von Susanne Schattenberg

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4. März 2024

In diesen Tagen sind es zehn Jahre, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, und zum zweiten Mal jährt sich der Überfall Russlands auf die gesamte Ukraine. Trotz wichtiger Einzelerfolge wie der Wiedergewinnung der Seehoheit über das Schwarze Meer, der Versenkung des Kriegsschiffs Nowotscherkassk und des Abschusses u.a. einer mobilen Kommandozentrale hat sich im vergangenen Jahr die Front kaum, zumal zugunsten der Ukraine, verschoben.
Spätestens seit dem Massaker der Hamas an Israelis am 7. Oktober 2023 sind die Nachrichten über die Lage in der Ukraine in die zweite, wenn nicht dritte Reihe gerutscht und scheinen unter dem Titel „Im Osten nichts Neues“ zu firmieren. Weder gab es erneuten Anlass für Jubel wie den Rückzug der russischen Truppen 2022 rund um Kiew oder aus Cherson, noch Entsetzen über Kriegsverbrechen, Gräueltaten und Massaker wie in Butscha, Irpin oder Mariupol. So bleibt es nicht aus, dass die Idee von einer Verhandlungslösung wieder die Runde macht, und es plötzlich wieder plausibel erscheint, man könnte den Konflikt einfrieren. Erst kürzlich äußerte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, die Minsker Abkommen, 2014/15 zwischen Russland und der Ukraine über die Zukunft der Ostukraine geschlossen, seien nicht schlecht gewesen, nur weil Putin sie gebrochen habe. Er sagt dabei nicht, dass die Sollbruchstelle des Minsker Abkommen darin bestand, dass Putin sich als unparteiisch gab, während er tatsächlich Soldaten ohne Hoheitsabzeichen geschickt hatte, damit diese die Ostukraine destabilisierten, und die russische Armee in der Ostukraine durchgehend präsent war. Zudem waren die vereinbarten demokratischen Wahlen in den de facto von Russland kontrollierten Gebieten nie eine reelle Option, weil Parteien und Medien drangsaliert wurden und kritische Stimmen in den Foltergefängnissen verschwanden.

Sowohl die Minsker Abkommen als auch der Wunsch nach Verhandlungen heute basieren auf der gravierenden Fehleinschätzung, dass Putin ein in dem Sinne rational handelnder Politiker sei, dass er den gleichen Prämissen folge und sich den gleichen Werten verbunden sehe, wie es Staatschefs anderer Industrienationen tun. Dazu gehörte, den Krieg so schnell wie möglich beenden zu wollen, um die eigene Bevölkerung sowie die eigene Wirtschaftskraft zu schonen und beides gegen potentiell weitere Gebietsgewinne abzuwägen. Nichts davon trifft zu.

In Russlands Krieg geht es eben nicht um das ukrainische Territorium, nicht einmal um Rohstoffe, sondern um die Vernichtung der ukrainischen Nation. Putin hat immer wieder unmissverständlich geäußert, dass die Ukraine für ihn eine abtrünnige Provinz sei, die nur durch mehrere Unfälle in der Geschichte die Unabhängigkeit erlangt habe. In der Tradition russischer Imperialisten des 19. Jahrhunderts stellt er die russische Nation als Dreifaltigkeit dar, zu der neben den Ukrainern auch die Belarusen gehören. Seine Politik lässt daran keinen Zweifel: In den besetzten Gebieten erhalten die Ukrainer russische Pässe, Kinder werden im großen Maßstab geraubt und russischen Familien übergeben, Frauen werden vergewaltigt, Kriegsgefangene kastriert, Kulturgüter zerstört oder, was als russisch angesehen wird, abtransportiert. Die genozidalen Zeichen sind klar zu erkennen; auch wenn es Putin nicht darum geht, alle Ukrainer physisch zu vernichten, besteht kein Zweifel daran, dass er ihre nationale Identität auslöschen will. Es ist ein rein ideologischer Krieg mit einer klaren Vernichtungsabsicht.

Putin folgt also weder der gleichen Ratio wie andere Staatenlenker von Industrienationen, noch wäre es aus seiner Sicht logisch zu verhandeln, da er seinem Ziel, die Ukraine ideell zu vernichten, keinen Schritt näher gekommen ist. Mehr noch: Er hat überhaupt kein Interesse daran, den Krieg zu beenden, weil ihm dieser massiv in die Hände spielt. Erstens hat er ganz auf Kriegswirtschaft umgestellt: Ein Drittel des Haushalts ist für Rüstungsausgaben vorgesehen, die Branche boomt und zahlt hohe Löhne, was die Beschäftigten freut. Putin hat verkündet, dass der Krieg Russland stark machen werde und den Rückstand in der Hochtechnologie zu überwinden helfe, da die Front direkt mit den Rüstungsbetrieben kommuniziere und die Kriegspraxis damit direkt in technisches Wissen umgesetzt werde. Zweitens hat Putin endlich die Vision für Russland gefunden, deren Fehlen ihm immer angelastet wurde. Nun muss er als gemeinsame russische Identität nicht mehr den vergangenen Sieg von 1945 bemühen, sondern hat seinen eigenen Kampf, auf den er die Bevölkerung eingeschworen hat. „Krieg“ führt allerdings der Westen gegen Russland, so Putin, während er nur eine „Spezialoperation“ gegen die Ukraine leite. Damit hat er drittens ein Feindbild zementiert, mit dem sich alle Missstände im Lande erklären, aber auch sämtliche Repressionen gegen jedes Anzeichen von Opposition rechtfertigen lassen. Erst der Krieg hat ihm erlaubt, den Strafapparat so auszubauen, dass freie Meinungsäußerung in Russland wirklich gefährlich geworden ist. Kurz: Putins Herrschaft baut heute wirtschaftlich, ideologisch und strafrechtlich auf dem Krieg auf. Sollte er ihn beenden, müsste er alle Bereiche grundsätzlich neu ausrichten. Für ihn sind also weder Verhandlungen noch Frieden erstrebenswert.

Was ist also zu erwarten? Putin wird sich Mitte März als Sieger der Präsidentschaftswahlen feiern lassen. Den einzigen Gegenkandidaten Boris Nadeschdin hat er gerade aus dem Rennen nehmen lassen. Danach wird er massiv neue Soldaten mobilisieren und möglicherweise sogar die Erschöpften an der Front, deren Frauen bereits leise mit weißen Kopftüchern protestieren, nach Hause entlassen. Die Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren; zudem liefern offenbar Nordkorea und der Iran höchst zufriedenstellend Munition.

In der Ukraine ist der Nachschub an frischen Soldaten und die Ablösung der Erschöpften nach wie vor ungeklärt. Die Rüstungshilfen aus den USA sind vom Kongress gestoppt worden und es ist unklar, ob und wann sie freigegeben werden. Die EU hat 2023 nur ein Drittel der zugesagten eine Million Schuss Artilleriemunition geliefert, und Deutschland, das Rüstungslieferant Nummer zwei hinter den USA ist, fleht die EU-Nachbarn an mitzuziehen. Drei Szenarien sind denkbar: (1) Die Ukraine bekommt massiven Nachschub, damit die Lufthoheit über ihr Gebiet und kann die russische Armee im Süden soweit zurückdrängen, dass diese sich zurückziehen und auch die Krim preisgeben muss. In einem zweiten Schritt kann auch das Donbass befreit werden. (2) Die Ukraine bekommt so viel Munition, dass sie dem enorm gestiegenen Druck der russischen Armee gerade standhalten kann. Das kann in einen jahrelangen Zermürbungskrieg führen, den mit Verhandlungen zu beenden Putin kein Interesse hat. Während er aus ihm seine Legitimation bezieht, blutet die Ukraine langsam aus, da sie 100 Millionen Einwohner weniger als Russland hat. (3) Die Ukraine bekommt keine weitere Hilfe mehr und wird überrannt. Eine Verhandlungslösung wird es auch in diesem Szenario nicht geben, denn Putin wird seine Armee nicht stoppen, wenn die Ukraine offen vor ihm liegt. Die Besetzung der Ukraine hätte verheerende Konsequenzen: Die Ukraine und ihre Identität würden ausgelöscht; für Belarus würde jede Chance schwinden, sich von Moskau wieder zu lösen. Es gäbe eine gewaltige internationale Kräfteverschiebung: Die westliche Wertegemeinschaft würde dramatisch geschwächt, Diktaturen und autoritäre Regime bekämen Aufwind und vermutlich sähe China den Moment gekommen, seine Ansprüche auf Taiwan militärisch durchzusetzen. Militärstrategen gehen heute davon aus, dass Russland danach fünf bis acht Jahre bräuchte, um sich für einen weiteren Überfall zu rüsten. Ziele könnten Georgien und Moldawien, aber auch Polen und das Baltikum sein, denn die NATO wäre kein Angstgegner mehr für Russland. Putins Kalkül wäre vermutlich, dass die NATO-Staaten nicht zu den Atomwaffen greifen, so lange er sie nicht einsetzt.

Wer also meint, Szenario eins sei unrealistisch oder gar idealistisch, dem sei gesagt, dass es das einzig akzeptable Szenario ist. Solange sich die innenpolitische Lage in Russland nicht grundsätzlich ändert, wird Putin Verhandlungen ablehnen. „Zeitenwende“ heißt zu akzeptieren, dass Putin, der die Minsker Abkommen mit dem Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren brach, kein ehrliches Interesse an „Minsk III“ hat. Der russische Präsident ist kein „Irrer“, aber er hat das materialistische, nationalstaatliche Denken lange hinter sich gelassen. Er folgt einer ideologischen Mission, zunächst die dreieinige russische Nation zwangszuvereinigen und dann möglichst viele Gebiete zu okkupieren, wo Russen leben. So gesehen ist er ein „Systemsprenger“ – und kein Verhandlungspartner. Wie er selber offen und oft sagt, will er nicht nur eine Einflusszone für Russland, sondern auch eine neue Weltordnung. In der würde nur das Recht des Stärkeren gelten.

Dieser Beitrag erschien erstmals unter dem Titel: "Es geht um eine neue Weltordnung" am 21. Februar 2024 im Weserkurier auf Seite 3.