von Mathias Schmidt, Saskia Wilhelmy

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14. Juli 2023

Am 14. Juli 2023 jährt sich die Verabschiedung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) im „Dritten Reich“ zum 90. Mal. Das Gesetz trat am 1. Januar 1934 in Kraft und sah die Unfruchtbarmachung von Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sowie mit bestimmten psychiatrischen Diagnosen vor. Damit begann kurz nach der „Machtergreifung“ das medizinische bzw. biopolitische Programm der Nationalsozialist*innen.
Als „Unwürdige“, „Minderwertige“, „Ballastexistenzen“ und „Berufsverbrecher*innen“ betrachtete Menschen galten als „innere Feinde“ und sollten an der Fortpflanzung gehindert werden, um die „Gesundung“ und „Reinhaltung“ des nationalsozialistischen „Volkskörpers“ zu erreichen. Wie viele andere Aspekte ist auch die Rassenhygiene nicht der NS-Ideologie entsprungen und war 1933 auch längst kein neues Phänomen. Vielmehr griff der Nationalsozialismus eine international verbreitete Strömung auf, setzte sie jedoch als einziges Land der Welt radikal und systematisch in die Praxis um.

 

Die Grundlagen: Eugenik, Erblehre und Rassenhygiene

Industrialisierung, Leistungsorientierung, die soziale Frage, gesellschaftliche Umwälzungsprozesse, Säkularisierung und der Fortschritt der Wissenschaft, insbesondere auch der Medizin im 19. Jahrhundert, führten zur Entwicklung neuer biologischer und biologistischer Erklärungen und Theorien. Der Sozialdarwinismus, Galtons Eugenik, Haeckels Völkergeschichte als Kampf ums Dasein, J.A. de Gobineaus Rassentheorie und Chamberlains Idee der Züchtung einer idealen Rasse mündeten in der Eugenik, der sogenannten „Erbgesundheitslehre“. Diese internationale Bewegung war in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt und in der Regel nur mäßig erfolgreich. Im Deutschen Reich hingegen bildete sich mit der Rassenhygiene (nach A. Ploetz) schnell eine Wissenschaft heraus, die neben Fortpflanzungsverboten, Asylierung und Unfruchtbarmachung mit der „Euthanasie“ auch das radikalste Element der negativen Eugenik in Betracht zog – der Tötung der Träger*innen von nicht erwünschten Erbanlagen.[1] Gepaart mit Nationalismus und der sich durch Archäologie und Anthropologie verbreitenden Idee von deutscher bzw. germanischer Kultur mündete diese Form der Eugenik in einer Rassenideologie. Dies ist die Gemengelage, aus der auch die nationalsozialistische Rassenhygiene hervorging.[2]

Die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg führte schließlich zu einer Verbreitung und weiteren Radikalisierung rassenhygienischer Ideen. Die Niederlage galt als Beweis für die fehlerhafte Biopolitik und die Frage nach dem Wert von Leben wurde unter neuen Gesichtspunkten diskutiert. Das Hungersterben in den medizinischen und sozialen – insbesondere psychiatrischen – Einrichtungen während des Krieges[3] wurde in den Argumentationen wissentlich ignoriert. Eine sehr kollektivistisch ausgerichtete Sicht auf die Gesellschaft, Geburtenrückgang, ein durch den Krieg verändertes Verhältnis von jungen zu alten Menschen im Deutschen Reich sowie die zunehmende materielle Not in den 1920er Jahren sorgten dafür, dass Eugenik und Rassenhygiene als Wissenschaft in der Mitte der Gesellschaft wie auch an den Universitäten angelangte und breiten Anklang fand. Dass die Rassenhygiene nicht auf empirisch fundierten überprüfbaren Erkenntnissen beruhte, sondern durch Rückbezug auf Naturgesetzlichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und statistischen Berechnungen ein als Ideal angesehenes Ziel – gewissermaßen eine Utopie – verfolgte, tat ihrem Siegeszug keinen Abbruch.[4] In den 1920er Jahren versuchten die Rassenhygieniker*innen, die freiwillige oder erzwungene Unfruchtbarmachung gesetzlich zu legitimieren. Schließlich stand Anfang 1933 – am Vorabend der „Machtergreifung“ – fest, dass in Preußen ein Gesetz zur Legalisierung der Unfruchtbarmachung bei Zustimmung der als erbkrank geltenden Person verabschiedet werden sollte.[5]

Die Nationalsozialist*innen knüpften in der Folge ideologisch wie propagandistisch an die Theorien der Rassenhygiene und den vorliegenden Gesetzesentwurf an und setzten sie als eine ihrer ersten Maßnahmen in die Praxis um.

 

Verfahren nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)

Einen Antrag auf Unfruchtbarmachung konnten die betroffene Person selbst oder deren gesetzlicher Vertreter sowie Amtsärzt*innen und die Leiter*innen von Heil-, Pflege- und Strafanstalten stellen. Der Antrag sollte schriftlich an ein Erbgesundheitsgericht, die bei den Amtsgerichten neu geschaffen worden waren, gestellt werden. In der ersten Durchführungsverordnung vom 5. Dezember 1933 wurde zusätzlich festgelegt, dass jede Ärzt*in verpflichtet war entsprechende Patient*innen bei der Amtsärzt*in zu melden.[6] Insbesondere diesbezüglich ist die Quellenlage sehr schlecht. Auch wenn große Zustimmung zu eugenischen Maßnahmen seitens der Ärzteschaft herrschte, ist die Bereitschaft niedergelassener Praktiker*innen zur Anzeige ihrer Patient*innen wahrscheinlich nicht besonders hoch gewesen.[7] Zu melden waren Personen mit bestimmten als erblich betrachteten Krankheiten (GzVeN §1, Abs. 2 und 3):
„1. angeborener Schwachsinn,
2. Schizophrenie,
3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein,
4. erblicher Fallsucht [Epilepsie],
5. erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea),
6. erblicher Blindheit,
7. erblicher Taubheit,
8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung.
[...] Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“[8]

Einer Diskussion der tatsächlichen Erblichkeit der aufgelisteten Krankheiten (die nicht nachgewiesen werden konnte) sowie eine retrospektive Überprüfung der Diagnosen erübrigt sich. Nicht nur ist dies medizinisch unmöglich, es spielt auch für die Bewertung des Gesetzes keine Rolle. Es wird sehr deutlich, dass mit „schwerer körperlicher Missbildung“, „angeborenem Schwachsinn“ und „Alkoholismus“ die Leistungsfähigkeit und die soziale bzw. kulturelle Lebensgestaltung oder vielmehr die Abweichung der Opfer von nationalsozialistischen Normen eine Rolle spielten. Intelligenztests ebenso wie die Untersuchung des Lebenswandels waren deshalb wichtige Kriterien bei der Feststellung von „Schwachsinn“, auf deren Grundlage etwa zwei Drittel aller Sterilisationen vorgenommen wurden, darunter wiederum zu zwei Drittel Frauen. Bei Frauen gehörten zur Bewertung insbesondere das Sexualverhalten, ggf. uneheliche Kinder, die Fähigkeit zur Hausarbeit und Kindererziehung – also nicht nur zu „mechanischer Arbeit“; bei Männern die Fähigkeit zur Erwerbstätigkeit und zu „sozialem Aufstieg“.[9]

Eine Richter*in, eine Amtsärzt*in und eine weitere Ärzt*in, die mit der Erbgesundheitslehre vertraut sein sollte, entschieden dann in einem nicht öffentlichen Verfahren über den Antrag. Sie konnten die betroffene Person sowie Zeug*innen anhören, Ermittlungen anstellen und Gutachten einholen. Hierfür wurde die ärztliche Schweigepflicht sowie das Behördengeheimnis aufgehoben. Als Unterstützung diente ihnen der Kommentar zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) von Ministerialrat Arthur Gütt, dem „Vater des GzVeN“, dem Psychiater und Rassenhygieniker Ernst Rüdin und dem Juristen Falk Ruttke. Dieser Kommentar erweckte den Eindruck einer offiziellen Auslegungsvorschrift.[10] Nach Zustellung der Entscheidung an die Betroffenen oder gesetzliche Vertreter*innen konnte innerhalb einer Monatsfrist Einspruch eingelegt werden, über den dann von einem Erbgesundheitsobergericht (beim zuständigen Oberlandesgericht in gleicher Zusammensetzung) entschieden wurde. Diese Entscheidung war bindend und konnte nach §12 des GzVeN auch gegen den Willen bzw. die Bereitschaft einer Person durchgesetzt werden. Es ist davon auszugehen, dass sich die Mehrzahl der Opfer ihrem Schicksal fügte, da es keine Berichte oder nennenswerte Zahlen zum Einsatz von Zwang oder Polizeigewalt gibt.[11] Die Sterilisation wurde in einem Krankenhaus durch eine approbierte Ärzt*in durchgeführt, die Kosten für den Eingriff waren von den Betroffenen bzw. deren Krankenkassen zu tragen.[12] Im Jahr 1935 wurden mit dem Änderungsgesetz zum GzVeN außerdem Schwangerschaftsabbrüche freigegeben, wenn die Schwangere durch ein Erbgesundheitsgericht zur Zwangssterilisation verurteilt worden war.

 

Zwangssterilisationen nach dem GzVeN und die Folgen

Die Gesamtzahl der durchgeführten Zwangssterilisationen ist nicht konkret zu ermitteln, sie liegt nach Schätzungen zwischen 300.000 und 400.000.[13] Hochrechnungen zufolge hat es im „Altreich“ zwischen 1934 und 1945 über 430.000 Verfahren nach dem GzVeN gegeben, die Zahl der durchgeführten Zwangssterilisationen wird dementsprechend auf 294.000 berechnet. Nimmt man die annektierten Gebiete hinzu, steigt die Mindestzahl auf über 300.000 durchgeführte Operationen.[14] Schätzungsweise wurden nach 1935 außerdem etwa 30.000 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen.[15]

Mit Kriegsbeginn 1939 sank die Zahl der Operationen und es sollten nur noch als dringlich bewertete Eingriffe durchgeführt werden. Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits weit weniger Personen, die unter die genannten Diagnosen fielen und der Zwangssterilisation zugeführt werden sollten, und die Prioritäten hatten sich auf die Kriegsführung verschoben. Darüber hinaus hatte man mit der „Aktion T4“, der systematischen Ermordung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen ab 1940, ein sehr viel radikaleres Mittel der Rassenhygiene gewählt. Diesbezüglich gibt es zwei Deutungsweisen: Man kann den Übergang von „Verhinderung der Fortpflanzung“ zur Ermordung entweder als logische Folge und Radikalisierung der rassenhygienischen Maßnahmen betrachten[16] oder aber einen deutlichen Bruch konstatieren, da mit der Ermordung von Kranken die Person selbst und nicht mehr nur die Krankheit ausgelöscht werden sollte.[17]

Die Opfer der Zwangssterilisationen waren in der Regel sozialen wie rechtlichen Einschränkungen unterworfen. Sie durften keine Ehe mit „Erbgesunden“ eingehen und wurden sozial ausgegrenzt sowie stigmatisiert.
Selbst nach Kriegsende 1945 galt das GzVeN auch bei den Alliierten nicht als NS-Unrecht, da es ein offiziell erlassenes Gesetz war und damit für die Durchführenden zu dieser Zeit Rechtssicherheit herrschte. Auch gab es u.a. in den USA, Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden zu dieser Zeit ein Gesetz zur Zwangssterilisation (ursprünglich für andere Zwecke; dort wurde außerdem nicht so systematisch vorgegangen und die Zahl der Betroffenen ist weitaus geringer).[18] Darüber hinaus ist insgesamt eine Kontinuität des Denkens in Wissenschaft wie Gesellschaft zu konstatieren. Die Humangenetik knüpfte an die Rassenhygiene vor 1933 an und Medizin und Rechtswissenschaft kritisierten lediglich den Missbrauch des GzVeN für „rassische“ und politische Ziele des Nationalsozialismus. Während das Gesetz in der sowjetischen Besatzungszone aufgehoben wurde, blieben die Urteile der nationalsozialistischen Erbgesundheitsgerichte in Westdeutschland bis 1998 rechtsgültig. Seit Ende der 1980er Jahren können die vom GzVeN Betroffenen unter bestimmten Voraussetzungen eine monatliche Rente beantragen, aber erst 2007 ächtete der Deutsche Bundestag das Gesetz offiziell.[19]

 


[1] Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie, Göttingen 1992 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 75), S. 25-90; Weindling, Paul: Health, race and German politics between national unification and Nazism 1870-1945, Nachdruck Cambridge u.a. 1991 [1989] (Cambridge History of Medicine), S. 11-48; Weingart, Peter, Kroll, Jürgen, Bayertz, Kurt: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988; Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, 48), S. 23-76.
[2] Weindling: Health, S. 48-59.
[3] Faulstich, Heinz: Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg im Breisgau 1998, S. 25-68.
[4] Schmuhl: Rassenhygiene, S. 70f.; Weindling: Health, S. 138.
[5] Schmuhl: Rassenhygiene, S. 78-105; Bock: Zwangssterilisation, S. 79-82; Weindling: Health, S. 298.
[6] Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 nebst Ausführungsverordnungen, bearb. und erl. von Arthur Gütt, Ernst Rüdin und Falk Ruttke, 2. neubearb. Aufl. München 1936, S. 73-76 (Erstauflage 1934); Benzenhöfer, Udo: Zur Genese des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Ulm 2006, S. 90-93.
[7] Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934-1945, Frankfurt am Main/New York 2004 (Kultur der Medizin. Geschichte – Theorie – Ethik, 11), S. 131-176; Schmuhl: Rassenhygiene, S. 157.
[8] Gütt/Rüdin/Ruttke: Zur Verhütung, S. 73.
[9] Schmuhl: Rassenhygiene, S. 155-157.
[10] Ley: Zwangssterilisation, S. 45-48.
[11] Benzenhöfer: Genese, S. 93; Westermann, Stephanie: Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2010 (Menschen und Kulturen. Beihefte zum Saeculum Jahrbuch für Universalgeschichte, 7), S. 49; Bock: Zwangssterilisation, S. 280f.; Vossen, Johannes: Erfassen, Ermitteln, Untersuchen, Beurteilen. Die Rolle der Gesundheitsämter und ihrer Amtsärzte bei der Durchführung von Zwangssterilisationen, in: Margret Hamm (Hrsg.): Lebensunwert – zerstörte Leben, Frankfurt am Main 2004, S. 56-67, S. 96.
[12] Gütt/Rüdin/Ruttke: Zur Verhütung, S. 73-76; Benzenhöfer: Genese, S. 90-93; Ley: Zwangssterilisation, S. 67-99.
[13] Bock: Zwangssterilisation, S. 237f.
[14] Benzenhöfer, Udo, Ackermann, Hanns: Die Zahl der Verfahren und der Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, Münster 2015; Bock: Zwangssterilisation, S. 237f.
[15] Schmuhl: Rassenhygiene. S, 163.
[16] Westermann: Leid, S. 52f.; Schmuhl, Hans-Walter: Die Patientenmorde, in: Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 295-328, S. 297; Fangerau, Heiner, Noack, Thorsten, Rassenhygiene in Deutschland und Medizin im Nationalsozialismus, in: Stefan Schulz, Klaus Steigleder, Heiner Fangerau, Norbert Paul (Hrsg.), Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Frankfurt am Main 2006, S. 224-246, S. 232.
[17] Westermann: Leid, S. 52f.; Sandner, Peter: Auf der Suche nach dem Zukunftsprojekt. Die NS-Leitwissenschaft Psychiatrie und ihre Legitimationskrise, in: Heiner Fangerau, Karen Nolte (Hrsg.): „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beihefte, 26), S. 117-142, S. 125f.; Weingart/Kroll/Bayertz: Eugenik, S. 523.
[18] Bock: Zwangssterilisation, S. 241f.; Westermann: Leid, S. 60-80.
[19] Westermann: Leid, S. 60-80.