von Anne Fleckstein

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10. Mai 2014

Am 10. Mai 1994 wurde Nelson Rolihlahla Mandela als erster, von allen Südafrikanern frei gewählter Präsident vor den Union Buildings in Pretoria vereidigt. Trotz einer 1993 verabschiedeten neuen Interimsverfassung entsprach der Wortlaut des Eides erstaunlicherweise überwiegend dem Eid, der bereits 1983 von Pieter Willem  Botha und 1989 von Frederik Willem de Klerk abgelegt worden war. Lediglich ein kleiner Zusatz und eine Auslassung unterschied ihn: War die Apartheidsverfassung noch unweigerlich mit der Bindung an die göttliche Macht verknüpft gewesen, was sich in einer entsprechenden abschließenden Formel ausdrückte,[i] stand es Mandela nun frei, den Eid mit „So Help Me God“ zu beschließen. Dies war u.a. vor dem Hintergrund von Bedeutung, dass die Apartheids-Ideologie ihre Legitimation wesentlich von einem angeblichen Auftrag Gottes an die weiße Minderheit abgeleitet hatte, das von ihnen erschlossene Land zu führen und die von Gott unterschiedlich geschaffenen Menschen nicht zu vermischen.[ii] Der zweite Punkt, der sich unterschied, war unauffälliger, aber ebenso signifikant: Dort, wo Botha und de Klerk versprochen hatten, sich dem Wohlergehen der Republik und ihren Menschen zu widmen („to devote myself to the well-being of the Republic and its people“), unterstrich Mandela, dass er sich dem Wohlergehen aller Menschen der Republik widmen würde (“to devote myself to the well-being of the Republic and all its people”).[iii] Es war eine vorsichtige Abänderung der Worte, die zugleich eine Zäsur und eine Kontinuität markieren sollte. Denn dieser erste schwarze Präsident war zwar mehrheitlich gewählt, seine Partei, der African National Congress (ANC), saß aber vorerst in einer Einheitsregierung mit der vormaligen Regierungspartei der weißen Minderheit (National Party) und der Inkatha Freedom Party (IFP), deren Auseinandersetzungen mit dem ANC mitverantwortlich für die Gewaltausbrüche vor den Wahlen gewesen waren. Der Präsident und auch der Eid mussten Verbindlichkeiten nach allen Seiten schaffen, für die alten Machthaber ebenso wie für die neuen Kräfte. Doch nicht nur die Worte Mandelas signalisierten einen sanften Wandel. Es war vor allem die Geste, die ihn zum Präsidenten machte: seine erhobene Hand.
Als Mandela am 11. Februar 1990 aus dem Victor-Verster-Gefängnis in der Nähe von Kapstadt entlassen wurde, bereiteten ihm Anhänger und Journalisten einen beispiellosen Empfang. Vor dem Gefängnistor stieg er aus dem Auto, ging die letzten 100 Meter in die Freiheit zu Fuß an der Hand seiner Frau Winnie auf die jubelnde Menge zu – und machte die Bewegung, auf die alle gewartet hatten:

“When I was among the crowd I raised my right fist and there was a roar. I had not been able to do that for twenty-seven years and it gave me a surge of strength and joy.“[iv]

Mandela wurde daraufhin zum Rathaus in Kapstadt gefahren, wo eine noch größere Menschenmenge wartete. Auch hier ging Mandelas Hand in die Höhe:

“I raised my fist to the crowd and the crowd responded with an enormous cheer. Those cheers fired me anew with the spirit of the struggle. „Amandla!“ I called out. „Ngawethu!“ they responded. „iAfrika!“ I yelled; „Mayibuye!“ they answered.”[v]

Amandla – ngawethu! Die Macht – gehört uns! iAfrika – mayibuye! Afrika – lass uns zurückkehren![vi] Die erhobene Faust war im 20. Jahrhundert zu einer universalen revolutionären Geste und zum ikonischen Symbol des Widerstands der Befreiungsbewegungen geworden. Verbunden mit Call&Response-Rufen hatte sie die Kampfgefährten der schwarzen Widerstandsbewegung angefeuert und geeint. Die Faust konnte Aufruf zur Agitation sein, aber auch eine einigende Geste der Bezähmung der Massen oder des Gedenkens. Mandela selbst hatte die Amandla!-Faust während seiner legendären Gerichtsprozesse in den 1950er und 1960er Jahren als performative Protestgeste wesentlich geprägt.

Am 10. Mai 1994 erhob Mandela die Hand für alle, die gekämpft hatten und die nun eine Chance auf ein anderes Leben bekommen sollten, aber auch für jene, die die neue politische und gesellschaftliche Ordnung fürchteten. Ein Eid, so der italienische Philosoph Giorgio Agamben, basiere auf der temporären Eröffnung eines sakralen Raumes durch die Anrufung eines höheren Prinzips. Dieser Raum mache eine reziproke Autorisierung möglich: Der Vereidigte erkenne im Eid die vereidigende Institution an, während diese ihn in seinem Amt autorisiere.[vii] Bezeugt von nationalen und internationalen Gästen und Medien, bekannte sich Mandela im kaum abgeänderten Eid nicht nur zu Gott und zum Staat Südafrika; er rief auch jene Massen an, die in Solidarität stets die Hand gehoben und von denen viele ihr Leben im Kampf gelassen hatten. In der erhobenen Hand traten wie in keiner anderen Geste die zwei Körper des politischen Führers hervor:[viii] Mandela verkörperte das Volk, er war Afrika, das die Macht übernommen hatte und hier institutionell anerkannt wurde. Amandla ngawethu! Und gleichzeitig stand er selbst mit seinem gezeichneten Körper, seiner Person und seiner Biographie für die Wandlung, die sich in der geöffneten Hand als einer Geste der Befriedung und gleichzeitig des sanften Sieges ausdrückte. Mandela, derselbe, der zuvor die Hand zur Faust erhoben, der im Steinbruch auf Robben Island die Spitzhacke geschwungen und der die Hand seiner politischen Gegner geschüttelt hatte – seine Geschichte machte aus der zum Eid erhobenen flachen Hand eine geöffnete Faust. Hier fand die politische Transition ihre körperliche Entsprechung, im Eid als einem rite de passage. Kein anderer südafrikanischer Präsident vor oder nach ihm hat jemals diese integrative körperliche Kraft besessen.

 

 


[i] „May the Almighty God by His grace guide and sustain me in keeping this oath with honour and dignity, so help me God.“ Republic of South Africa Constitution Act No. 110 of 1983, Section 11.
[ii] Thompson, Leonard M.: The political mythology of Apartheid, New Haven 1985.
[iii] The Constitution. Interim Constitution (Constitution of the Republic of South Africa Act No. 200 of 1993), Schedule 3 (Kursivierung von A.F.).
[iv] Mandela, Nelson Rolihlahla: Long Walk to Freedom. The Autobiography of Nelson Mandela, Boston u.a. 1994, S.491.
[v] Ebd., S. 493.
[vi] Übersetzt aus isiXhosa/isiZulu.
[vii] Agamben, Giorgio: The Sacrament of Language. An Archeology of the Oath, Stanford 2011.
[viii] Vgl. Kantorowicz, Ernst, H.: The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology, Princeton 1997 (7. Aufl.).