Eine Globalgeschichte Frankreichs
Im Januar 2017 ist unter der Leitung von Patrick Boucheron, Mediävist und Professor am Collège de France, ein Sammelband über die „Weltgeschichte Frankreichs” erschienen, zu dem rund 120 KollegInnen beigetragen haben. Die Verwendung des auf das 19. Jahrhundert zurückreichenden Begriffs der „Weltgeschichte“ soll nicht etwa den Leser in die Irre führen. Es geht nicht darum, Frankreich mit anderen Regionen der Welt zu vergleichen oder das Narrativ von Frankreich als Weltmacht auszubauen, sondern darum, die globalen Dimensionen dieses Landes im Sinne von grenzüberschreitenden Verflechtungsbeziehungen zu betonen.
Dieses Werk strukturiert sich anhand von 146 Zeitpunkten (von 34 000 v. Chr. über 1539 und 1940 bis in die Gegenwart), die als historische Momentaufnahmen in Form knapper Kapitel eine Geschichte der globalen Verflechtungen und der globalen Integration Frankreichs widerspiegeln sollen. Trotz des chronologischen Ansatzes greift der Band hierbei auf die Tradition der Annales-Schule zurück, in der jedes Ereignis in langfristige historische Entwicklungen einbezogen und in der dezidiert auf einen „Herkunftsmythos“ Frankreich verzichtet wird.
Mit seiner starken und tendenziell positiven Resonanz in den Medien[1], 80 000 bereits verkauften Exemplaren und zwei Neuauflagen, ist dieses Werk innerhalb von drei Monaten in jederlei Hinsicht zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Wie lässt sich diese eher unerwartete „Success Story“ eines 800-seitigen Geschichtsbuchs erklären?
Ein Plädoyer für ein pluralistisches Konzept der Nationalgeschichte
Dieser Band ist ein klares Plädoyer für eine offene, verflochtene Geschichte Frankreichs und gleichzeitig ein intellektuelles Bollwerk gegen alle publizistischen Unterfangen (etwa von Eric Zemmour, Jean Sévilla, Lorant Deutsch), die nationale Meistererzählungen („roman national“) vertreten. In seinem Vorwort macht Patrick Boucheron diese intellektuelle Agenda explizit: „Die öffentliche Debatte über Frankreich und seine Geschichte ist verengt auf die Frage nach der nationalen Identität. Dem wollen wir ein pluralistisches Konzept der Geschichte entgegenstellen. Wir wollen den reaktionären Kräften das Monopol streitig machen, die Landesgeschichte mitreißend zu erzählen.”[2]
Ohne ihn zu zitieren, liegt es doch auf der Hand, dass Boucheron den berühmten und provokanten Satz von C. A. Bayly – „Alle Historiker sind heutzutage Welthistoriker“[3]– als neues Paradigma für die französische Geschichtswissenschaft durchsetzen will. Er plädiert für einen Abschied von einer Nationalgeschichte als „Geschichte in sich abgeschlossener Räume“[4]. Das Buch ist unter die geistige Schirmherrschaft des französischen Historikers des 19. Jahrhunderts Jules Michelet gestellt, dessen Zitat das intellektuelle Projekt des Bandes zusammenfassen soll: „Die Weltgeschichte wäre nicht zu viel, um Frankreich zu erklären“ („Ce ne serait pas trop de l’histoire du monde pour expliquer la France“).
Ein politisches Projekt
Dieses Buch spiegelt gleichzeitig das zunehmende Interesse französischer HistorikerInnen für die Globalgeschichte und das „französische Zuspätkommen“ im Vergleich zu anderen Historiographien wie der deutschen wider.[5] Es ist aber mehr als ein reines Plädoyer gegen den methodologischen Nationalismus, was nicht sonderlich innovativ wäre, sondern es versteht sich in erster Linie als ein „politisches Projekt“ (Boucheron). Im Kontext des Sumpfes der aktuellen Wahlkampagne – gekennzeichnet von Affären, Polizeigewalt gegen Franzosen mit Migrationshintergrund und Radikalisierung des politischen Feldes – verteidigen die HistorikerInnen um Patrick Boucheron das Modell eines offenen und verflochtenen Frankreichs gegen alle konservativen und rechtsextremen Diskurse, die ein ethnisch wie kulturell homogenes Frankreich fordern.[6] Diese klare politische Linie hat in der sonst eher friedvollen französischen Geschichtswissenschaft eine Polemik ausgelöst. Tatsächlich geht die letzte heftige Debatte an der Schnittstelle von Politik und Geschichte auf das 1997 von Stéphane Courtois veröffentlichte „Schwarzbuch des Kommunismus“ zurück. In den letzten Jahren haben die Rechten zwar immer wieder Polemiken ausgelöst, etwa um das koloniale Erbe Frankreichs oder die Einrichtung eines „Hauses der Geschichte Frankreichs“, ohne jedoch die französische Geschichtswissenschaft zu spalten.
Der Streit zwischen den Alten und den Modernen
Messerscharfe Kritik kam von einem Nestor der französischen Zeitgeschichte und international anerkannten Historiker Frankreichs, Pierre Nora, Herausgeber der Erinnerungsorte. Seine Kritik wurde Ende März 2017 im Traditionsblatt der französischen Linksintellektuellen L’Obs öffentlich gemacht.[7] Der „Regisseur der Erinnerung“ (Ulrich Raulff) zieht die Notbremse und beschuldigt Boucheron, hinter einem wissenschaftlich fundierten Buch ein rein politisches Gebot versteckt zu haben. Am Beispiel des Artikels über die Chauvet-Höhle[8] stellt Nora die Idee einer Kontinuität zwischen den „ersten Migranten“ auf französischem Boden und den heutigen Sans-Papiers an den Pranger. Er wirft Boucheron vor, alle vorherigen Geschichten Frankreichs für ungültig zu erklären, als ob sich diese Werke in einer „archaistischen und provinziellen Autarkie“ festgefahren hätten, ohne die restliche Welt in Betracht zu ziehen. Diese Kritik ist selbstverständlich als Reaktion auf die Position Boucherons zu sehen, die indirekt zu suggerieren scheint, dass das Werk von Nora selbst Teil dieser archaistischen Historiographie sei. Über diesen Vorwurf hinaus kritisiert Nora vor allem die politische Dimension des Projekts: Boucheron sei der neue „Geschichts-Bourdieu“ am Collège de France und habe die Geschichtswissenschaft in Geiselhaft genommen, weil er der Politik und nicht der Wissenschaft den Vorrang gebe. Noras Kritik geht so weit, dass er Boucheron bezichtigt, sich auf alternative historische Daten (in Anspielung an Fake News) statt kanonische Fakten zu stützen. Er kommt zu dem Schluss, dass Boucheron das „Ende einer gemeinsamen Wahrheit als Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft“ besiegle.
Diese gravierende Schuldzuweisung – Boucheron sei ein Ideologe, kein Historiker – spiegelt einen politischen Streit zwischen Alten und Modernen in Frankreich wider. Pierre Nora mit seiner Zeitschrift Le Débat und seine Zugehörigkeit zur Académie Française vertritt die Alten im Sinne einer konservativen Geschichtswissenschaft, die fest an die wissenschaftliche Objektivität, eine strikte Trennung zwischen Erinnerung und Geschichte und die Realität historischer Fakten glaubt. Diese erkenntnistheoretische Position geht Hand in Hand mit einer politisch konservativen Haltung. Rückblickend kann man Noras Erinnerungsorte als ein nostalgisches Erinnerungsprogramm an ein verlorengegangenes Frankreich deuten, nämlich das Frankreich der Dritten Republik, der Bauernschaft und der Assimilierung. Die Modernen hingegen sind derzeit vor allem im Collège de France vertreten, nicht nur mit Patrick Boucheron, sondern auch mit anderen Intellektuellen wie Bénédicte Savoy. Die Internet-Zeitschrift La vie des Idées bietet eine Plattform für die Verbreitung ihrer Ideen. Boucheron (und mit ihm HistorikerInnen wie Romain Bertrand oder Leyla Dakhli) vertritt eine konstruktivistische, nicht-eurozentrische und postkoloniale Position, wo Dezentrierung und Multiperspektivität zentral für die Interpretation der Vergangenheit sind.
Globalgeschichte als politisches Projekt
Ein Teil der französischen Geschichtswissenschaft um Patrick Boucheron sieht Globalgeschichte bewusst nicht nur als wissenschaftliches, sondern auch als politisches Projekt an. Hierbei hat Globalgeschichte ein doppeltes emanzipatorisches Potenzial: Sie soll das globale Bewusstsein der Franzosen stärken und die Idee einer offenen Gesellschaft erhalten.
Dieser französische Historikerstreit um die Weltgeschichte Frankreichs ist gleichzeitig ein generationeller und ein politischer Kampf, der parallel zur Wahlkampagne läuft. Er verdeutlicht die Lebendigkeit der Ideendebatte und beweist einmal mehr, dass sich WissenschaftlerInnen dringender denn je in der zivilgesellschaftlichen Arena engagieren sollten. In Anlehnung an den berühmten Satz von Georges Clemenceau, Politiker der Dritten Republik – „Der Krieg ist viel zu wichtig, um ihn dem Militär anzuvertrauen” –, könnte man sagen, dass das Politische viel zu wichtig ist, um es der Politik anzuvertrauen.
Außerdem Informationen zu den bevorstehenden Wahlen in Frankreich:
Agathe Mareuge, Warum die „nützliche Stimme“ schädlich ist. Vor den Wahlen in Frankreich, in: Geschichte der Gegenwart vom 19.4.2017
Ronja Kempin, Der Front National – eine feste politische Größe in Frankreich, in: bpb vom 30.3.2017
[1] Die linksliberale Tageszeitung Le Monde spricht von einem „frischen Wind“, und die katholische Tageszeitung La Croix lobt eine „reiche und gelehrte Weltgeschichte“.
[2] P. Boucheron, Histoire mondiale de la France, Paris 2017, S. 7.
[3] C. A. Bayly, The Birthofthe Modern World 1780-1914, Oxford 2004, S. 469.
[4] S. Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013, S. 7.
[5] C. Douki, Ph. Minard, «Histoire globale, histoires connectées: un changement d'échelle historiographique? Introduction», Revue d’histoire moderne et contemporaine, 5/2007 (n° 54-54 bis), S. 7-21.
[6] Für den Fall Deutschlands, s. den erbaulichen Essay von M. Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017.
[7] P. Nora, «Histoire mondiale de la France: Pierre Nora répond à Patrick Boucheron», L’Obs, n°2 734, 30.03.2017, S. 68-69.
[8] Die 1994 entdeckte Höhle gehört zu den weltweit bedeutendsten Fundstätten mit Höhlenmalereien aus dem Jungpaläolithikum (18 000 – 12 000 v. Chr.), die zu den ältesten Felszeichnungen der Welt zählen.