Rechtsextreme Akteur*innen und Milieus
Die Erforschung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, die bislang vor allem im Rahmen der Politikwissenschaft und der Soziologie erfolgt ist, bedarf dringend der Ergänzung durch zeithistorische Forschungsperspektiven, Fragestellungen und Methoden. In diesem Zusammenhang schlage ich einen akteursorientierten Forschungsansatz vor.[1] Im Mittelpunkt stehen hierbei diejenigen Äußerungsformen des Komplexes „Rechtsextremismus“, in denen einzelne Personen sowie – vor allem – Parteien, Organisationen, Verbände, Vereine, Bewegungen, Netzwerke, Medien und Verlage, Freundeskreise, Klein- und Kleinstgruppen Aktivitäten entfalten. Außerdem werden die soziopolitischen Milieus in den Blick genommen, welche die Lebenswelt der sogenannten Akteur*innen und Gruppen konstituieren. Rechtsextreme Personengruppen und Organisationen handeln historisch zwar nicht im luftleeren Raum, aber sehr wohl als eigenständige Subjekte mit spezifischen Strategien, Interessen und pfadabhängig entstandenen Handlungsmustern.
Die am besten erforschten Akteur*innen im Untersuchungsfeld sind Parteien. Weniger gut steht das Wissen um andere Organisationen, wie etwa Traditionsvereine, Kulturgemeinschaften, völkisch-religiöse Glaubensgemeinschaften und Jugendverbände. Ein für den Rechtsextremismus typisches Phänomen sind Aktionsgruppen, wie etwa die neonazistischen Kameradschaften, Wehrsportgruppen und Terrorzellen. Von großer Relevanz, aber noch nicht hinreichend erforscht, sind die verschiedenen Medien und Kommunikationsnetzwerke, die großen, mittleren und kleinen Verlage mit ihrem breiten Angebot an Produkten, die Zeitschriften, Zeitungen und sonstigen Periodika, Musikerzeugnisse von traditionellen Volksliedern bis zum Rechtsrock, unkonventionelle Angebote sowie die vielfältigen rechtsextremen Webseiten, Plattformen und Foren im Bereich der Neuen beziehungsweise Sozialen Medien. Gerade in diesen neuen Kommunikationskanälen begegnet uns die extreme Rechte nicht in Form einer traditionellen politischen Akteurin, etwa einer Partei oder Bewegung. Relevant werden hier vielmehr soziale und politische Netzwerke, Szenen und Subkulturen, die sich weitaus schwieriger empirisch fassen lassen.
Historisch-genetische Perspektiven
„Historisch-genetische Perspektiven“ meint keinen Ansatz, demzufolge die Rechtsextremismusforschung ihre Gegenstände ausschließlich in der Vergangenheit suchen würde und sich von der Gegenwart abwende. Vielmehr geht es darum, die Historizität des gegenwärtigen Rechtsextremismus herauszuarbeiten, den jeweiligen Zeitkontext zu rekonstruieren. Die Entstehung und Entfaltung des rechtsextremen Lagers erschließen sich über die Rekonstruktion des geschichtlichen Prozesses. Der bundesdeutsche Rechtsextremismus hat eine eigenständige Entwicklung durchlaufen, aus der sich pfadabhängige Besonderheiten erklären lassen. Es gilt, langfristige Trends und Tendenzen zu identifizieren, Kontinuität und Wandel, Zäsuren und jähe Brüche herauszuarbeiten, hervorgehobene Ereignisse zu studieren und die Besonderheit rechtsextremer „Ereignisketten“[2] genauer zu analysieren.
Es lohnt sich, historische Prozesse in ihrer Dynamik ernst zu nehmen und genau zu untersuchen. So kommen Konjunkturen und spezifische Rhythmen in den Blick, die eine für den deutschen Rechtsextremismus typische Struktur erkennen lassen. Der historische Prozess muss zudem strukturiert werden, also in Phasen eingeteilt, wobei die Dauer der Phasen und die Auswahl der Zäsur bildenden Momente von der jeweiligen Fragestellung und dem spezifischen Forschungsinteresse abhängt.
Eigenbegriffe: Radikaler Nationalismus statt Rechtsextremismus
Eine weitere Anregung kann die Rechtsextremismusforschung von Seiten der Geschichtswissenschaft gewinnen, wenn sie ihre Konzepte historisch reflektiert verwendet. Historisch-politische Begriffe verfügen selbst über eine Geschichte, und diese gilt es, für sich genommen freizulegen. Dabei hat es sich bewährt, Eigen- und Quellenbegriffe ernst zu nehmen, ihren Bedeutungsgehalt und Bedeutungswandel herauszuarbeiten und auf diesem Wege Sinnbezüge zu rekonstruieren, die für das konkrete Handeln der zu untersuchenden rechtsextremen Akteur*innen konstitutiv sind. Aus historiographischer Sicht wäre es durchaus sinnvoller, statt von „Rechtsextremismus“ oder „Rechtsradikalismus“ von „radikalem Nationalismus“ zu sprechen. Nationalismus ist ein Eigen- und Quellenbegriff, der den Untersuchungsgegenstand für den trans- oder internationalen synchronen Vergleich erschließt und zugleich im diachronen Vergleich anschlussfähig macht.
Quellenerschließung und Quellenhermeneutik
Wiederholt haben Forscher*innen einen eingeschränkten Zugang zum Feld als Hindernis für empirische Studien zur extremen Rechten hervorgehoben. Doch anders als oft vermutet, ist das schriftliche Quellenmaterial für die empirische akteursorientierte Untersuchung des Rechtsextremismus überwältigend und Probleme ergeben sich eher aus der Unüberschaubarkeit des Materials. Ein ganzer Kosmos rechtsextremer Buchveröffentlichungen, Periodika, Zirkulare und Ephemera – wie Flugblätter, Klebezettel, Droh- und Einschüchterungsschreiben etc. – steht der Forschung prinzipiell zur Verfügung, wenn sie daran geht, diese Überlieferung zu dokumentieren, zu ordnen, zu erschließen und zu heben.
Zeithistoriker*innen, so scheint es, scheuen die Beschäftigung mit der extremen Rechten auch aufgrund der Annahme, dass primäre Quellenbestände (Nachlässe, Verbandsschriftgut usw.) weithin fehlen würden. Ob diese Annahme so zutrifft, wäre noch zu klären. Um die Überlieferungslage und Zugänglichkeit primären Quellenmaterials abschätzen zu können, wäre zunächst eine systematische Hinwendung zu dieser Materialgattung erforderlich. Darüber hinaus geben zahlreiche sekundäre Quellen Auskunft über das rechtsextreme Lager – von Ermittlungsakten und Gerichtsurteilen über Verbotsverfügungen bis zu Beobachtungsprotokollen staatlicher oder gesellschaftlicher Akteure, in denen rechtsextreme schriftliche und verbale Äußerungen oder auch binnenkulturelle Interaktionen dokumentiert worden sind. Zudem inszenieren sich Rechtsextremisten regelmäßig, beispielsweise durch einschlägige gruppeninterne Rituale oder öffentliche Aufmärsche, Saalveranstaltungen und Einzelaktionen. Derartige Aktivitäten können dokumentiert und analysiert werden. Dabei entstehen weitere textuelle Dokumente: Redebeiträge können dokumentiert, Sprechchöre aufgezeichnet, Transparente fotografiert werden. Dies gilt auch für Bekleidung, Schmuck und Abzeichen, Verhaltensweisen und Habitusformen.
Wird der Untersuchungsgegenstand „Rechtsextremismus“ in diesem Sinne als „politische Praxis“ konzipiert, so folgt daraus meines Erachtens, dass sich die einschlägigen Studien gegenüber hermeneutischen Zugängen öffnen müssen. Wenn sich die Forschung einem Material zuwendet, das historisches Quellenmaterial darstellt, und diesen Korpus dann auch mit den Methoden historiographischer Quellenkritik untersucht, halte ich es fast für zwingend, sich an einer historischen Methode zu orientieren, deren Anliegen es ist, „forschend zu verstehen“[3]. Denn politisches Handeln, um welches es akteursorientierten Ansätzen in der Politikwissenschaft ja zu tun sein muss, ist sinnhaftes Handeln. Diese Sinnhaftigkeit politischer Praxis gilt es, bei strenger Orientierung am empirischen Material, im Rahmen der Rechtsextremismusforschung zu rekonstruieren, verstehend zu erklären und zu interpretieren.
Fazit
Die Grundfrage akteursorientierter Rechtsextremismusforschung ist im Prinzip sehr simpel – sie lässt sich mit der bekannten Formel zusammenfassen: Wer tut wann was? Präziser ausgedrückt, fragt akteursorientierte Rechtsextremismusforschung mithin nach den tatsächlichen Handlungen konkreter Akteure in einem bestimmten Zeitrahmen und zielt, als hermeneutischer Ansatz, darüber hinaus darauf ab, auch die Fragen nach dem „Warum“ beziehungsweise dem „Wozu“ dieses Handelns verstehend zu erklären. Aus diesem Grundverständnis ergibt sich die Hinwendung zu den konkreten, historisch fixierbaren Handlungsträgern im Feld des Rechtsextremismus wie zu den primären und sekundären Quellen, die über sie Auskunft geben. Hierbei ist es nicht sinnvoll, das Forschungsfeld in Konkurrenz zu anderen Ansätzen zu konstituieren. Gerade die Zusammenarbeit zwischen Politikwissenschaft und Zeitgeschichtsforschung verspricht eine Erweiterung der Erkenntnis. Beide Disziplinen sollten sich in diesem Feld daher nicht gegeneinander abgrenzen, sondern voneinander lernen.
[1] Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Gideon Botsch, Rechtsextremismus als politische Praxis. Umrisse akteursorientierter Rechtsextremismusforschung, in: Christoph Kopke, Wolfgang Kühnel (Hg.): Demokratie, Freiheit und Sicherheit. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans-Gerd Jaschke, Baden-Baden 2017, S. 131-146; ders., Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute, Darmstadt 2012; ders., ‚Nationale Opposition‘ in der demokratischen Gesellschaft. Zur Geschichte der extremen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland, in: Fabian Virchow, Martin Langebach, Alexander Häusler (Hg.), Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden 2016, S. 43-82.
[2] Peter Dudek, Hans-Gerd Jaschke, Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Zur Tradition einer besonderen politischen Kultur, 2 Bde. Opladen 1984, Bd. 1, S. 177.
[3] J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, 4. Aufl. [der Ausg. v. 1937]. Darmstadt 1960.