Einhundertundelf Kilometer wäre der Turm hoch, würde man sie aufeinanderstapeln – die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dieses Bild verdeutlicht auf sehr beeindruckende Weise, was der Auftrag Erich Mielkes „[…] Wir müssen alles erfahren! Es darf an uns nichts vorbeigehen […]“[1] eigentlich bedeutete. Doch selbst dieser Aktenberg bildet nur einen Teil dessen, was Mielke als Leiter der „Stasi“ von 1957 bis 1989 jahrzehntelang vorangetrieben hat. So finden sich heute im Bestand des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (BStU) noch 30.000 Tondokumente, 2.888 Filme und Videos, 1,44 Millionen Fotos sowie 15.000 Säcke mit zerrissenem Aktenmaterial.
Dieses imposante Korpus bildet die Grundlage für die Dauerausstellung über die Geschichte der „Staatssicherheit“, die am 15. Januar 2011 von Bundespräsident Christian Wulff im Bildungszentrum der BStU in der Zimmerstraße 90/91 eröffnet wurde. Auf einer vergleichsweise kleinen Fläche von 260 qm bietet die Ausstellung einen Überblick über Arbeitsweise, Arbeitsfelder und „Zielobjekte“, über den Aufbau und die Struktur, über das Selbstbild und die Rolle sowie zur Entwicklung der „Stasi“. Deutlich hervorgehoben wird dabei der spezifische Charakter des MfS, das zugleich als innenpolitische Geheimpolizei, Ermittlungsbehörde und Auslandsnachrichtendienst operierte.
Betritt man den Ausstellungsraum, fallen sogleich drei, kontextuell klar voneinander getrennte Ebenen auf. In ihnen werden jeweils die Biografien betroffener Oppositioneller, die Geschichte des MfS und die Sphären des Aufeinandertreffens von Mensch und Geheimdienst dargestellt.Anhand sechs ausgewählter Biografien zeigt die Ausstellung, was Menschen dazu bewog, kritisch zu denken und zu handeln. Die Ausstellungsmacher konzentrieren sich in diesem Teil ganz auf Bürgerrechtler und Oppositionelle. Auf jene also, die über Jahrzehnte hinweg für Recht und Gerechtigkeit kämpften, sich dem Staatsapparat widersetzten und ins Fadenkreuz der Staatssicherheit gerieten.
Im Mittelpunkt der dargestellten Lebensläufe sind es vor allem einschneidende Situationen oder Schlüsselereignisse von außen, die den Weg in die „Unangepasstheit“ und Auflehnung markieren. Anstöße dafür gab es viele. Für Hermann Joseph Flade war es der Scheincharakter der ersten Volkskammerwahl der DDR, die ihn zu oppositionellem Handeln bewog. Ein weiterer Grund konnte etwa die in den 1960er Jahren auch in der DDR aufkommende „Beatlemania“ sein. Jugendklubs und Rockbands nach westlichem Vorbild boten einer rebellischen jungen Generation den Raum, das staatssozialistische Reglement in Frage zu stellen und zumeist lautstark Selbstbestimmung und -verwirklichung einzufordern. Auch die Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 und die darauf folgende Exmatrikulation von protestierenden Studenten verweisen auf die unterschiedlichen Wege, die zu Opposition und Widerstand führten.
Im Konzept der Ausstellung finden zwangsläufig jene Namenlosen, die vereinzelt aufbegehrten und die anschließend der repressive Druck der „Zersetzungsmaßnahmen“ oder eine mehrjährige Haft verstummen ließ, keine gesonderte Erwähnung. Schätzungen gehen von 170.000 bis 300.000 Menschen aus, die zwischen 1945 und 1989 in der SBZ/DDR seelischer und körperlicher Misshandlung im Zusammenhang mit politischer Verfolgung ausgesetzt waren. Eine Zahl, die der Ausstellungskatalog jedoch nennt.[2]
Eine zweite Ebene stellt, in grauen massiven Betonblöcken untergebracht, die Geschichte der Staatssicherheitsbehörde dar. In neun Unterpunkten wird über die Funktion und Struktur, die Methoden, die Allgegenwart, die „Hauptamtlichen“, die „Bruderorgane“, die „Westarbeit“, die „Inoffiziellen“ und das Ende des Apparats informiert. In jedem dieser neun Betonblöcke sind einige wenige Exponate ausgestellt, die erst aus unmittelbarer Nähe zu sehen sind. Intra muros scheinen sie dem Zugriff entzogen, dem Auge des Besuchers hinter Beton verborgen, um das konspirative, abgeschottete Wesen der Staatssicherheit zu betonen. Es sind die Hinterlassenschaften, die teils abstrusen Relikte des MfS: das Türschloss einer Zellentür, die Geruchskonserven, die Überwachungstechnik, die mit Wasserdampf geöffneten Briefe oder die Verpflichtungserklärung eines 17-Jährigen in Kinderkrakelschrift. In diesem Bereich erhalten die Besucher einen Eindruck von der Arbeit und dem Wesen des Geheimdienstes sowie von den vielfältigen Einsatzfeldern als Ermittlungsbehörde, die von der Auslandsspionage bis hin zur Kontrolle von Massenorganisationen und der planmäßigen „Zersetzung“ und Verhaftung von verdächtigen Bürgern reichte. All das schaffte ein militärisch organisierter und streng zentralistisch aufgebauter Apparat, dessen Anzahl an „Hauptamtlichen Mitarbeitern“ von knapp 2.500 im Jahr 1950 bis zu 91.000 im Jahr 1989 kontinuierlich anwuchs. Kaum Beschränkungen oder Kontrollen unterworfen, baute die „Stasi“ darüber hinaus ein dichtes Netz an Dienststellen und konspirativen Wohnungen auf, wie die Ausstellung zeigt.
Auch der Wandel in den Methoden, von offensiver Härte und Brutalität in den Anfangsjahren bis hin zu eher subtileren, konspirativen und präventiven Überwachungs- und „Zersetzungs“-Methoden, findet Erwähnung. Sehr deutlich illustriert die Ausstellung, dass die unbändige Informationssammelwut des Apparates nahezu schrankenlos war. Die Staatssicherheitsbehörde arbeitete eng mit staatlichen Einrichtungen zusammen und konnte so fast aller verfügbaren Unterlagen von DDR-Bürgern habhaft werden. Die operative Tätigkeit endete dabei nicht an der nationalen Grenze. Besonders aufschlussreich zeigt sich hier der Ausstellungsteil über die Zusammenarbeit mit ausländischen „Bruderorganen“, die in einer 1977 geschaffenen, gemeinsamen Datenbank der „Warschauer Pakt“-Staaten mündete. Im Inland freilich sicherte sich die Behörde den stetigen Fluss der Informationen durch die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), die als „wichtigste Waffe“ im Kampf gegen den „Feind“ galten. Die IM spielten vor allem in den Sphären des Alltags, die in einer dritten Ebene der Ausstellung dargestellt werden, eine zentrale Rolle.
Hier werden anhand großer Schiebetafeln und durch Monitore im „Bullaugen-Design“, in denen offizielle Filme, Schulungsvideos und Observationsaufnahmen zu sehen sind, sieben zentrale Alltagsbereiche vorgestellt: Jugend, Sport, Kultur, Reisen, Kirchen, Betrieb und die Nationale Volksarmee. Sie galten dem Staatssicherheitsdienst als vordringlichstes Betätigungsfeld der flächendeckenden Kontrolle. Ein jeder konnte beobachtet, abgehört, bespitzelt und notfalls verhaftet werden. Besonders dieser Teil der Exposition verdeutlicht das beängstigende Ausmaß der Eingriffsmöglichkeiten der „Stasi“ in die persönlichen Lebensbereiche, ja bis in das intimste Private hinein. Zu diesem Resümee kam auch Bundespräsident Christian Wulff in seiner Eröffnungsrede: Es sei erschreckend, wie die systematische Durchdringung der „Stasi“ in das Leben von Hunderttausenden gelang und mit welch perfiden Methoden sie Paare, Familien, Freundschaften, Karrieren und letztlich ganze Leben zerstört habe.[3]
Der Ausstellung ist ein reger Besucherstrom zu wünschen. Die Lage des Bildungszentrums, zwischen der „Topographie des Terrors“, Originalteilen der Mauer und dem Checkpoint Charlie, bietet den interessierten Besuchern darüber hinaus eine Rundschau deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts.[4] Dies zeigt auch die bewegte Vorgeschichte des Ausstellungsortes. Zwischen 1933 und 1945 diente das Gebäude in der Zimmerstraße zunächst als Büro für die Redaktion der NSDAP-Zeitung „Völkischer Beobachter“ und 1943 als Sammellager für Berliner Juden vor ihrer Deportation nach Auschwitz. Nach dem Ende des Nationalsozialismus war es zunächst Verlagsort des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“, und seit den 1960er Jahren erfüllte es als Quartier der DDR-Grenzposten am Todesstreifen seinen traurigen Zweck.[5]
Der Ausstellungskatalog enthält die Ausstellungstexte sowie Abbildungen sämtlicher Exponate und Dokumente. Er wird durch eine Aufsatzsammlung ergänzt, die von der „Westarbeit“ über die Frage „Was bedeutet es, ein Tschekist zu sein?“ bis zu „Opposition und Widerstand“ im Fokus der „Stasi“ weiterführende Fragestellungen aufgreift.
Leiterin des Ausstellungsteams: Gabriele Camphausen
Ort:Bildungszentrum der BStU, Zimmerstraße 90/ 91 10117 Berlin
Öffnungszeiten: Mo-So 10 – 18 Uhr, Feiertags geschlossen
Eintritt: frei
Führungen:nach vorheriger Anmeldung
Audioguides: in deutsch, englisch und französisch
Kontakt: Tel. 030 – 23247951, Email: bildungszentrum@bstu.bund.de
[1] Vgl. etwa: Jens Gieseke, Der Mielke-Konzern: Die Geschichte der Stasi 1945-1990, München 2006, S. 8.
[2] Die Schwankungen ergeben sich aus der immer noch schwierigen Diskussion über die Definition des Begriffs „Zersetzung“.http://www.fr-online.de/kultur/ohne-furnieraesthetik-und-nostalgieeffekte/-/1472786/6472300/-/index.html; Ausstellungskatalog
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/wulff-warnt-vor-ddr-verklaerung/3704492.html
[4] http://www.morgenpost.de/berlin/article1511221/Neuer-Lernort-zur-Stasi-an-der-Zimmerstrasse.html
[5] http://www.morgenpost.de/berlin/article1511221/Neuer-Lernort-zur-Stasi-an-der-Zimmerstrasse.html