von Kristoff Kerl, Sebastian Bischoff, Anna-Carolin Augustin

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8. November 2021

Als im Oktober 2020 der liberale US-amerikanische Starjournalist Jeffrey Toobin, nicht ahnend, dass die Videokonferenz noch fortdauerte und seine Kamera angeschaltet war, vor dem PC masturbierte und hierauf vom Magazin The New Yorker gefeuert wurde, war dies für verschiedene Fraktionen der extremen Rechten in den USA ein gefundenes Fressen.[1] Wieder habe sich gezeigt, zu welchen sexuellen Perversionen Anhänger:innen progressiver Ideen fähig seien – hieß es zum Beispiel unisono in der Kommentarspalte von Breitbart, einer populären Nachrichtenseite, die sich zwischen Rechtspopulismus und extrem-rechter Alt-Right verorten lässt. Die Nutzer:in Alice schrieb, generell seien alle Anhänger:innen der Demokratischen Partei „Satanic pedophiles and perverts“[2]. Dass das Thema die Besucher:innen der Seite bewegte, zeigte die unüblich hohe Anzahl von über 10.000 Leser:innenkommentaren unter der ersten Meldung. Einer stach hierbei heraus und brachte es nicht nur gleichsam auf eine enorme Zustimmung per Vote up, sondern löste zudem eine hitzige Debatte mit mehreren hundert Antworten aus. Der User Mars Attack! schrieb:

„What do Jeffrey Toobin, Jeffrey Epstein, Harvey Weinsten [sic!], Bob Weinstein, Anthony Weiner, Woody Allen, Roman Polanski, Gene Simmons, and 74% of the #metoo perpetrators have in common?

Once you start ‘noticing’ you can’t stop.

Statistics show 74% Of #Metoo Perpetrators Are Jewish Men; Why Isn’t The Media Talking About This?“

Die hierauf in den Kommentarspalten einsetzende Debatte fokussierte dabei vorrangig auf die Frage, ob Jesus Jude gewesen sei, während die folgende Antwort nur wenige Vote up erhielt: „I don’t think the majority of people on Breitbart condone or agree with these anti-semitists who post on this board. I find it disgusting.“ Hier zeigt sich eine der vielen Friktionen und Risse innerhalb des Lagers, das der frühere US-Präsident Donald Trump zumindest zeitweilig zu einen verstand: Offener Antisemitismus wird längst nicht in allen Teilen der US-Rechten geteilt.

Der (Sexual-)Antisemitismus entwickelte in den USA historisch bei weitem nicht die verheerende Wirkmacht wie im nationalsozialistischen Deutschland. Dennoch weisen die Verbindungslinien zwischen Sexualität/Pornografie und Judenfeindlichkeit/Antisemitismus auch in den USA eine lange Geschichte auf, die bis in das späte 19. Jahrhundert zurückreichen. Im Folgenden werfen wir Schlaglichter auf Aspekte dieses Sexualantisemitismus, wobei wir zeitlich auf die Dekaden seit den 1970er Jahren fokussieren. Obschon die antisemitische Fantasie, dass Jüdinnen:Juden Pornografie als ein Mittel der ‚Zersetzung‘ und als ein Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument nutzen würden, auch Verbreitung unter People of Color findet und von Organisationen wie der Nation of Islam propagiert wird, richten wir in diesem Artikel unseren Fokus auf die antisemitischen Fraktionen der weißen extremen Rechten in den USA.[3] Dabei gehen wir dem Fantasma einer jüdischen, sexuellen Verschwörung nach, die jüdische Akteur:innen hauptverantwortlich für die Verbreitung ‚unzüchtiger‘ Schriften und pornographischer Inhalte macht.

 

Instauration und das Verschwörungsnarrativ des ‚minority racism

Seit Mitte der 1970er Jahre befanden sich Gruppen, die für white supremacy und white nationalism eintraten, im Aufwind. Die Mitgliederzahlen der verschiedenen Ku-Klux-Klan-Gruppen verdreifachten sich im Verlauf der Dekade. Zudem kam es zur Gründung extrem rechter paramilitärischer Gruppen wie Covenant, the Sword and the Arm of the Lord, die ihren Feldzug gegen die ‚ZOG‘ intensivierten – ‚ZOG‘ steht für Zionist Occupied Government bzw. Zionist Occupation Government und damit für die antisemitische Vorstellung, dass die Regierung der USA unter dem Einfluss beziehungsweise der Kontrolle von Jüdinnen:Juden stünde.

In dieser Zeit des Bedeutungsgewinns der extremen Rechten erschien im Dezember 1975 auch die erste Ausgabe einer Monatszeitschrift mit dem Titel Instauration, die bis ins Jahr 2000 bestand. Herausgegeben wurde die Zeitschrift von Humphrey Ireland unter dem Pseudonym Wilmot Robertson, der auch der Autor breit rezipierter Bücher wie The Dispossessed Majority und The Ethnostate war. Während ihres 25-jährigen Bestehens agierte das Magazin als ein Sprachrohr des intellektualisierten Rassismus und Antisemitismus, propagierte die Überlegenheit der ‚weißen Rasse‘ und trat für die Schaffung sogenannter ethnostates ein. Obwohl die Auflage der Zeitschrift nie 10.000 Exemplare überschritt, vermochte sie einen erheblichen Einfluss auf die extreme Rechte auszuüben. Die Mehrheit der Leser:innen und der häufig anonym schreibenden Autor:innen kam aus den USA, allerdings wurde die Zeitschrift auch in zahlreichen weiteren Staaten rezipiert. Dies machte die Zeitschrift nicht nur zu einer bedeutenden transnationalen Kontaktzone, sondern ermöglichte ihr auch als Impulsgeber für die extreme Rechte in den USA zu fungieren. So war es nach Angaben eines Mitglieds des neurechten französischen Thinktanks GRECE (Groupe de Recherche et d’Etudes pour la Civilisation Européenne) die Instauration, die erstmalig die Nouvelle Droite und deren führenden Köpfe wie Alain de Benoist einem breiteren Publikum in den USA bekannt machte.[4]

Der Bedeutungsgewinn der extremen Rechten sowie die Gründung und Etablierung von Instauration ereigneten sich zu einer Zeit, die von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen geprägt war. Wirtschaftliche Entwicklungen und Ereignisse wie die Verlagerung einiger Industriezweige ins Ausland, die Öl- und Energiekrisen oder der Preisverfall für Agrarprodukte hatten gemeinsam mit den politischen, sozialen und kulturellen Kämpfen der feministischen Bewegungen, der Black Power-Bewegungen und der Schwulen- und Lesbenbewegungen partielle Erschütterungen und Verschiebungen im gesellschaftlichen Machtgefüge angestoßen. Diese gesellschaftlichen Transformationen wurden in der Instauration als Resultat eines „liberal-minority racism“ interpretiert, der insbesondere weiße Männer unterdrücke und insgesamt auf die Herabsetzung der „American majority to drone status“ abziele.[5] Wesentliche Träger:innen des anti-weißen Regimes seien dabei Liberale, Afroamerikaner:innen und Jüdinnen:Juden, letztere dabei als die dominante Kraft.

 

Sexualität im ‚minority racism‘-Narrativ

Generell wurde die patriarchal strukturierte ‚weiße Familie‘ in Instauration als idealer Rahmen für die Reproduktion der ‚weißen Rasse‘ verstanden. Frauen wurden als Ehefrauen und Mütter mit einer Aura der ‚sexuelle Reinheit‘ versehen, die es zu beschützen gelte. In diesem Sinne schreibt die Soziologin Abby L. Ferber: „In white supremacist discourse, the battle over racial identity is fought over the bodies of white women. The female body is figured as the passive turf over which racialized men battle for power.”[6]

Eine Gefahr für deren ‚Reinheit‘ ging dabei, so die extrem rechte Fantasie, insbesondere von Men of Color und jüdischen Männern aus, wobei sich die sexuellen Gefahren, die von diesen herrührten, deutlich unterschieden. Zwar wurde beiden Gruppen ein großes Verlangen nach weißen Frauen zugeschrieben, das sie durch sexuelle Übergriffe zu stillen suchten, allerdings wurden Jüdinnen:Juden, wie wir im Folgenden sehen werden, zusätzlich als Triebkräfte einer sexuellen Verschwörung imaginiert. Somit ging in diesen antisemitischen, extrem rechten Narrativen nicht nur eine sexuelle Gefahr von Jüdinnen:Juden aus, die zum Beispiel in unmittelbaren, sexualisierten Gewaltakten bestand. Vielmehr wurden sie auch als Träger und Triebkräfte einer abstrakten Bedrohung konstruiert. Diese bestand in der grundlegenden ‚Pervertierung‘ des sexuellen Begehrens und des Sexualverhaltens weißer Menschen, wodurch die Reproduktion der ‚weißen Rasse‘ verunmöglicht werde. Auch wurden sie als Initiator:innen und treibende Kräfte hinter den feministischen und den schwulen und lesbischen Bewegungen konstruiert, die als Angriff auf die ‚amerikanische Familie‘ verstanden wurden. Folge davon sei wiederum die seit den 1950er Jahren sinkende Geburtenrate von als weiß kategorisierten Menschen in den USA. Ein weiteres bedeutendes Instrument der vermeintlichen jüdischen Verschwörung gegen die patriarchale, weiße Familie bilde dabei Pornografie und die Verbreitung obszöner Materialien.

 

Pornografie und Antisemitismus

Verschwörungsnarrative, die sich um Pornografie ranken, existierten in den USA spätestens seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Allerdings wiesen diese Narrative nicht immer eine (explizit) antisemitische Stoßrichtung auf. Beispielsweise wurde Pornografie in den 1950er und frühen 1960er Jahren als ein von Kommunist:innen verwendetes Mittel zur Unterminierung der Moral in den USA beschrieben.[7]

Antisemitische Verschwörungsnarrative, in denen die Verbreitung von als obszön oder pornografisch wahrgenommenem Material als ein von jüdischen Akteur:innen eingesetztes Instrument der Subversion bzw. der Konspiration gedacht wurden, zirkulierten ebenfalls vereinzelt seit dem späten 19. Jahrhundert. In den 1920er und 1930er Jahren beschuldigten Organisationen wie der Ku-Klux-Klan oder Antisemiten wie Henry Ford Jüdinnen:Juden, ihre vermeintliche Macht über die Filmindustrie dazu zu nutzen, die Moral weißer Menschen, und insbesondere der Jugend, zu zerstören.

In den 1950er Jahren wurde das Feld des Sexuellen und der Sexualitäten breiter kommerzialisiert, was u.a. im Erscheinen des Playboy im Jahr 1953 seinen Ausdruck fand. In den 1960er und 1970er Jahren stießen die gegenkulturellen Politiken der ‚sexuellen Revolution‘, die feministischen sowie die schwulen und lesbischen Bewegungen weitere Veränderungen in diesem Feld an. Im Kontext dieses Wandels kam es auch zu deutlichen Veränderungen im Umgang mit der öffentlichen Zurschaustellung von Nacktheit und Sexualität. In den späten 1960er Jahren waren die öffentliche Repräsentation (oftmals weiblicher) nackter Körper, die Verwendung sexuell expliziter Sprache und die (filmische) Darstellung sexueller Handlungen zu einem Bestandteil von Kulturproduktionen geworden. Anfang der 1970er Jahre kam es dann zur einige Jahre währenden Phase des porno chic. Pornografische Filme fanden den Weg in reguläre Kinos und das Schauen von Pornos galt als Nachweis einer aufgeschlossenen Haltung, die die Historikerin Whitney Strub als „hip sexual sophistication“ bezeichnet.[8]

Diese Entwicklungen riefen insbesondere in (religiös-)konservativen und (extrem) rechten Bevölkerungsgruppen Unbehagen und Widerstand hervor. Sex und Pornografie sollten in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu einem wichtigen Bestandteil konservativer und (extrem) rechter Kampagnen werden. In den explizit antisemitischen Fraktionen der extremen Rechten wurde Pornografie, wie wir im Folgenden anhand von Instauration sehen werden, zu einem bedeutenden Bestandteil antisemitischer Verschwörungsnarrative. Vor dem Hintergrund der soeben skizzierten zeitgenössischen sozialen und kulturellen Entwicklungen erfuhr dabei die in antisemitischen Diskursen bereits bestehende Verknüpfung von Jüdinnen:Juden mit Pornografie einige Modifikationen. Themen wie gleichgeschlechtlicher Sex und Feminismus wurden in den antisemitischen Pornografiediskurs eingeflochten.

In Instauration wurde die Pornoindustrie als grundlegend von jüdischen Akteur:innen dominiert dargestellt. So wurden Juden wie Ruben Sturman und Steven Hirsch, die bedeutende Figuren in der Pornoindustrie waren bzw. sind, als „the Jewish king of porn“ oder „the king of video porn“ beschrieben.[9] Aber auch Unternehmen der Erotik- und Pornoindustrie, die im Besitz von Nichtjuden waren, galten in Instauration letztendlich als unter vermeintlich jüdischem Einfluss stehend. In diesem Sinne heißt es in der Zeitschrift über den Playboy-Gründer Hugh Hefner: „The Playboy empire of that incomparable Majority renegade, Hugh Hefner, is overfertilized with kosher personnel.“[10] Neben der vermeintlichen Kontrolle über die Sexindustrie beschrieben Autor:innen in Instauration zudem die Sexualisierung eines vermeintlich jüdisch dominierten Kulturbetriebs als eine zweite Methode der ‚Pornografisierung‘ der USA.

Die Verbreitung als ‚obszön‘ oder pornografisch beschriebener Produkte wurde von Autor:innen im Magazin als ein über die Unterminierung des Geschlechterverhältnisses und der patriarchalen Familie betriebener Angriff auf weiße Menschen in den USA konstruiert. So hieß es in einem Leserbrief, der im März 1983 in Instauration veröffentlicht wurde: „Pornography is an awesome psychological weapon, and it is aimed at the root of our people's future. Biologically speaking, our enemies are, with considerable success, confusing and thwarting the natural mate-seeking, mate-winning and young-rearing instincts of the hated Majority.”[11]

Laut Instauration destabilisierte und unterminierte Pornografie die ‚weiße Familie‘ aus zweierlei Richtung. Erstens wurden dem Konsum pornografischer Produkte desatröse Effekte auf weiße Männlichkeiten zugeschrieben. Pornografie würde zur Verrohung der Einstellung und des Verhaltens weißer Männer gegenüber weißen Frauen führen, sodass erstere nicht mehr ihrer Funktion als Beschützer letzterer nachkommen könnten. Dies drückte sich zum Beispiel in der Vorstellung aus, dass Pornografie zur Trivialisierung sexualisierter Gewalt führe oder gar weiße Männer zu Vergewaltigern werden ließe – eine Ansicht, die auch unter Konservativen und Evangelikalen verbreitet war.[12] Auch würden pornografische Produkte die ‚Homosexualisierung‘ weißer Männer verursachen.[13]

Zweitens schrieb Instauration der vermeintlichen Pornografisierung der USA auch negative Auswirkungen auf weiße Weiblichkeit zu. So sah das Magazin in Pornografie eine Quelle der Sexualisierung weißer Frauen und somit eine Gefahr für deren ‚sexuelle Reinheit‘. Dabei wurde eine enge Verbindung zwischen Pornografie und den angeblich jüdisch dominierten feministischen Bewegungen hergestellt. So frohlockte ein Leser über das vermeintliche Ende des bis heute existierenden feministischen Magazins Ms., das er als Plattform von „professional male bashers likes Jewesses Gloria Steinem and the weirdly named Shoshona [sic] Firestone“ beschrieb: „It’s [die vermeintliche Einstellung des Magazins] especially good news for women. No printed material ever did more harm to the fair sex than that tasteless compost of pornography, minority racism, sexual venom and withered Marxism.”[14] Allerdings wurde in Instauration nicht nur beklagt, dass Frauen durch Pornografie sexualisiert würden, sondern auch, dass ihr sexuelles Begehren durch pornografische Produkte auf nicht-weiße Männer gelenkt und damit miscegenation („Rassenmischung“) gefördert würde.[15]

 

Antisemitische Pornografie-Diskurse der gegenwärtigen extremen Rechten in den USA...

Zentrale Aspekte des antisemitischen und maskulinistischen Pornografie-Narratives aus den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts sind auch in zeitgenössischen US-amerikanischen Pornografiediskursen von zentraler Bedeutung. Die Vorstellung, dass Pornografie ein von Jüdinnen:Juden eingesetztes Mittel der Unterdrückung darstellt, ist noch heute wirkmächtig. Die Vorstellung, dass Pornografie negative Effekte auf weiße Männlichkeiten und Weiblichkeiten habe, spielt dabei weiterhin eine zentrale Rolle. Allerdings lassen sich im Zeitalter der Internetpornografie und der deutlich gesteigerten Verfügbarkeit pornografischer Inhalte auch Differenzen zu den antisemitischen Pornografiediskursen aus den Zeiten von Instauration diagnostizieren. So haben im Zeitalter der Internetpornografie das Konzept der Pornografiesucht sowie Vorstellungen von Pornografie als einer Technik der psychologischen Kriegsführung einen deutlichen Bedeutungsgewinn erfahren. Diese Sichtweise zeigt sich beispielsweise in einem Artikel mit dem Titel „Pornography as a Secret Weapon“, der von Lasha Darkmoon im Internet veröffentlicht und auf zahlreichen Webseiten geteilt wurde. Nachdem sie zuvor ihre Sicht auf die durch Pornokonsum verursachte Ausschüttung von „highly addictive and dangerous erototoxins“ dargelegt hat, schreibt sie über die Intentionen der „pornocentric Jews“:

„These sex entrepreneurs, intent on easy profits, have eagerly sought to provide the masses with the cheapest and deadliest of tranquilizers: opportunities for endless orgasms, by way of a ceaseless flow of pornographic images in the mass media they control.
This is one way to achieve world domination without the need for revolutionary violence or military conquest: to take entire countries and turn them into giant masturbatoria.”[16]

 

…und ihre internationale Strahlkraft

Die Imagination einer devianten und bedrohlichen ‚jüdischen‘ Sexualität war und ist fester Bestandteil judenfeindlicher und antisemitischer Diskurse, deren Verbreitung sich von der Antike bis zur Gegenwart erstreckt und dabei sowohl in westlichen als auch nicht-westlichen Ländern zirkulierten. Insbesondere in Deutschland spielte die Vorstellung, Jüdinnen:Juden ständen hinter der ‚sexuellen Degeneration‘, im 19. und 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle in antisemitischen Diskursen. Zugleich kommen aktuell die bundesrepublikanischen Anti-Pornografiediskurse rund um eine vermeintliche „Porno-Sucht“ bis dato weitgehend ohne explizite antisemitische Anklänge aus. Doch dies kann nur kurz beruhigen, ist doch zum Beispiel mit der Fantasie, das Judentum stecke hinter dem Feminismus, das nicht nur im Weltbild des Attentäters von Halle einen prominenten Platz einnimmt, eine wichtige Grundlage des Sexualantisemitismus weit verbreitet. Auch strahlt der in den US-amerikanischen „Pornosucht“-Diskursen virulente Antisemitismus nicht nur über 4Chan, 8kun, Steam oder anderen Imageboards und Gamerforen mit neuer Kraft, sondern reicht durch die Internationale der extremen Rechten über die USA hinaus in die Welt. So erlebte die Amerikanistin Madita Oeming einen vorrangig antisemitischen Shitstorm als Reaktion auf die Ankündigung ihres Seminars „Porn in the USA“, das im Wintersemester 2019/20 an der Freien Universität Berlin stattfand.[17] Die vorrangig aus den USA stammenden Twitter-Nachrichten und Mails, die sie erreichten, bezeichneten sie – in hundertfacher Variation – als „jüdisch“. „Jews are notorious sexual deviants and pornographers“,[18] hieß es von einem Twitter-Nutzer, der folgerte, dass Oeming mit ihrem Seminar lediglich das tun würde, „what comes natural to her“.[19] Die Twitter-User ergingen sich in Vergewaltigungs- und Morddrohungen, „man müsse das nachholen, was Hitler begonnen habe“, doch „this time it needs to be final“.[20] Auch aus der AfD kamen zahlreiche Tweets. So schrieb der seit März 2020 als Ortsverbandsvorsitzender von Velten fungierende Robert Ketelhohn: „Das Volk der Dichter und Denker/wartet auf Richter und Henker.“[21] Und der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier ließ verlauten, die AfD wolle „diesen kulturmarxistischen Unsinn aus den Schulen und Universitäten fegen“.[22] Über die genuin antisemitisch geprägte Formel des ‚Kulturmarxismus‘, die seit der Verwendung durch den rechtsextremen Terroristen Anders Breivik in seinem Rechtfertigungs-Pamphlet auch in Deutschland populär wurde, steht zu befürchten, dass auch im deutschen Diskurs an die reichhaltigen Traditionsbestände des Sexualantisemitismus angeknüpft werden wird.

 

Die Autor:innen organisieren zusammen mit Stefanie Schüler-Springorum die internationale Konferenz „Antisemitism and Sexuality Reconsidered“, die vom 13.-15.12.2021 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin stattfinden wird. Alle Informationen unter: "Antisemitism and Sexuality Reconsidered"

 

 


[1] Teile der in diesem Artikel vorgetragenen Argumentation wurden bereits in folgenden Artikeln präsentiert: Kristoff Kerl, „‘Oppression by Orgasm‘. Pornography and Antisemitism in Far-Right Discourses in the United States since the 1970s”, in: Studies in American Jewish Literature, 39 (2020) 1, 117-138; Sebastian Bischoff / Kristoff Kerl, „‚Wie muß ein Jude in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1970 sich verhalten?‘ Auseinandersetzungen um „Pornografie“ im Melzer Verlag – ein vergessener Antisemitismusstreit wird 50“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 29 (2020), S. 396-421.

[2] Alle Zitate finden sich (unredigiert) im Commentboard zu den Artikeln: Joel B. Pollak, Jeffrey Toobin Called Andrew Breitbart’s Claims About Anthony Weiner ‘Outrageous’, Breitbart 19.10.2021, und Joshua Caplan, The New Yorker Suspends Jeffrey Toobin for Masturbating on Zoom, Breitbart 19.10.2021 [11.3.2021].

[3] Anti-Defamation League, „Farrakhan Promotes Million Man March with Anti-Semitism & Bigotry”, [18.6.2021].

[4] [Anonym], „Jewish Assault Team Tries to Break Up New Right Meeting”, in: Instauration 5 (April 1980), S. 5, 8-10, hier 10; Kristoff Kerl, „The ‘Conspiracy of Homosexualization’. Homosexuality and Antisemitism in the United States, 1970s-1990s”, in: The Journal of Modern European History [forthcoming].

[5] [Anonym], „Pell-mell to Armageddon“, in: Instauration 3 ( Juni 1978), S. 7, 22. Zum Verhältnis von Jüdinnen:Juden und African Americans im Diskurs des ‚minority racism‘ siehe u.a.: Kristoff Kerl, „‚Minority Racism‘ and White Supremacy. Race and Antisemitism in the Far Right in the United States of America, 1970s-1990s,” in: Noam Zadoff et al. (Hg.), Four Years After. Ethnonationalism, Antisemitism, and Racism in Trump’s America, Heidelberg 2020, S. 121-132.

[6] Abby L. Ferber, White Man Falling. Race, Gender, and White Supremacy, Lanham 1998, S. 107.

[7] Whitney Strub, Perversion for Profit. The Politics of Pornography and the Rise of the New Right, New York 2011, S. 29-33.

[8] Strub, Perversion for Profit, S. 162-168.

[9] [Anonym], [kein Titel], in: Instauration 2 (Januar 1989), S. 28; [Anonym], [kein Titel], in: Instauration 11 (Oktober 1999), S. 21.

[10] [Anonym], „Skin TV“, in: Instauration 4 (März 1984), S. 17.

[11] 220, „[Leserbrief ohne Titel]“, in: Instauration 4 (März 1983), S. 3.

[12] Kerl, „‘Oppression by Orgasm‘”, S. 124.

[13] Anonym, „The Homosexual Contagion”, in: Instauration 10 (September 1977), S. 9 u. 26, hier S. 26.

[14] 042, „[Leserbrief ohne Titel]“, in: Instauration 4 (März 1990), S. 5.

[15] Kerl, „‘Oppression by Orgasm‘”, S. 125.

[16] Lasha Darkmoon, „Pornography as a Secret Weapon” [28.4.2021].

[17] Vgl. zur breiten Berichterstattung hierüber u.a. Lisa Duhm, „Die Leute denken, es sei eben einfach nur Sex und die Kamera hält drauf“, in: Spiegel Online, 4.9.2019 [20.8.2020].

[18] Twitter @direct_juan, 30.8.2019. Die im Folgenden erwähnten Twitter-Nachrichten wurden erneut eingesehen, markiert mit dem letzten Zugriffsdatum. In einigen Fällen haben die Twitter-Nutzerinnen und Nutzer den Account auf privat gestellt, das Zitat stammt dann aus der über 300 MB umfassenden Screenshot-Sammlung, die Madita Oeming Sebastian Bischoff zur wissenschaftlichen Aufarbeitung übergeben hat.

[19] Twitter @RaayaLevinstein, 24.8.2019.

[20] Twitter @FxdxMartin, 23.8.2019.

[21] Twitter @RobertKetelhohn, 22.8.2019.

[22] Twitter @Frohnmaier_AfD, 23.8.2019.