von Bodo Mrozek

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1. August 2011

Der Text erschien erstmals im Feuilleton der „Welt“ am 10. August 2011.

Hochlodernde Flammen, vor denen sich die Schattenrisse behelmter Polizisten abzeichnen, flüssiges Feuer aus Wurfflaschen und zuckendes Blaulicht in der Nacht. Am nächsten Tag dann das, was man auf Englisch "the aftermath" nennt. "London wird nach dieser Nacht nicht mehr sein wie zuvor", erklärte ein Nachrichtensprecher vor der rauchenden Ruine eines Wohnhauses, das marodierende Jugendliche niedergebrannt haben. Wir befinden uns im Süd-London des Jahres 1981 inmitten jener Tage, die als die Brixton Riots in die britische Zeitgeschichte eingegangen sind.

Wie sich die Bilder gleichen. In Tottenham brannten vor wenigen Tagen erst ein Polizeifahrzeug, dann ein Bus und schließlich Wohnhäuser - genau wie einst in Brixton, 1981 und abermals 1985. Noch ist die endgültige Bilanz der Gewalt nicht abzusehen, aber der erste Tote ist schon zu beklagen. In Brixton zählte man damals rund 350 Verletzte und mehr als hundert ausgebrannte Fahrzeuge. Entzündet hatte sich eines der heftigsten Riots der Nachkriegszeit, fast wie heute, an Vorwürfen gegen die Londoner Polizei. Monatelang hatten Beamte auf offener Straße Jugendliche in einer Aktion gefilzt, die Drogendealer treffen sollte, von Schwarzen aber als purer Rassismus empfunden wurde. "You can crush us / You can bruise us / But you'll have to answer to / The guns of Brixton", hatte die Punkband The Clash kurz zuvor in einem Song skandiert, der danach wie eine Vorwegnahme der Ereignisse klang.

Dabei war der von weißen Beamtensöhnen wie dem Clash-Frontmann Paul Simonon eingespielte Punkrock sicher nicht die Musik der Randalierer. Die mehrheitlich afrokaribischen Protestierer dürften eher mit Ska-Stücken wie "Scandal in a Brixton Market" von Laurel Aitken aufgewachsen sein, die Älteren hatten vielleicht noch den Calypso von Aldwyn "Lord Kitchener" Roberts im Ohr, der so fröhlich "London is the place for me" gesungen hatte. Die Brixton-Riots waren gewalttätige Zäsuren, die derlei Optimismus zunächst einmal beendeten - nicht zum ersten Mal auf den britischen Inseln. Brixton 1981 und Tottenham 2011 haben eine lange Vorgeschichte.

Um sie zu verstehen muss man weiter zurückgreifen. Etwa bis zu den Frauen, die im Dezember 1880 eine Mühle in Gosden erstürmten und das Siebtuch des Müllers zerfetzten, um gegen ein ungeliebtes Mehlgesetz zu protestieren. Oder ins Jahr 1795, als ein Mob sich über Kornexporte nach Frankreich empörte und mit der Zerstörung von Kanälen und Hafenanlagen drohte. Und natürlich ins Jahr 1791, als die Londoner auf den Straßen tanzten, während sie die erste Kornmühle der Stadt niederbrannten. Selbst im ländlichen England waren gewaltsame Erhebungen so normal, dass der britische Sozialhistoriker E.P. Thompson sie in einem klassischen Essay als ein übliches Mittel im Aushandeln dessen beschrieb, was er die "moral economy" nannte. Thompson zufolge handelten "diese Männer und Frauen in dem Bewusstsein, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen", und konnten sich bei ihren Taten auf die breite Zustimmung des Gemeinwesens stützen. In dieser sittlichen Ökonomie gab es ein Bewusstsein darüber, was legitim war, vor allem aber darüber, was Unrecht war - auch wenn es in Gesetzesform daherkam.

Doch nicht nur Hungernde griffen regelmäßig zum Knüppel. In den Gordon Riots von 1780 protestierten die protestantischen Londoner gegen ein katholikenfreundliches Gesetz und zündeten ihre Stadt an. Schon damals mischten sich Hooligans und Taschendiebe unter die Protestierer und attackierten die Banken. Man muss nicht so weit gehen wie Clive Bloom, der seine blutige Stadtgeschichte "Violent London" als eine zweitausend Jahre währende Aneinanderreihung von Rebellionen darstellt. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert kam es jedoch zu einer Verschärfung der innerstädtischen Konflikte. Hatte noch im 17. Jahrhundert Soldaten, die auf die eigene Bevölkerung schossen, die Anklage wegen Mordes gedroht, wenn sich das Opfer als unschuldig erwies, so legitimierte der riot act von 1715 den Schusswaffengebrauch. Die Bilanz der Gordon Riots war dann auch verheerend: Als der Aufstand am "schwarzen Mittwoch" niedergeschlagen war, lagen 210 Tote auf den Straßen von London.

Waren die Aufstände des 19. Jahrhunderts oftmals politisch motiviert, so brachte das 20. Jahrhundert den neuen Typus der race riots hervor. Seit den anti-irischen Aufständen des 18. Jahrhunderts, die als erste ethnisch motivierte Unruhen in England gelten, traten an die Stelle der vertikalen Spannungen zwischen Herrschern und Beherrschten nun zunehmend horizontale Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, oftmals zwischen den Besitzlosen selbst. Die Dekolonialisierung des Empire hatte Wanderungsbewegungen zur Folge, die neue Gruppen in die Großstädte brachten. Anfang der Fünfzigerjahre waren Migranten von den West-Indies auf die britischen Inseln eingewandert, ab 1954 zu Zehntausenden. Drei von vieren gingen nach London.

Das Zusammenleben zwischen den neuen Minderheiten und den traditionell Unterprivilegierten der britischen Klassengesellschaft verlief zunächst unproblematisch, wie zahlreiche Eheschließungen bewiesen. Zur Zäsur geriet das Jahr 1958. Am Abend des 23. August kam es in Nottingham zu einem Streit zwischen einem Schwarzen und einem Weißen, der sich zu einer Massenschlägerei mit 1500 Teilnehmern auswuchs. Flaschen flogen, Messer wurden gezogen, und die Polizei musste Schwarze aus dem Kampfgebiet heraus eskortieren. Kurz darauf spielten sich ähnliche Szenen im Londoner Stadtteil Notting Hill ab. Mehrere Wochen lang kam es immer wieder zu pogromartigen Szenen, die der Schriftsteller Colin MacInnes 1959 in seinem Roman "Absolute Beginners" eindrücklich schilderte.

Nach internationaler Kritik machte man in Großbritannien eilig eine an amerikanischem Rock'n'Roll und dandyhafter Mode orientierten Jugendkultur für die Ausschreitungen verantwortlich, die so genannten Teddy Boys. Ein Muster, das sich bis heute wiederholt. Spätere Studien ergaben jedoch, dass rassistische und neo-faschistische Organisationen zum Rassenhass aufgestachelt hatten und überdies Hunderte Erwachsene an den Übergriffen beteiligt waren. Diese offenkundig rassischen Konflikte wurden in England durch eine segregierende Wohnungsbaupolitik verschärft. Am Rande der Städte des postkolonialen Großbritanniens waren neue Kolonien entstanden, in deren "Estates" die Ärmsten der britischen Gesellschaft mit den neu Eingewanderten auf engem Raum zusammengesiedelt wurden.

Es sind diese Bezirke, in denen bis heute immer wieder spontane Gewalt ausbricht. Berichten zufolge lag das Epizentrum dessen, was als Tottenham Riots begann, sich aber rasant auf andere Städte ausbreitete, in der Nacht zum Dienstag in den Pembury Estates im ebenso armen wie hippen Bezirk Hackney. Betroffen sind auch die zunehmend bei jungen Fondsmanagern für den Eigenheimkauf beliebten Ausgehbezirke Bethnal Green und Dalston, traditionell die Heimat schwarzer und pakistanischer Migranten. Ebenso Handsworth, Birmingham und die notorischen Ecken von Liverpool. Und auch das inzwischen milde gentrifizierte, im Kern aber noch immer tiefschwarze Brixton ist abermals Ort gewalttätiger Proteste

Man mag mit Recht darauf verweisen, dass die Übergriffe auf Discounter wie Tesco, ein Möbelgeschäft in Croydon oder eine lokale Bäckerei in Peckham keiner moral economy mehr folgen, sondern schlicht Kriminalität und Plünderei sind. Man wird nun höchst gegenwärtige Probleme einer von Korruption gebeutelten, kopflosen Polizeibehörde diskutieren, den entfesselten Immobilienmarkt kritisieren, und die Bildungs- und Sozialkürzungen in den betroffenen Vierteln in Frage stellen. Aus historischer Perspektive aber führen die Ereignisse dieser Tage schmerzlich vor Augen, dass urban riots auch im 21. Jahrhundert ein integraler Bestandteil britischer Geschichte bleiben. Zeitgeschichte, so das bekannte Bonmot einer amerikanischen Historikerin, ist Geschichte, die noch raucht. In Großbritannien brennt sie gerade lichterloh.