von Stephan Horn

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18. August 2023

Am 28. Mai 1987 flog der 19-jährige westdeutsche Hobbypilot Mathias Rust ohne Vorankündigung über den „Eisernen Vorhang“. Er landete mit einer gecharterten Cessna 172P „Skyhawk II“ nahe des Roten Platzes in Moskau. Bis heute bleibt sein Überraschungscoup rätselhaft. Was wollte Rust mit dieser Tat bezwecken? Warum hielt ihn die sowjetische Luftverteidigung nicht auf? Im Westen entwickelte sich der Flug von Mathias Rust zu einem langlebigen Medienereignis. Ihm selbst brachte die Aktion 432 Tage Haft im Moskauer Lefortowo-Gefängnis ein. Der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow nahm die Versäumnisse der eigenen Flugabwehr zum Anlass, einige seiner Kritiker im Militär abzusetzen. Der Flug von Mathias Rust trieb damit nicht zuletzt Gorbatschows Politik der „Perestroika“ (Umgestaltung) in den sowjetischen Streitkräften voran. Trotz der tiefgreifenden innenpolitischen Folgen dieser Aktion liegt bis heute keine umfassende wissenschaftliche Studie darüber vor. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive trägt der Flug von Matthias Rust Züge einer Performanz der Selbstermächtigung.

 

Tauwetter in der Sowjetunion?

Der Flug von Mathias Rust ereignete sich in der Spätphase des Kalten Krieges. Mit dem neuen Parteichef Michail Gorbatschow zeichneten sich Mitte der 1980er Jahre politische Reformen in der Sowjetunion ab. Wie es der Zufall wollte, verkündete Gorbatschow einen Tag nach der Landung von Rust auf einer Tagung in Ost-Berlin die neue Defensivstrategie der Warschauer Vertragsorganisation.[1] Im Falle der Defensivmaßnahmen der sowjetischen Luftverteidigung hatten einige Jahre zuvor mehrere Zwischenfälle dazu geführt, dass der Beschuss ziviler Maschinen durch die Flugabwehr verboten wurde. Im Frühjahr 1978 zwang der Jagdflieger Alexander Bosow eine südkoreanische Boeing 707, die sich in den sowjetischen Luftraum verirrt hatte, zur Landung. Zwei Passagiere starben. Danach kam es zu einer Dezentralisierung der Kommandostrukturen der sowjetischen Flugabwehr, wovon im Folgenden noch die Rede sein wird. Im Herbst 1983 schoss der sowjetische Jagdflieger Gennadij Nikolajewitsch Osipowitsch ebenfalls eine südkoreanische Boeing 747 ab, die sich in den sowjetischen Luftraum verirrt hatte, dabei starben 269 Menschen. Die sowjetische Führung untersagte daraufhin jedes Feuer auf zivile Maschinen.[2]

Autogrammkarte, vermutlich von 1989, Privatbesitz Stephan Horn

 

Der Ablauf des Fluges

Mathias Rust flog nicht auf direktem Wege von der Bundesrepublik Deutschland in die Sowjetunion. Er nahm mehrere Wochen Urlaub und verband seine Aktion mit einer touristischen Flugreise nach Island und Finnland. Von Helsinki aus startete Rust am Morgen des 28. Mai 1987 seinen Flug Richtung Moskau. Kurz nachdem er über dem heutigen Estland in den sowjetischen Luftraum eingedrungen war, identifizierte ihn der Pilot einer aufgestiegenen MiG-23 irrtümlich als gewöhnlichen Sportflieger. Es folgten weitere Fehldeutungen und Pannen der sowjetischen Flugabwehr und Flugsicherung, so dass Rust unbehelligt am Abend auf der Großen Moskwa-Brücke landen konnte. Er hatte den Roten Platz zuvor mehrfach überflogen, sich schließlich wegen der Menschenansammlungen gegen ein dortiges Aufsetzen entschieden. Im Nachgang der Untersuchungen zum Fall Rust schrieb Gorbatschow in einem persönlichen Brief an den Staats- und Parteichef der DDR, Erich Honecker: „Doch entsprechend den bestehenden Weisungen […] waren die Truppen der Luftverteidigung verpflichtet, den Flug des Luftraumverletzers ohne Einsatz von Kampfmitteln zu unterbinden.“[3] Gorbatschow sparte nicht mit Kritik an der Flugabwehr: „Die Dienststellen der Luftverteidigung haben jedoch in dieser Situation elementare Sorglosigkeit, Unbeweglichkeit und Unorganisiertheit an den Tag gelegt. Das Zusammenwirken der Truppen war nicht gewährleistet, Hubschrauber oder leichte Flugzeuge wurden nicht rechtzeitig eingesetzt, und die Überwachungsmittel stellten die Verfolgung des Ziels in der Annahme ein, daß es im Gebiet des Ilmen-Sees verschwunden sei.“[4]

 

Das Medienereignis und seine Konjunkturen

Während in der DDR die Berichterstattung über den Flug von Mathias Rust zurückhaltend blieb, entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland die spektakuläre Landung vor dem Kreml zu einem Medienereignis. Drei Phasen lassen sich unterscheiden: Zunächst lag der Fokus der westlichen Medien auf dem vermeintlichen „Husarenstück“, mit dem Rust die sowjetische Luftverteidigung düpiert hätte. „Die tollkühne Landung auf dem Roten Platz. 19jähriger Deutscher: Ich wollte mal mit den Russen reden“, titelte die BILD, damals schon die auflagenstärkste Tageszeitung der Bundesrepublik Deutschland.[5] Auch das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL kolportierte nach der Landung das Bild des tollkühnen Fliegers: „Nicht nur in der Luft, auch zu Lande war die Sowjetmacht zunächst hilflos gegen den frechen Sportsmann: Er konnte in rotem Overall seiner Kanzel entsteigen, sozusagen im Angesicht des toten Lenin auch noch Autogramme verteilen, wurde behauptet.“[6] In einer zweiten Phase entwickelte sich die Erzählung vom weltfremden Muttersöhnchen, das fahrlässig den Frieden gefährdet hätte. Die Illustrierte Stern hatte einen Exklusiv-Vertrag mit Rust abgeschlossen, und insbesondere Sternreporter Erich Follath prägte nach der Freilassung das Narrativ vom labilen Spießbürger: „Schon rein äußerlich stellt man sich einen tollkühnen Draufgänger anders vor!“ heißt es in einem Exklusivbeitrag nach der Haftentlassung.[7] Schließlich formierte sich das Bild des gewieften Medienakteurs, den Ruhmsucht und Geldgier angetrieben hätten. „Seine weiche Landung“ stand auf einer Titelseite der Illustrierten Quick von 1988. Die Fotomontage zeigt Mathias Rust in der ikonischen roten Fliegerkombi, wie er freudestrahlend auf einem Haufen Banknoten tanzt. Betont wurde die vermeintlich gewinnbringende Seite des Fluges von Mathias Rust: „Kreml-Flieger Rust macht sich rar und teuer. Um an seiner Geschichte besser verdienen zu können.“[8]

 

Mathias Rust und seine politische Mission

„Ich hatte ein politisches Motiv“, erklärte Mathias Rust dem ins Untersuchungsgefängnis geeilten Vertreter der bundesdeutschen Botschaft in Moskau.[9] Im Gepäck trug Rust ein selbstverfasstes Manifest, in dem er ein utopisches Traumland namens „Lagonia“ beschrieb. Mit diesem Gesellschaftsentwurf versuchte er die Vorteile beider Systeme in Ost und West in einer Idealgesellschaft zu vereinen. Dazu zählten das Recht auf Arbeit und Wohnung, basisdemokratische Elemente nach dem Vorbild der Schweiz und die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien. Vor dem Start in Helsinki hatte Mathias Rust seine Cessna 172P „Skyhawk II“ mit mehreren selbstgefertigten Missionssymbolen beklebt. Die rund einen Meter großen Aufkleber aus Goldfolie erinnerten der Form nach an eine gestauchte Rakete. Die „Raketen“ symbolisierten den Nordpol (Spitze), die Erde (Mitte) und mit den drei unteren „Erdsäulen“ Frieden, Freiheit und Hoffnung.[10] Auf einem vielfach reproduzierten Foto, das die vor der Basilius-Kathedrale abgestellte Cessna 172 P „Skyhawk II“ zeigt, ist das Symbol am Seitenleitwerk gut zu erkennen.

 

Die militärpolitischen Folgen des Fluges

 

Wenige Tage nach der Landung von Mathias Rust entließ der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow seinen Verteidigungsminister Marschall Sergej Sokolow und den Oberkommandierenden der Luftverteidigung Alexander Koldunow. Ihnen folgten weitere 120 Generale und Admirale. Vor allem Sokolow galt als Kritiker militärpolitischer Reformen.[11] Somit boten die Versäumnisse der sowjetischen Luftverteidigung dem Reformer Gorbatschow einen Anlass, politische Gegner in den Streitkräften abzusetzen. Bis heute sehen russische Militärs im Flug von Rust eine „unvergessene Schmach“, so auch Michail Khodarenok, der im Jahr 1987 stellvertretender Kommandeur eines FlaRak-Regiments (Fugabwehrraketen, d. Red.) der sowjetischen Luftverteidigung war. In einem Beitrag von 2012 für das militärnahe russische Fachblatt Militär-Industrie-Kurier verortet er die Verantwortung für das Versagen der Flugabwehr bei den politischen Entscheidungsträgern. Die sowjetische Flugabwehr sei durch die Dezentralisierung des Jahres 1978 gelähmt worden: „Die diensthabenden Kräfte waren faktisch zur Geisel eklatanter Fehleinschätzungen auf Seiten von Politikern und führenden Vertretern des Verteidigungsministeriums geworden.[…] Ursache der Misere ist vor allem die unüberlegte und dilettantisch durchgeführte Neuorganisation der Luftverteidigungstruppen im Jahr 1978. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Hätte man damals auf sie verzichtet, wären die Ereignisse vom 28. Mai 1987 nicht eingetreten.“[12]

Single der Pop-Gruppe Modern Trouble aus dem Jahr 1987, Privatbesitz Mathias Heisig

 

Performanz der Selbstermächtigung?

Hat Mathias Rust leichtsinnig und naiv, ja sogar fahrlässig gehandelt? In einem Fernsehinterview aus dem Jahre 1988 fand Mathias Rust sehr selbstbewusst eine Antwort auf diese Frage:

MODERATOR: „Ist das [der Flug als symbolische Unterstützung Gorbatschows, Anm. S. H.] nicht etwas naiv, weil für solche Politik hat man ja im Allgemeinen die Politiker, und es kann nicht jeder über Mauer und Stacheldraht hinwegmarschieren oder auch irgendwelche Lufträume verletzen und dann sagen, ich schau mal kurz bei dem vorbei.“

RUST: „Wir sehen ja, dass unsere Politiker sich festgefahren haben zu dem Zeitpunkt und wenn wir nichts tun, was soll sich ändern, wie soll man eine bessere Beziehung bekommen, wenn nicht irgendeiner, auch wenn es am Anfang naiv erscheint, einen Schritt tut, ob nun etwas bewegt wird oder nicht.“[13]

War Rust ein schillernder Vorbote dessen, was die Kulturwissenschaftler Wolf-Andreas-Liebert und Werner Moskopp unlängst als die „gegenwärtige Kultur“ der „Selbstermächtigung“ bezeichneten? In ihrer Definition umreißt der Begriff der Selbstermächtigung „eine generelle Unzufriedenheit mit den institutionellen Rahmenbedingungen, den damit verbundenen Machthierarchien und der daraus resultierenden ‚Entmündigung‘ des ‚normalen Bürgers‘ und fordert – selbstbewusst und offensiv – dazu auf, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, seine individuellen Ansprüche nicht nur zu formulieren, sondern auch – aktiv – durch ‚Selbsttätigkeit‘ umzusetzen, auch wenn dies bedeutet, gegen die eingespielten Regeln und etablierten Strukturen der institutionellen Ordnungen zu verstoßen.“[14] Mit dem Mittel des illegalen, grenzüberschreitenden Fluges verstieß Rust eindeutig gegen Institutionen und Regeln und setzte „selbsttätig“ und gleichermaßen selbstbewusst ein offensives Zeichen. Das, was ihm in der Beurteilung der Öffentlichkeit oftmals zum Verhängnis wurde, war der Umstand, dass er ein übergeordnetes kollektives Interesse – die Annäherung von Ost und West - in ein ganz individuelles Anliegen umgewandelt hatte.

 

Mathias Rust als Projektionsfläche

Zufällig filmte der britische Arzt Robin Stott, der sich beruflich in Moskau aufhielt, das Geschehen am Roten Platz, auch existieren vom Überflug Fotografien eines finnischen Studenten namens Hannu Podduikinin.[15] Mathias Rust entwickelte sich in den westlichen Medien schnell zur Projektionsfläche unterschiedlicher Wahrnehmungen. Die Zuschreibungen changieren bis heute - insbesondere zu jedem runden Jahrestag des Fluges - von Held bis Witzfigur, Idealist bis Luftikus, von Draufgänger bis Spießbürger.[16] Die Vieldeutigkeit seiner Performanz prägte die zeitgenössischen Narrative in den westlichen Medien, vieles davon ist noch heute in aktuellen Texten über Rust aufspürbar. So sieht der Historiker Giles Scott-Smith den „Schlüssel zur Interpretation“ von Rust nicht im politischen Aktivismus, sondern in den „Traumwelten des europäischen Kulturraumes“ zur Zeit der Ost-West-Auseinandersetzung.[17] Die Lektüre von Heften aus der Science-Fiction Reihe Perry Rhodan hätte ihn nicht nur zum Flug nach Moskau, sondern auch zum Verfassen des „Lagonia“-Manifestes inspiriert. Wohlgemerkt: Das Manuskript gilt als verschollen, und Rust betonte stets, vor seiner Aktion keine Perry Rhodan Hefte gelesen zu haben. Die kulturwissenschaftliche Interpretation von Scott-Smith folgt im wesentlich einer Erzählung, die der Stern-Reporter Erich Follath in seiner Titel-Reportage des Jahres 1988 lanciert hatte. Dort heißt es: „Er las in Lefortowo mehr als in seinem ganzen Leben zuvor. Karl Marx, Sigmund Freud und vor allem Perry Rhodan. Diesem Science-fiction-Helden fühlt er sich besonders verbunden. Der Weltraum-Husar überwindet als ‚Erbe des Universums‘ in einsamen, waghalsigen Kommandounternehmen die Zerrissenheit der Systeme und Weltanschauungen.“[18]

 


[1] Oliver Bange, Sicherheit und Staat, Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin 2017, S. 419 ff.
[2] Vgl. Ed Stuhler, Der Kreml-Flieger, Mathias Rust und die Folgen eines Abenteuers, Berlin 2012, S. 86 ff.
[3] Brief von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow an SED-Generalsekretär Erich Honecker (04.06.1987), SAPMO-BA, DY 30/N2/2039/294, Bl. 104-106, hier Bl. 104.
[4] Brief von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow an SED-Generalsekretär Erich Honecker (04.06.1987), SAPMO-BA, DY 30/N2/2039/294, Bl. 104-106, hier Bl. 105 f.
[5] BILD, 30.5.1987.
[6] DER SPIEGEL 23 (1987) 41, 1.6.1987, S. 119.
[7] Stern 33 (1988), 11.8.1988, S. 26.
[8] Quick, 33 (1988), 11.8.1988.
[9] Andreas Wirsching, Hélène Miard-Delacroix, Gregor Schöllgen (Hg.), Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Januar bis 30 Juni 1987, Berlin/Boston 2018, S. 157.
[10] Ed Stuhler, Der Kreml-Flieger, Mathias Rust und die Folgen eines Abenteuers, Berlin 2012, S. 18 f. und 28.
[11] Oliver Bange, Sicherheit und Staat, Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin 2017, S. 425 f.
[12] Voyennno-Promashlennya-Kur’yer 21/438 (2012), S. 11. [Übersetzung Bundessprachenamt]
[13] Talkshow „Na siehste!“, Folge 10, Erstausstrahlung 30.11.1988 ZDF.
[14] Wolf-Andreas Liebert, Werner Moskopp, Einleitung, in: Die Selbstermächtigung der Einzigen, Texte zur Aktualität Max Stirners, hrsg. von Wolf-Andreas Liebert und Werner Moskopp, Berlin 2014, S. 7.
[15] Ed Stuhler, Der Kreml-Flieger, Mathias Rust und die Folgen eines Abenteuers, Berlin 2012, S. 34. Ferner https://suomenkuvalehti.fi/ulkomaat/nain-mathias-rust-toteutti-hullun-aj....
[16] Vgl. beispielsweise die Artikel in SPIEGEL und Stern https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/hamburger-humortrio-studio-braun-wenn-einer-gehen-soll-dann-der-kultursenator-a-724229.html, https://www.stern.de/panorama/mathias-rust---25-jahre-danach-bekenntnisse-des-kremlfliegers-3847544.html, https://www.spiegel.de/panorama/leute/kreml-flieger-rust-750-000-euro-beim-pokern-gewonnen-a-628964.html.
[17] Giles Scott-Smith, Looking for Lagonia: On “Imaginary Bridges” and Cold War Boundaries, in: Entangled East and West: Cultural Diplomacy and Artistic Interaction during the Cold War, hrsg. von Simo Mikkonen, Giles Scott-Smith and Jari Parkinnen, Berlin/Boston 2019, S. 268.
[18] Stern 33 (1988), 11.8.1988, S. 29.