von Nikolai Okunew, Nils Theinert

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3. April 2020

Abgesehen von Streamingserviceprovidern, Online-Versandhäusern und Toilettenpapierherstellern gibt es in Zeiten einer globalen Pandemie nur für wenige Menschen Gründe, irgendetwas zu feiern. Dennoch wabert ein besorgniserregendes Phänomen durch die deutsche Medienlandschaft. Ein Phänomen, das suggeriert, dass einige unserer Mitbürger*innen die massiven Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung von Sars-Cov-2 in den Wind schlagen und feiern. In den Medien hat sich dieses Phänomen mit dem Begriff der „Corona-Party“ verbreitet.
Besonders in und vor der ersten Woche der Ausgangsbeschränkungen fanden sich aufgeregte Warnungen vor jenen Jugendlichen, die an der vernünftigen Entsagung des Zwischenmenschlichen nicht teilnähmen und so in unvernünftiger Weise zur Verbreitung des Virus beitrügen. Der Journalist Peter Pauls, ehemaliger Chefredakteur des Kölner Stadt-Anzeigers, unterstellte in seinem Kommentar im Deutschlandfunk manchen „gar unbarmherziges Kalkül: ‚Wir lassen uns doch nicht von denen, [...] der Risikogruppe, den Alten, den Spaß verderben. Weniger Alte, bedeutet das nicht auch mehr Rente für mich?‘ [...] Auch der Generationenkonflikt köchelt also im Hintergrund des Virusgeschehens.“[1] Allerdings sind die sogenannten „Corona-Partys“ schwerer nachzuweisen als die historische Tiefe der Empörungsstruktur.

Den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung jugendlicher Normabweichung, der Angst vor ihr und der disproportionalen Berichterstattung über sie ist in der Soziologie als „Moral Panic“ bekannt.[2] Die Anzahl der Panik auslösenden Fälle ist meist gering, ihre Wirkung in der Berichterstattung hingegen ungleich groß, wie ein kurzer Blick auf die Popgeschichte zeigt. Waren es in den 1950er Jahren die vermeintlich marodierenden „Halbstarken“ in Schwimmbädern, evozierten Mitte der 1960er Jahre die „Gammler“ in ost- und westdeutschen Innenstädten wütende Reaktionen. Obwohl schon zeitgenössische Schätzungen von einer verschwindend geringen Zahl von Jugendlichen ausgingen, hielt das Kommentator*innen in Politik – u.a. aus der CDU unter Kanzler Ludwig Erhard, sowie der NPD – und Medien nicht von Forderungen nach einem harten Durchgreifen gegen diesen Sittenverfall ab. Schlagerstar Freddy Quinn beschwor im Gegensatz zur vermeintlichen Mehrheit seiner Generation das anständige, hart arbeitende, pflichtbewusste und jugendliche „Wir“ der bundesdeutschen Gesellschaft: „Denn jemand muß da sein, der nicht nur vernichtet, […], sein Pensum verrichtet, zum Aufbau der morgigen Welt“.[3] Dabei sah man in der Bevölkerung das Ganze eher entspannt, wie Umfragen belegen.[4]

In den 1970er Jahren überschwemmte dann die „Drogenwelle“ die Medien der Bundesrepublik. Zeitgleich ging die Angst um, man verliere die Jugend an New-Age-Sekten, wären sie auf ihrer Weltflucht nicht vorher schon auf der „Rauschgiftstraße“ der Hippies nach Indien massenhaft verschütt gegangen.[5] Ausgehend von den USA verbreitete sich in den 1980er Jahren schließlich eine Welle der Angst vor Selbstmorden und satanischen Praktiken unter jugendlichen Heavy-Metal-Fans auch in der Bundesrepublik.[6]

All diese Debatten behaupteten ein klares Kausalverhältnis zwischen Alter und Delinquenz, rutschten immer weiter vom eigentlichen Untersuchungsgegenstand ab und konstruierten ein Bild des „Normalen“, das durch politische Maßnahmen bewahrt werden sollte. Mit Blick auf die derzeitige Berichterstattung und die eingangs zitierten Beispiele fallen Parallelen zu diesen älteren Paniken auf.

Zurück also ins Jahr 2020: Der Vize-Präsident des Robert-Koch-Instituts Lars Schaade warnte bereits Mitte März vor der Verlegung von Feiern vom Club in die Privatwohnung und damit vor „sogenannten Corona-Partys“[7]. Schließlich argumentierte der Shooting-Star der virologischen Podcast-Szene Christian Drosten auch deswegen für das Tragen von Atemschutzmasken, weil diese Menschen davon abhielten, „bei einer Corona-Party einen Schluck aus der Bierflasche zu nehmen.“[8] Auch in der Sprache der die Politik momentan bestimmenden Ministerpräsidenten ist der Begriff zu finden und stellt bereits ein Begründungsreservoir für weitere einschränkende Beschlüsse dar.[9] Allein der Begriff „Corona-Party“ aber vermag aufgrund seiner Unklarheit nicht zu überzeugen: Finden diese nun trotz oder wegen der Pandemie statt? Sind sie Ausdruck jugendlicher Selbstüberschätzung oder dienen sie der kollektiven Ansteckung? Ist jede Feier und soziale Zusammenkunft im deutschen März 2020 eine „Corona-Party“?

Die empirische Grundlage vieler Berichte ist, entsprechend der Struktur von Moral Panic, äußerst dünn. Auf subtile Weise wird das auch eingestanden: So setzen sowohl Journalist*innen als auch Polizist*innen „Corona-Party“ meist in Anführungszeichen, ohne klarzumachen, wer hier eigentlich wen zitiert. In München jedenfalls wollte die Polizei Mitte März keine „Corona-Partys“ bestätigen.[10] Das Jugendmagazin BENTO, sonst nur selten für investigativen Journalismus bekannt, machte sich die Mühe, bei der Kölner Polizei nachzufragen. Diese erklärte, man habe zwar die Bevölkerung durch die Verwendung des Begriffs sensibilisieren wollen, von „Corona-Partys“ aber aus den Medien erfahren.[11] Auch repräsentative Umfragen stellen bei der Wahrnehmung der Gefahr durch das Virus nur geringe Unterschiede zwischen den Altersgruppen 18–39 und 40–64 fest oder erfassen bei den erstgenannten größere Sorgen als beim Rest.[12]

In vielen Berichten wird das vermeintlich kollektive Verhalten der jugendlichen Partygänger*innen an den Idealen der Fridays-for-Future-Bewegung gemessen.[13] Hier steigert sich dann der Diskurs über die Festivitäten zu einem Generationenkonflikt: Nicht mehr die freitäglich kritisierten Älteren und Alten, so die WELT, haben sich in Verzicht zu üben, sondern nun endlich auch die veganen Nicht-Raucher*innen ohne Sozialversicherungsausweis.[14] Jüngst gesellte sich mancherorts noch die Forderung dazu, dass Studierende doch bei der Ernte helfen sollten, um die prekär beschäftigten osteuropäischen Tagelöhner*innen zu ersetzen. Hier begegnet uns das in der Informationsgesellschaft eigentlich ausrangierte Bild der vornehmlich Sozial- und Geisteswissenschaften studierenden Arbeitsscheuen. Der studierte Historiker, Germanist und innenpolitische Korrespondent der FAZ, Jasper von Altenbockum, befürwortete etwa den Arbeitseinsatz bestimmter Studierendengruppen, schränkte aber süffisant ein, „dass sich Soziologie-Studenten für schwere Landarbeit einfach nicht eignen. Geschweige denn zum Spargelstechen.“[15]

Diese nur behauptete Verbindungslinie zwischen Fridays for Future und den vermeintlich verantwortungslosen „Corona-Party“-Besucher*innen sowie die Darstellung Jugendlicher als arbeitsscheu und egoistisch erinnert in verblüffender Weise an die Fälle von Moral Panic in der deutschen Zeitgeschichte. Das unsichtbare Virus ist nun einmal kein glücklicher Sündenbock, sodass die Rede von der ominösen „Corona-Party“ und ihren rücksichtlosen Besucher*innen dankbar eine Lücke im Bedürfnis nach Schuldzuweisung füllt.

Die Berichterstattung hat sich derweil wieder beruhigt, nicht zuletzt weil sich die große Mehrheit unabhängig ihrer Alterskohorten an die medizinisch gebotenen Beschränkungen hält. Es braucht allerdings nicht viel Fantasie, um zu erahnen, dass bereits die Grundlage für ein Feindbild gelegt wurde, das in Zukunft mobilisiert werden könnte, wenn junge Menschen erneut auf die Straße gehen, um politische Forderungen zu stellen. In Erwägung, dass weder globale Pandemien noch der sie begünstigende Klimawandel[16] in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören werden, sollten empirisch stichhaltigere Argumente gefunden werden, wenn über diese Zukunftsaufgaben diskutiert wird. Moralisch aufgeladene Begriffsgespenster wie „Corona-Partys“ werden bei der Lösung der kommenden Herausforderungen nicht hilfreich sein. 

 


[1] Pauls, Peter, Corona in Deutschland. Das Ende der Komfortzone, gesendet im Deutschlandfunk am 21.03.20, 06:05 Uhr [Transkript], [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[2] Cohen, Stanley, Folk Devils and Moral Panics, London 1972.
[3] Zu den Halbstarken und Freddy Quinn besonders: Mrozek, Bodo, Jugend - Pop - Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin 2019, S. 319f und 683ff. Und zum Nachhören [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[4] Zum Phänomen der Gammler siehe: Siegfried, Detlef, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 399ff, insb. S. 411.
[5] Gemie, Sharif/Ireland, Brian, The Hippie Trail. A history, Manchester 2017, siehe auch: Rauschgift. Pudding bei Sigis, in: Der Spiegel Nr. 36/1972, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[6] Kahn-Harris, Keith, Extreme metal. Music and culture on the edge. Oxford, New York 2007.
[7] DPA, Bitte keine Corona-Partys!, in: Merkur vom 19.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[8] Hennig, Korinna, Coronavirus-Update. Masken können andere schützen [Transkript], in NDR Coronavirus-Update vom 23.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[9] Jerabek, Petr, Bayern verstärkt Gesundheitsämter. Einschränkungen für Hotels, in: BR-Nachrichten, vom 17.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[10] DPA, Polizei beendet „Corona-Partys“. Söder mahnt und droht, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.03.2020, [[zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[11] Petter, Jan; Eberle, Lukas, Die Wut auf Corona-Partys wächst – doch wie viele Feiern gibt es wirklich, in: Bento vom 20.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[12] Infratest Dimap, Corona-Virus: Sorge vor Ansteckung in zwei Wochen verdoppelt, Umfrage vom 17. und 18. März, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[13] Debionne, Philippe , Wütender Supermarkt-Chef macht Jugendlichen wegen Corona-Partys klare Ansage, in: Berliner Zeitung vom 21.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[14] Seyfaffarth, Moritz, Nun muss meine Generation Verzicht lernen und Größe beweisen, in: Die Welt vom 14.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[15] Jasper von Altenbockum: Katastrophe de Luxe? Studenten auf die Felder!, in FAZ.net am 20.03.2020, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].
[16] Pollack, Karin, Durch Klimawandel drohen Pandemien, warnen Experten, in: Der Standard vom 31.07.2018, [zuletzt abgerufen am 03.04.2020].