von Daniel Bosch

  |  

2. Oktober 2023

Eine Stadt, zwei Zoos

Am 2. Juli 1955 öffnete der Tierpark auf dem Gelände des enteigneten Schlossparks Friedrichsfelde in Ost-Berlin seine Tore. Die Eröffnung war ein politisches Großereignis: Neben Direktor Heinrich Dathe nahmen unter anderem der Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, und der Oberbürgermeister von Groß-Berlin, Friedrich Ebert, teil. Der Tierpark war in nur drei Monaten durch das Nationale Aufbauwerk (NAW) mit Unterstützung aus der Bevölkerung realisiert worden. Die SED-Propaganda feierte das Projekt als wichtigen Beitrag zum „Aufbau des Sozialismus“.[1]

Die Entstehung des Tierparks war eng mit den politischen Entwicklungen der Nachkriegsjahre verknüpft: Der 1844 eröffnete und weltweit renommierte Berliner Zoologische Garten gehörte nach der Teilung zum Westteil der Stadt. Im Kontext des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz wollte die SED-Führung verhindern, dass die DDR auf diesem Gebiet ins Hintertreffen geriet. Mit dem Aufbau eines eigenen Tierparks erhoffte sie sich internationale Anerkennung der noch jungen DDR. Außerdem wollte sie verhindern, dass die Ost-Berliner*innen für einen Zoobesuch nach West-Berlin fuhren. Die Partei- und Staatsführung befürchtete Kontakte zum „Klassenfeind“, die bis zum Mauerbau 1961 noch vergleichsweise leicht herzustellen waren. Da zudem der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erst zwei Jahre zurücklag, galt es, die Bevölkerung zufriedenzustellen. Der Tierpark sollte sich als sozialistische Freizeit- und Bildungseinrichtung etablieren, die als kulturelles Prestigeobjekt ihrem Standort im politischen Zentrum der DDR gerecht wurde. Der Wettstreit zwischen Tierpark und Zoo stand damit klar im Kontext des Kalten Krieges.[2]

 

Der Tierpark als Vorzeigeobjekt

Zahlreiche prominente Gäste aus Ost und West besuchten den Tierpark. Neben Staatschefs, Kosmonauten und Zoodirektoren standen sogar Vertreter sozialistischer Geheimdienste auf der Gästeliste. Da das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) viele der Besuche mit der Kamera begleitete, sind entsprechende Fotos im Bundesarchiv überliefert.[3]

 

Der Leiter der KGB-Regionalverwaltung Moskau, Viktor Iwanowitsch Alidin (Mitte), im Alfred-Brehm-Haus. Das 1963 eröffnete Raubtierhaus mit begehbarer Tropenhalle stand bei Besuchen prominenter und hochrangiger Gäste ganz oben auf dem Programm. Quelle: BArch, MfS, BV Berlin, Fo, Nr. 550, Bild 9.

 

Trotz der politischen Instrumentalisierung des Tierparks bemühte sich Dathe stets, ihn als politisch neutral zu präsentieren. So unterband er zum Beispiel SED-Propaganda auf dem Gelände. Seine hohe Stellung als Tierpark-Direktor und das damit verbundene Ansehen schützten Dathe – selbst nie SED-Mitglied – vor möglichen Konsequenzen.[4]

 

Tierische Spende vom MfS

Trotz seiner bevorzugten Behandlung gegenüber anderen DDR-Zoos wie Leipzig, Dresden oder Halle war der Tierpark auf Spenden angewiesen. Denn vor allem in den Anfangsjahren der DDR mangelte es an finanziellen Mitteln. Hier kamen die anderen Zoos, Städte, Betriebe und Ministerien ins Spiel, die den Tierpark finanziell unterstützten. Die brandenburgische Stadt Strausberg stiftete Strauße, der Volkseigene Betrieb „Kälte“ Berlin Eisbären, das Ministerium für Schwerindustrie einen Elefanten – und das MfS zwei Brillenbären.[5]

Die Spende stammte vom Wachregiment „Feliks Dzierżyński“, dem militärischen Arm der Stasi. Das Schreiben des Kommandeurs vom 31. Oktober 1957 und der Scheck über 7.671,65 Mark sind als Foto im Bundesarchiv überliefert.[6]

 

Übergabe einer Spende des MfS-Wachregiments an Tierpark-Direktor Heinrich Dathe für den Kauf von zwei Brillenbären. Quelle: BArch, MfS, WR Berlin, Fo, Nr. 42, Bild 5.

 

Tierpark im Visier der Stasi

Als politisch und volkswirtschaftlich bedeutendes Objekt war der Tierpark von Beginn an staatlicher Überwachung ausgesetzt. Hinzu kamen die berufsbedingten Westkontakte und Auslandsreisen Dathes und seiner Angestellten. All dies hatte zur Folge, dass das MfS ein Netz an inoffiziellen Mitarbeitern (IM) im Tierpark installierte.[7]In den Stasi-Unterlagen lassen sich bereits für die 1950er-Jahre geheime Informatoren (GI) – so die Bezeichnung für IM bis 1968 – nachweisen. Bis in die 1980er-Jahre arbeiteten Tierpark-Mitarbeiter als IM für die Staatssicherheit – von Pflegern bis hin zu Mitgliedern der Leitungsebene.

Wie die Akten des MfS verraten, ließ die Geheimpolizei sich unter anderem über internationale Konferenzen im Tierpark und den Zustand der Tierhäuser berichten. Außerdem behielt es große Bauvorhaben, wie die Errichtung des Instituts für Wirbeltierforschung oder des Dickhäuterhauses, im Auge. Als die Bezirksverwaltung (BV) Berlin 1985 auf das Gelände nördlich des Tierparks zog, hatte die Stasi zudem ein besonderes Interesse an der Absicherung des Geländes. Sie beanspruchte einen großen Teil des Tierpark-Areals für sich, damit niemand vom benachbarten Trümmerberg auf das Gelände der Bezirksverwaltung blicken konnte. In einzelnen Fällen ging das MfS aber auch gezielt gegen Mitarbeiter*innen vor, die Fluchtpläne schmiedeten oder sich aus Sicht der Geheimpolizei „staatsfeindlich“ betätigten.

 

Ermittlungen gegen einen Tierpfleger

Ab April 1958 verendeten im Tierpark vermehrt Tiere mit Vergiftungserscheinungen. Als die Todesfälle Anfang 1959 zunahmen, schaltete sich das MfS ein. Wegen des Verdachts der vorsätzlichen Tötung legte die Stasi am 26. Februar 1959 einen Überprüfungsvorgang gegen mehrere Tierpfleger an. Der Vorwurf lautete: Sabotage. Gerade in der Anfangszeit des Tierparks bedeutete der Verlust von zum Teil sehr wertvollen Tieren einen hohen Schaden.

Die Ermittlungen fielen in den Zuständigkeitsbereich der MfS-Kreisdienststelle (KD) Lichtenberg, die direkt an den Tierpark grenzte. Die Stasi koordinierte ihr Vorgehen eng mit der Volkspolizei, nahm aber die führende Rolle bei den Ermittlungen ein. In einem ersten zusammenfassenden Bericht von April 1959 bezeichnete die KD Lichtenberg die Vorfälle als „Schädlingstätigkeit“ gegen einen der „größten kulturellen Erfolge[n]“ der DDR und „eines der größten NAW-Projekte Berlins“.[8] „Schädlingstätigkeit und Sabotage“ zählten gemäß § 23 Strafergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 zu den Staatsverbrechen und wurden besonders schwer bestraft.

 

Bericht der KD Lichtenberg über Tiervergiftungen im Tierpark Berlin-Friedrichsfelde. Quelle: BArch, MfS, AOP, Nr. 17683/62, Bd. 1, Bl. 24.

 

Durch Beobachtungen, Postüberwachung und den Einsatz von GI häuften sich die Indizien gegen einen Tierpark-Mitarbeiter: den 24-jährigen Günther Rabe (Name geändert), der ab 1. September 1955 als Tier-, später als Oberpfleger im Tierpark arbeitete. Bei Durchsuchungen von Rabes Dienstzimmer fand die Geheimpolizei unter anderem eine Flasche mit einer verdächtigen Flüssigkeit. Sie schickte Proben an die Technische Untersuchungsstelle der MfS-Abteilung K (Entwicklung operativ-technischer Mittel), die die giftige Wirkung der Substanz bestätigte. [9]

Am 6. November 1959 legte die Stasi den Operativen Vorgang (OV) „Kulan“ an – benannt nach einem Asiatischen Esel, der kurz zuvor verendet war. Als sie ihre Anschuldigungen gegen Rabe durch eine List bestätigt sah, verhafteten drei MfS-Mitarbeiter Rabe am 19. November 1959 in seiner Wohnung und brachten ihn in die Untersuchungshaftanstalt Pankow. Die Abteilung IX der MfS-Verwaltung Groß-Berlin legte einen Untersuchungsvorgang an. Sie holte sich Informationen zu Rabe bei seinen früheren Arbeitgebern ein und befragte ihn und seine Ehefrau.

Obwohl dem MfS Rabes Schuld zunächst als erwiesen schien, stellte es schnell Ungereimtheiten fest, die es auf eigene „operative Fehler“ zurückführte. Letztendlich fehlten ihm stichhaltige Beweise, um Rabe der Tiervergiftungen zu überführen und ihn weiter in Untersuchungshaft zu behalten. Doch damit ließ das MfS noch lange nicht von dem Tierpfleger ab. Denn die Ermittlungen zu den Vergiftungen deckten auf, dass Rabe ab Anfang 1959 in den illegalen Tierhandel verwickelt war – ein Umstand, den das MfS für seine Zwecke zu nutzen wusste.

 

Vom „Saboteur“ zum Spitzel

Am 24. Dezember entließ die Geheimpolizei Rabe straffrei aus der Untersuchungshaft. Die Stasi-Unterlagen verraten den Grund für diese Entscheidung: Wegen Rabes guter Verbindungen innerhalb des Tierparks und seines Fachwissens strebte das MfS eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem Pfleger an. Für die Geheimpolizei war die Aufklärung der Tiervergiftungen wichtiger als Rabes Bestrafung für seinen illegalen Tierhandel. Daher veranlasste sie die Generalstaatsanwaltschaft zur Einstellung des Gerichtsverfahrens, ohne sie über die wahren Hintergründe zu informieren.[10]

 

Gespräch mit Günther Rabe über eine zukünftige inoffizielle Zusammenarbeit. Quelle: BArch, MfS, AIM, Nr. 15440/81, Bl. 38.

 

Noch am Tag der Haftentlassung warb das MfS Rabe zunächst als Kontaktperson an. Im September 1960 verpflichtete sich der Tierpfleger offiziell als GI „Rudi Waldvogel“.[11] Anfangs setzte das MfS ihn für weitere Ermittlungen im OV „Kulan“ ein. Letztendlich konnte es jedoch keinen Verantwortlichen für die Tiervergiftungen ermitteln und legte den Vorgang im September 1962 ab. Rabe berichtete dem MfS aber weiter über seine Kolleg*innen sowie Tierpark-Direktor Dathe. Erst 1981 endete die inoffizielle Tätigkeit Rabes. Am 19. September stellte das MfS die Zusammenarbeit mit „Rudi Waldvogel“ wegen dessen schwerer Krankheit ein.

Neun Jahre später hörte die DDR auf zu existieren. Seit dem 2. Januar 1992 sind die einst geheimen Stasi-Unterlagen für Betroffene, Wissenschaftler*innen und Medien zugänglich – und damit auch die Akten zu 35 Jahren geheimpolizeilicher Arbeit im Ost-Berliner Tierpark.

 

Der Artikel ist eine gekürzte Version eines Beitrags, den der Autor im Rahmen seiner Tätigkeit beim Bundesarchiv veröffentlicht hat. Dort erschien er erstmals im Juni 2023 online unter dem Titel „Klassenkampf mit Brillenbär und Panda“ (letzter Zugriff: 26.09.2023).


 

[1] Vgl. Maier-Wolthausen, Clemens: Alphamännchen und hohe Tiere. Deutsch-deutsche Beziehungen in Tierpark und Zoo Berlin 1955-1991, Berlin 2022, S. 24, und Mohnhaupt, Jan: Der Zoo der Anderen. Als die Stasi ihr Herz für Brillenbären entdeckte und Helmut Schmidt mit Pandas nachrüstete, München 2017, 69 f.
[2] Vgl. Maier-Wolthausen, S. 17.
[3] Vgl. z. B. die Fotos der MfS-Verwaltung Groß-Berlin (ab 1977 Bezirksverwaltung Berlin) vom Besuch des Leiters der KGB-Regionalverwaltung Moskau, Viktor Iwanowitsch Alidin, im Jahr 1973: BArch, MfS, BV Berlin, Fo, Nr. 550, Bild 8-16, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).
[4] Vgl. Mohnhaupt, S. 127. 
[5] Vgl. ebd., S. 71 f.
[6] Vgl. BArch, MfS, WR Berlin, Nr. 25264, Bl. 27, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).
[7] Vgl. Maier-Wolthausen, S. 128.
[8] Vgl. BArch, MfS, AOP, Nr. 17683/62, Bd. 1, Bl. 24-33, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).
[9] Ein Bericht zur Zimmerdurchsuchung ist überliefert in: BArch, MfS, AOP, Nr. 17683/62, Bd. 1, Bl. 404-405, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).
[10] Vgl. z. B. BArch, MfS, AIM, Nr. 15440/81, Bl. 38, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).
[11] Die Verpflichtungserklärung ist in den IM-Akten zu Günther Rabe überliefert, vgl. BArch, MfS, AIM, Nr. 15440/81, Bl. 69, abrufbar in der Stasi-Mediathek (letzter Zugriff: 26.09.2023).