Mausoleums schrieb er: „Für die einen ist es ein großes Symbol für das ewige Leben seiner Ideen, für die anderen ein Denkmal des Fluchs, für die dritten eines der Zeugnisse der jüngsten Vergangenheit unseres Landes, das es zu verstehen gilt.“[6]

Die Handschrift Sorokins, der sich gut mit dem politischen Geschäft auskennt, trägt eine weitere digitale Ausstellung, die auf der Seite des RGASPI vor kurzem online ging.
Sie ist schon dem 100. Todestag Lenins gewidmet und führt folgendes Zitat im Titel: „Ein Mausoleum sollte nicht den Charakter einer toten Pracht haben“. Die Präsentation besteht aus zwei Teilen. Der eine enthält digitalisierte Schriftstücke der sowjetischen Führung, die vom Tod und der Bestattung Lenins handeln. Der andere Teil dokumentiert das Interesse der sowjetischen Bürgerinnen und Bürger an der Planung des Mausoleums und zeigt unter anderem gezeichnete Entwürfe. Die beiden Teile sind ebenfalls mit Zitaten übertitelt: „Wenn die Wissenschaft seinen Körper für die nächsten Jahre bewahren kann, warum nicht?“ und „Das Denkmal für Wladimir Iljitsch in Moskau muss in erster Linie das Grabmal und den Schrein des großen Führers darstellen“. Auch in diesem Fall bevorzugen die Bearbeiter*innen der Ausstellung, keine eigene Meinung preiszugeben und Aussagen anderer für sich sprechen zu lassen. Diese klingen zwar eindeutig, könnten aber – wenn nötig – sowohl für oder gegen eine Beisetzung Lenins ausgelegt werden.
Die Ausstellung deutet deshalb darauf hin, dass die Archivar*innen sich in der komplizierten Situation befanden eine Ausstellung zum 100. Todestag Lenins machen zu müssen, ohne zu wissen, was an diesem Tag geschehen wird. Sie scheinen es immerhin für möglich zu halten, dass Putin sich doch spontan entschließt, per Dekret den Totenkult zu beenden und freien Platz im Mausoleum zu schaffen.

Warten wir es ab!

 


[1] Überblick über die Debatte und Forschungsliteratur: Siobhan Kattago, Haunted house: memory, ghosts and political theology in Lenin's Mausoleum, in: Constellations. 24 (2017), S. 555–569, (04.01.2024); Ekaterina Makhotina, Das Lenin-Mausoleum (04.02.2024).
[2] Alexej Yurchak, The canon and the mushroom Lenin, sacredness, and Soviet collapse, in: Hau: Journal of Ethnographic Theory 7 (2017), 2, S. 165–198; Ders.: Bodies of Lenin: The Hidden Science of Communist Sovereignty, in: Representations 129 (2015), 1, S. 116–157,  (04.01.2024); Ilya Zbarsky, Samuel Huthinson, Lenin`s Embalmers, London 1999.
[3] Das RGASPI wurde gemäß dem Regierungserlass Nr. 283 der Russischen Föderation vom 15. März 1999 durch Zusammenlegung des Russischen Zentrums für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der Zeitgeschichte (RCCHIDNI) und des Zentrums für die Aufbewahrung von Dokumenten der Jugendorganisationen (CCHDMO) gegründet. Die fusionierten Archive wiederum wurden 1991-1992 auf der Grundlage des Zentralen Parteiarchivs des Instituts für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU (CPA) und des Zentralarchivs des Komsomol geschaffen, vgl.dazu die Seite des Parteiarchivs RGASPI (04.01.2024).
[4] Zur Bedeutung des Vaterländischen Krieges in der russischen Geschichtspolitik vgl. Manfred Sapper, Volker Weichsel, Anna Ananieva, Klaus Gestwa (Hg.), Mythos Erinnerung. Russland und das Jahr 1812, in: Osteuropa 1/2013.
[5] Ergänzend dazu hat auch das RGASPI einen großen Teil seines Leninbestandes online zugänglich gemacht (04.01.2024).
[6] A. K. Sorokin, Biography (04.01.2024).