von Stefan Rindlisbacher

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5. Januar 2024

Die Coronavirus-Pandemie als Brennglas: Umweltschutz, Gesundheitspolitik und alternative Lebensstile im rechten Fahrwasser

Am 24.  März  2020 – auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Coronavirus-Pandemie in Europa und Nordamerika – veröffentlichte ein Twitter-Account, der sich als Sektion von Extinction Rebellion der englischen Region Midlands ausgab, den Slogan: „Earth is healing. The air and water is clearing. Corona is the cure. Humans are the disease!“. Der Tweet wurde innerhalb kurzer Zeit tausendfach geteilt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich andere Sektionen der Klimaschutzorganisationen von besagtem Account distanzierten und die Aussage, dass der Mensch das größere Problem für die Umwelt sei als das Coronavirus, als „ecofascism“ zurückwiesen. Durch Slogans wie „humans are the disease“ werde der Tod meist strukturell benachteiligter Menschen glorifiziert und die tatsächliche Ursache der Klimakrise verschleiert. Auch die deutsche Sektion von Extinction Rebellion warnte vor der „schleichende[en] Ideologie des Ökofaschismus“, die sich im Schlepptau der Coronavirus-Pandemie ausbreite. Besorgniserregend war dabei nicht nur, dass es Rechtsextremen gelang, ihre menschenverachtenden Positionen in der Klimabewegungen zu verbreiten, sondern auch die unerwartet große Zustimmung, auf die solche Aussagen dort stießen.

Ein vergleichbares Bild zeigte sich wenig später auch im Umfeld der Alternativmedizin, der biologischen Landwirtschaft und der Anthroposophie – allesamt Bereiche, die in der öffentlichen Wahrnehmung meist mit einem linksgrünen Milieu in Verbindung gebracht werden. Dort verbreitete sich die Meinung, dass das neuartige Coronavirus für Menschen mit starkem Immunsystem keine Gefahr darstelle oder eine Infektion durch Naturheilanwendungen problemlos zu bewältigen sei. So zirkulierten in den sozialen Medien schon während der ersten Welle zahlreiche Anleitungen zur Stärkung der sogenannten Selbstheilungskräfte. Beispielsweise empfahl der bekannte Alternativmediziner Andres Bircher eine vegane Ernährungsweise, heiße Bäder und Nahrungsergänzungsmittel, um sich vor dem Virus zu schützen. Auf die Wirkung einer gesunden Ernährung setzte unter anderem auch der Gründer der Biolebensmittelmarke Rapunzel Joseph Wilhelm. Anstelle von Abstandhalten, Maskentragen und Impfungen sprach er sich in der „Wochenbotschaft“ auf der Unternehmenswebseite für eine „vollwertige Ernährung mit ausreichend Frischkost und viel Bewegung an der frischen Luft“ als bessere „Virus-Vermeidungsstrategien“ aus. Die gleichen Empfehlungen verbreiteten sich auch im Umfeld des anthroposophisch geprägten Demeter-Verbandes. Wobei einzelne Mitglieder mit wissenschaftsfeindlichen und antisemitisch aufgeladenen Verschwörungserzählungen auffielen. Nicht zuletzt wiesen im Herbst 2020 die ersten soziologischen Untersuchungen darauf hin, dass sich an den Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus überraschend viele Menschen beteiligten, die linke und grüne Parteien wählten, sich jedoch nicht davor scheuten, gemeinsam mit Rechtsextremen zu demonstrieren.[1]

 

Ökologie und Rechtsextremismus: Eine Forschungslücke in der Geschichtswissenschaft

Die einleitend beschriebenen Episoden aus der Coronavirus-Pandemie werfen ein Schlaglicht auf eine Problematik, die zuletzt in den 1980er- und 1990er-Jahren im Zuge der Gründung der ersten grünen Parteien viel diskutiert wurde,[2] und nun seit einigen Jahren wieder an Relevanz gewinnt: Natur- und Umweltschutz, alternative Lebensstile und Ernährungsformen, Alternativmedizin, Esoterik und Körperkultur sind nicht nur Themen einer demokratischen, auf Solidarität bedachten Zivilgesellschaft, sondern können auch autoritäre, exkludierende Züge in sich tragen. Wissenschaftler:innen wie politische Aktivist:innen warnen schon lange vor den Gefahren einer Umweltbewegung von rechts[3] und stellen aktuell ein wachsendes Interesse für ökologische Fragen in der extremen Rechten in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern und in Nordamerika fest.[4]

In Deutschland wird beispielsweise schon länger auf die sogenannten völkischen Siedler:innen hingewiesen, die Biohöfe in ländlichen, von Abwanderung betroffenen Gebieten aufbauen, um dort rechtsextreme Gemeinschaften und Lebenswelten zu etablieren.[5] Seit einigen Jahren versucht auch das neurechte Netzwerk um Götz Kubitschek die extreme Rechte wieder stärker für den Natur- und Umweltschutz zu gewinnen. Als Vorzeigeprojekt dient dabei das Hochglanzmagazin „Die Kehre“, das seit 2020 wichtige Vordenker:innen der „Neuen Rechten“ und der AfD im Bestreben versammelt, Gesundheits- und Umweltschutzthemen mit rassistischer Identitätspolitik, Geschichtsrevisionismus und Verschwörungsnarrativen zu verknüpfen.[6]

Während sich die Sozial- und Politikwissenschaften seit Jahrzehnten mit rechtsextremen Aktivitäten in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit und Esoterik auseinandersetzen, bleibt die historische Erforschung dieser Thematik bis heute ein Forschungsdesiderat; obschon die Geschichtswissenschaft anstelle von einzelnen Momentaufnahmen, die langfristigen Entwicklungen und Tendenzen dieser spezifischen Strömung innerhalb der extremen Rechten aufzeigen könnte Zwar wurde die Geschichte ökologischer Anliegen in völkischen, faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen für die Zeit vor 1945 intensiv untersucht,[7] jedoch fehlen vergleichbare Studien für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.[8] Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Zeitgeschichte der extremen Rechten nach wie vor unzureichend erforscht ist und erst seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaft rückte. Andererseits lässt sich das fehlende Forschungsinteresse dadurch erklären, dass Natur- und Umweltschutzthemen seit den 1980er-Jahren als typisch linke Anliegen gelten und deshalb die Rolle rechter Akteur:innen übersehen oder nicht beachtet wurde.[9]

Diese Forschungslücke führte während der Coronavirus-Pandemie dazu, dass die historische Einordnung der Maßnahmengegner:innen meist oberflächlich blieb. Während die Politik- und Sozialwissenschaften ausführlich darüber debattierten, wie das ungewöhnliche Neben- und Miteinander grün-alternativer und rechtsextremer Positionen zu erklären ist, wurde wenig differenziert darüber nachgedacht, ob es vergleichbare Konstellationen früher schon einmal gab. Aufgrund der unübersichtlichen Forschungslage versuchten journalistische Beiträge die historischen Vorläufer:innen der Maßnahmengegner:innen mit einem Potpourri aus Esoterik, Anthroposophie, Naturheilbewegung, Wandervogel und Lebensreform zu erklären. Das trug leider wenig zum besseren Verständnis der Corona-Proteste bei. Dabei kann gerade der Blick in die historische Tiefendimension dazu beitragen, das Aufkommen neuer Protestbewegung besser einzuordnen, deren Erfolgschancen einzuschätzen und Radikalisierungspotenziale zu beurteilen.

 

Rechtsextreme Vegetarier:innen mit Friedensfahnen: Gab es das schon einmal?

Insbesondere die Lebensreformbewegung der vorletzten Jahrhundertwende schien die Widersprüche, Ambivalenzen und Abgründe der Maßnahmengegner:innen in der Coronavirus-Pandemie widerzuspiegeln. Im Zeitalter der beschleunigten Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung um 1900 hatten die Lebensreformer:innen mit vegetarischer Ernährung, Biolandbau, Reformpädagogik, neuer Spiritualität oder Gartenstädten versucht, sich selbst zu therapieren und die Gesellschaft grundlegend zu erneuern. Wobei sie ihre durchaus begründete Sorge um die Gesundheit der Menschen in einer zunehmend durch Umweltgifte belasteten Lebenswelt schon damals mit sozialdarwinistischen Denkmustern verknüpften, ihre oft postulierte Liebe zur Natur mit einer rassistisch imprägnierten Abwertung urbaner Lebenswelten kombinierten und den Schutz der Tiere bisweilen mit antisemitischen Vorurteilen begründeten.[10]

Diese Ähnlichkeiten zwischen Lebensreformbewegung um 1900 und den Maßnahmengegner:innen wurde in der Coronavirus-Pandemie vom Rechtsextremismusexperten Andreas Speit und dem Kulturwissenschaftler Steffen Greiner in zwei Büchern sowie zahlreichen Zeitungsartikeln, Radiobeiträgen und Vorträgen aufgegriffen. Während Speit in seinem Buch Verqueres Denken die Geschichte eines „rechte[n] Antimodernismus“[11] auslotet, der von der Lebensreformbewegung bis zu den Coronaprotesten reicht, betont Greiner in Die Diktatur der Wahrheit die Rolle der Lebensreformbewegung als „besondere Art der Querfront“[12], in der linke Gesundheits- und Naturschutzanliegen mit völkischen Ideologien und rassistischen Verschwörungserzählungen vermischt wurden. So erfahren wir beispielsweise vom Jugendstilkünstler Karl Wilhelm Diefenbach, der um 1900 in verschiedenen Landkommunen lebte, sich vegetarisch ernährte und auf seinen Vortragsreisen gegen Impfungen und die „menschenfeindliche Schulmedizin“ schimpfte.[13] Auch Friedrich Muck-Lamberty gehörte zu diesen historischen Figuren, die wie Vorläufer der Maßnahmengegner:innen erscheinen: Ein langhaariger Vegetarier, der musizierend durch Deutschland wanderte und von einer völkischen Revolution träumte.[14]

Mit diesen Beiträgen zeigen Speit und Greiner wie die Geschichtswissenschaft – und hier im Speziellen die Zeitgeschichte der Rechten – zur Erklärung hochaktueller Konflikte und Krisen nutzbar gemacht werden kann. Durch die historische Tiefendimension wird die Singularität der aktuellen Protestbewegung infrage gestellt und der Blick für langfristige Veränderungen der Gesellschaft geöffnet. Problematisch an beiden Büchern ist jedoch die allzu vereinfachte Darstellung der Lebensreformbewegung als antimoderne Such- und Gegenbewegung. Auch wenn Speit und Greiner (post-)moderne Aspekte der Lebensreformer:innen wie deren Streben nach Selbstentfaltung und individueller Freiheit erwähnen, steht in beiden Büchern die Geschichte charismatischer Naturprophet:innen, radikaler Zivilisationskritiker:innen und rechtsextremer „Männer mit Knacks“[15]im Fokus. Damit bleiben sie jedoch in einem nicht mehr aktuellen Forschungsparadigma verhaftet, das jedoch in journalistischen Beiträgen nach wie vor sehr verbreitet ist.

 

Antimoderne Naturprophet:innen oder autoritäre Individualist:innen? Die Geschichte der Lebensreformbewegung

Als sich Historiker:innen erstmals in den 1970er- und 1980er-Jahren mit der Geschichte der Lebensreformbewegung auseinandersetzten, interessierten sie sich vor allem für die romantische Naturverklärung, antimoderne Zivilisationsflucht und irrationale Wissenschaftskritik dieser Bewegung. Aber im Unterschied zu Greiner und Speit, die darin Merkmale rechtsextremer Bewegungen erkennen, galten diese Aspekte damals – im Kontext der aufkommenden Friedens-, Umweltschutz- und Alternativbewegung – als Ausdruck einer eher linken, antibürgerlichen Gesellschaftskritik.[16] Diese Deutung mag damit zusammenhängen, dass die ersten Historiker:innen, die sich mit der Geschichte der Lebensreformbewegung beschäftigten, selbst in den Neuen Sozialen Bewegungen aktiv waren und sich deshalb mit ihrem Forschungsgegenstand identifizierten.[17] Erst ab den späten 1980er-Jahren – nachdem vermehrt nach rechtsextremen Tendenzen in ökologischen Bewegungen gefragt wurde – rückte auch die Rolle der Lebensreformer:innen als Ideenlieferant:innen für den Nationalsozialismus in den Fokus der Geschichtswissenschaft.[18] Nun galt die Lebensreformbewegung zwar weiterhin als romantisch-rückwärtsgewandte Suchbewegung – jedoch mit deutlichem Rechtsdrall. Diese politische Ambivalenz und Interpretationsoffenheit wirft bis heute die Frage auf, inwiefern die Lebensreformbewegung und ihre Epigonen in den Alternativ- und Umweltbewegungen überhaupt mit einem einfachen Links-Rechts-Schema zu fassen sind.

Eine neue Generation an Forscher:innen schlug deshalb ab den 2000er-Jahren einen anderen Weg ein. Sie stellten die antimodernen Tendenzen der Lebensreformbewegung grundsätzlich zur Disposition, indem sie in Anlehnung an postmoderne Theorien die Definition der Modernisierung als linearer Fortschritts- und Emanzipationsprozess infrage stellten. So erscheinen lebensreformerische Praktiken beispielsweise in Bezug auf Ulrich Becks Theorie der reflexiven Moderne nicht nur als Abwehr und Flucht vor der voranschreitenden Industrialisierung, Urbanisierung und Technisierung, sondern auch als Versuch, deren nichtintendierte Folgeprobleme wie die Zunahme psychischer Belastungen, Giftstoffe in Nahrungsmittel oder steigende Umweltbelastungen zu bewältigen.[19] Einige Historiker:innen erkennen im allgegenwärtigen Selbstoptimierungsdenken der Lebensreformer:innen und deren Forderungen nach schlanken, flexiblen Körpern sogar Vorboten postmoderner Werte, neoliberaler Körperregime oder individualisierter Konsumkulturen. Damit war nicht die Rückkehr zu einer vormodernen, bäuerlich geprägten Lebensweise das Ziel der meisten Lebenserformer:innen, sondern das Streben nach individueller Freiheit und Selbstverwirklichung.[20]

Dieser Ansatz passt zu den soziologischen Beobachtungen, die Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem Buch Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus zu den Hintergründen der Maßnahmengegner:innen in der Coronavirus-Pandemie herausarbeiteten. In dieser Studie beschreiben sie eine Gesellschaft, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts an sozialer Bindungskraft einbüßte und zugleich der Selbstverwirklichung des Individuums immer mehr Bedeutung zuwies. Wenn jedoch die Freiheit zunehmend als „individueller Besitzstand“ erscheint und „kein geteilter gesellschaftlicher Zustand“ mehr ist, werden jegliche Einschränkungen der eigenen Handlungsmöglichkeiten mit unnachgiebiger Vehemenz bekämpft.[21] Diese Form des libertär-autoritären Protestes zeigte sich während der Coronavirus-Pandemie, als zahlreiche Menschen für die Möglichkeit, sich ungehindert im öffentlichen Raum bewegen zu dürfen und ihren täglichen Konsumroutinen nachzugehen, auf die Straße gingen. Sie gewichteten ihre persönliche Freiheit höher als die staatliche Aufforderung zur gesellschaftlichen Solidarität.[22]

Der von Amlinger und Nachtwey beschriebene „libertäre Autoritarismus“ war schon die Triebfeder der Lebensreformbewegung um 1900. Das lässt sich exemplarisch am Umgang der Lebensreformer:innen mit der sogenannten „Spanischen Grippe“-Pandemie von 1918/19 zeigen. Ähnlich wie die Maßnahmengegner:innen in der Coronavirus-Pandemie lehnten auch die Lebensreformer:innen staatliche Verordnungen wie eine Maskentragepflicht, Versammlungsverbote oder die Verabreichung von Medikamenten und Impfungen ab. Stattdessen beharrten sie darauf, dass die Infektionskrankheit einem gesunden Menschen, der seine Abwehrkräfte mit Luftbädern, Atemübungen und vegetarischer Ernährung stärkt, gar nicht gefährlich werden könne. Die Aufforderung zur persönlichen Gesundheitsvorsorge und hartnäckige Verteidigung einer individualistischen Freiheitsidee befeuerte schon damals die Entsolidarisierung der Pandemiebewältigung und war nicht zuletzt anfällig für Verschwörungsnarrative und anschlussfähig mit rechtsextremen Ideologien.[23]

 

Nicht nur Ähnlichkeiten postulieren, sondern historische Kontinuitäten untersuchen

Anhand solcher Beispiele lassen sich zwar Ähnlichkeiten zwischen der Lebensreformbewegung um 1900 und den Maßnahmengegner:innen in der Coronavirus-Pandemie erkennen; eine valide Aussage über die historische Kontinuität der Diskurse, Praktiken und Bewegungsstrukturen lässt sich wegen des lückenhaften Forschungsstandes aber nicht machen.[24] Dass es durchaus Verbindungslinien gibt, die sich über das gesamte 20. und 21. Jahrhundert verfolgen lassen, zeigt sich exemplarisch anhand des einleitend erwähnten Alternativmediziners Andres Bircher. Seine naturheilkundlichen Empfehlungen zur Vorbeugung und Behandlung des neuartigen Coronavirus begründete er unter anderem mit den Erfolgen seines berühmten Großvaters Max Bircher-Benner bei der Behandlung der „Spanischen Grippe“ von 1918/19.[25] Der Erfinder des Birchermüselis gehörte zu den wichtigsten Vordenkern der Lebensreformbewegung im deutschsprachigen Raum, war aber auch für seinen intensiven Austausch mit einflussreichen Ärzt:innen aus dem nationalsozialistischen Deutschland bekannt. Sein Sohn Ralph Bircher führte diese Kontakte nach 1945 weiter und bot ehemaligen Nationalsozialist:innen wie Werner Kollath, Werner Zabel oder Karl Kötschau mit seiner Zeitschrift Der Wendepunkt sogar eine Plattform, um sich neu zu vernetzen.[26]

An dieser Schnittstelle zwischen Lebensreformbewegung vor 1945 und Umweltschutzbewegung nach 1945 befand sich unter anderem auch der bisher wenig erforschte Weltbund zum Schutze des Lebens (WSL). Die 1958 in Salzburg gegründete Organisation war Teil der sogenannten Lebensschutzbewegung, die einerseits lebensreformerische Gesundheitspraktiken wie die Ernährungsreform, den Biolandbau und die Naturheilkunde fortführte und andererseits neue Aktionsfelder wie den Luft-, Boden und Wasserschutz oder den Protest gegen Atomwaffen und die Nutzung der Kernenergie für sich entdeckte. Auch der WSL bot zahlreichen im Nationalsozialismus aktiven Ärzt:innen und Naturwissenschaftler:innen wie Walter Gmelin, Helmut Mommsen oder Max Otto Bruker die Möglichkeit, in der Nachkriegszeit wieder zu publizieren und öffentlich aufzutreten. Dabei pflegten Mitglieder des WSL nicht nur Kontakte zu Rechtsextremen wie Thies Christophersen, Mitgliedern der NPD oder neurechten Plattformen wie Wir selbst, sondern waren auch mit zahlreichen Bürgerinitiativen in Austausch und beteiligte sich am Aufbau der Partei Die Grünen in der BRD oder den Vereinten Grünen Österreichs.[27]

Die Erforschung dieser Übergänge und Transfers verspricht einen Erkenntnismehrwert, weil nicht nur vermeintlich unpolitische Ernährungspraktiken, Körperübungen und Naturheilanwendungen in die neuen Alternativ- und Umweltbewegungen der 1960er- bis 1980er-Jahre getragen wurden, sondern auch damit verbundene, essentialistische Naturvorstellungen, konservative Geschlechterrollen, staatskritische Verschwörungsnarrative und sozialdarwinistisch geprägte Gesellschaftsentwürfe. Gerade vor der Erkenntnis, dass sich auffallend viele Menschen, die früher in den Alternativ- und Umweltbewegungen aktiv waren, sich an den Protesten gegen die Coronapolitik beteiligten[28], sollten die Übergänge und Austauschbeziehungen zwischen Lebensreformbewegung, Umweltschutzbewegungen, neurechter Gruppen und der extremen Rechten vertieft erforscht werden. Die Geschichte dieser Bewegungen zu untersuchen, bedeutet dabei nicht nur die „Nachgeschichte“ nationalsozialistischer Gesundheitspolitik und Naturschutzbestrebungen zu schreiben, sondern die „neue“ und extreme Rechte im zeitgeschichtlichen Kontext der aufkommenden Umweltdebatten und des Wertewandels nach 1968 zu verorten und damit eine „Vorgeschichte“ rechter Protest- und Umweltbewegungen des 21. Jahrhunderts zu erforschen.

 


[1] Vgl. Oliver Nachtwey, Robert Schäfer, Nadine Frei, Politische Soziologie der Corona-Proteste, Basel 2020, S. 51–54; Oliver Nachtwey, Nadine Frei, Robert Schäfer, Generalverdacht und Kritik als Selbstzweck. Empirische Befunde zu den Corona-Protesten, in: Wolfgang Benz (Hg.): Querdenken. Protestbewegung zwischen Demokratieverachtung, Hass und Aufruhr, Berlin 2021, S. 194–213.
[2] Ausgangspunkt war die Rolle von Rechtsextremen in der Gründungsphase grüner Parteien in der BRD und in Österreich. Siehe dazu u. a. Jutta Ditfurth, Entspannt in die Barbarei. Esoterik, (Oeko-)Faschismus und Biozentrismus, Hamburg 1996; Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011.
[3] In der Präventionsarbeit engagiert sich aktuell insbesondere die Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN), die 2017 durch die Naturfreunde Deutschlands und die Naturfreundejugend Deutschlands gegründet wurde. (zuletzt am 4.1.24)
[4] Siehe für einen aktuellen Überblick zu Rechtsextremismus und Ökologie in Europa und Nordamerika: Bernhard Forchtner (Hg.), The Far Right and the Environment. Politics, Discourse and Communication, London 2020.
[5] Vgl. Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Braune Ökologen. Hintergründe und Strukturen am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns, Bd. 26, Berlin 2012; Andrea Röpke, Andreas Speit, Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Berlin 2019.
[6] Vgl. Nadine Langer, Ökologie und die Neue Rechte. Eine Analyse des Magazins „Die Kehre – Zeitschrift für Naturschutz“, Magdeburg 2021; Stefan Rindlisbacher, La «Nouvelle Droite» écologique au XXIe siècle. Post-croissance, biorégionalisme et «réforme de la vie», in: Allemagne d'aujourd'hui, 245 (2023), S. 117–128.
[7] Siehe u. a. Joachim Radkau, Frank Uekötter (Hg.), Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt 2003.
[8] Siehe dazu einführend: Oliver Geden, Rechte Ökologie. Umweltschutz zwischen Emanzipation und Faschismus, Berlin 1996.
[9] Vgl. ebd., S. 31.
[10] Siehe dazu einführend: Bernd Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017.
[11] Andreas Speit, Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus, Berlin 2021, S. 17.
[12] Steffen Greiner, Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern, Stuttgart 2022, S. 16.
[13] Vgl. ebd., S. 82–83, zitiert S. 83.
[14] Vgl. ebd., S. 103–108.
[15] Ebd., S. 16.
[16] Siehe dazu u. a. Christoph Conti, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek b. Hamburg 1984; Ulrich Linse, Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegungen in Deutschland, München 1986.
[17] Vgl. Bernd Wedemeyer-Kolwe, Forschungsgegenstände und Forschungsgenerationen. Die Forschungsgeschichte der Lebensreformbewegung als Reflexionsproblem: Verläufe, Interpretationen, Selbstbilder, in: Meike Sophia Baader/Alfons Kenkmann (Hg.): Jugend im Kalten Krieg. Zwischen Vereinnahmung, Interessenvertretung und Eigensinn, Göttingen 2021, S. 273–278.
[18] Siehe dazu u. a. Wolfgang R. Krabbe, „Die Weltanschauung der Deutschen Lebensreform-Bewegung ist der Nationalsozialismus“. Zur Gleichschaltung einer Alternativströmung im Dritten Reich, in: Archiv für Kulturgeschichte, 2/71 (1989), S. 431–461. (zuletzt am 4.1.24) 
 [19] Vgl. Wedemeyer-Kolwe, Aufbruch, S. 161f.
[20] Siehe dazu u. a. Maren Möhring, Essen als Selbsttechnik. Gesundheitsorientierte Ernährung um 1900, in: Norman Aselmeyer/Veronika Settele (Hg.): Geschichte des Nicht-Essens. Verzicht, Vermeidung und Verweigerung in der Moderne, Berlin 2018, S. 39–60; Stefan Rindlisbacher, Lebensreform in der Schweiz (1850–1950). Vegetarisch essen, nackt baden und im Grünen wohnen, Berlin u. a. 2022. (zuletzt am 4.1.24)
[21] Vgl. Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey, Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Berlin 2022, S. 173.
[22] Andere Studien sehen vor allem ein starkes Misstrauen gegenüber staatlichen und wissenschaftlichen Autoritäten als Triebfeder der Corona-Proteste. Siehe dazu u. a. Sebastian Koos, Konturen einer heterogenen „Misstrauensgemeinschaft“. Die soziale Zusammensetzung der Corona-Proteste und die Motive ihrer Teilnehmer:innen, in: Sven Reichardt (Hg.): Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“. Die Corona-Proteste aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Perspektive, Frankfurt a. M. 2021, S. 67–87.
[23] Vgl. Stefan Rindlisbacher, Rohkost und heiße Bäder gegen die „Spanische Grippe“? Wissenskrise und Deutungskampf in der Pandemie, in: Julia Engelschalt et al. (Hg.): Wissenskrisen – Krisenwissen. Zum Umgang mit Krisenzuständen in und durch Wissenschaft und Technik, Bielefeld 2023, S. 229–246. Siehe zur Impfkritik auch: Malte Thiessen, Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt a. M. 2021, S. 129–143.
[24] Bisher gibt es zwar Forschungsliteratur, die sich mit dem Vergleich zwischen den Alternativbewegungen im 20. Jahrhundert beschäftigt, nicht aber historische Verbindungslinien und Übergänge untersucht. Siehe dazu u. a. Detlef Siegfried, David Templin (Hg.), Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Göttingen 2019.
[25] Vgl. Rindlisbacher, Rohkost und heiße Bäder gegen die „Spanische Grippe“?, S. 230.
[26] Eva Locher, Natürlich, nackt, gesund. Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945, Frankfurt a. M. 2021, S. 60–62. (zuletzt am 4.1.24)
[27] Vgl. Geden, Rechte Ökologie, S. 105–121.
[28] Vgl. Amlinger/Nachtwey, Gekränkte Freiheit, S. 268f.