von Diana Bogishvili

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26. Mai 2021

Die kommunistische Partei Georgiens wurde am 28. Oktober 1990 durch freie Wahlen abgelöst, die Regierungsverantwortung  ging an die bisherige Oppositionskoalition „Runder Tisch/Freies Georgien“ über. Am 31. März 1991 fand in Georgien ein Referendum statt, bei dem die Bevölkerung abstimmen sollte, ob die staatliche Unabhängigkeit Georgiens auf der Grundlage des Unabhängigkeitsgesetzes vom 26. Mai 1918 wiederhergestellt werden sollte.[1]
Mehr als 90 Prozent der Bürger*innen nahmen an diesem Referendum teil, fast 99 Prozent der Teilnehmenden beantworteten die Frage mit „ja“. Daraufhin wurde am 9. April 1991 schließlich das Gesetz zur Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Georgiens verabschiedet.

Es ist nun dreißig Jahre her, dass Georgien seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat. Allerdings sind die sozioökonomischen und politischen Folgen der siebzig Jahre andauernden Sowjetherrschaft bis heute zu spüren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebten alle postsowjetischen Republiken schwere Zeiten. Lediglich die Republiken, in denen es keine bewaffneten Konflikte gab, konnten die wirtschaftliche Transformation einigermaßen erfolgreich meistern. Infolge des Staatsstreichs von 1991-1992 kam es innerhalb von zwei Jahren in Georgien zu einem Bürgerkrieg und mehreren bewaffneten Konflikten. Auf den vollständigen Zusammenbruch des politisch-rechtlichen Systems des Staates folgte eine Lähmung des Wirtschaftssystems. Fabriken wurden geschlossen, geplündert und zerstört. Die Arbeitslosigkeit stieg stark an. Die Menschen erhielten monatelang kein Gehalt und keine Rente. Die Bevölkerung wurde jahrelang nicht mit Erdgas versorgt. Den Strom bekamen hauptsächlich die Großstädte – und das nur für zwei bis drei Stunden am Tag. Gewalt, Diebstähle und blutige Auseinandersetzungen gehörten zum Alltag.

Seit der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre verbesserte sich die Situation in Georgien ein wenig. Jedoch blieb die hohe Korruptionsrate in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen bestehen. Im Jahr 2003 fand in Tiflis die Rosenrevolution statt, gefolgt von radikalen Reformen. Infolge des fünftägigen Georgien-Russland-Krieges im August 2008, wurden zwanzig Prozent des georgischen Territoriums von Russland besetzt, eine Besatzung, die bis heute anhält.

So hat Georgien nach der Unabhängigkeitserklärung mehrere Phasen politischer Krisen erlebt. Das führte unter anderem zu großen Migrationswellen. Laut der Volkszählung von 1989 lebten in Georgien ungefähr 5,4 Mio. Menschen. Innerhalb von drei Jahren verringerte sich die Bevölkerungszahl auf 3,991 Mio. Einwohner*innen. Die letzte Volkszählung im Jahr 2014 zeigte eine weitere Reduktion der in Georgien lebenden Menschen auf 3,716. Mio. Die ethnisch russische Bevölkerung bildete nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Gruppe der Migrant*innen. Auch der Anteil der ethnischen Armenier*innen sank in dieser Zeit von 8,1 Prozent auf 4,4 Prozent. In den 1990er-Jahren stellten ethnische Georgier*innen die größte Bevölkerungsgruppe dar, die auswanderte. Die ethnischen Aserbaidschaner*innen bildeten die kleinste Gruppe jener, die Georgien den Rücken kehrten.
 

Laut Transformationsindex der Bertelsmannstiftung von 2018 sorgte zu Beginn der 1990er-Jahre die allmähliche Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklung nicht für spürbare Verbesserungen der Beschäftigungslage in Georgien. Das United Nations Development Programme (UNDP) bescheinigte Georgien, im Jahr 2017, den Status eines Landes mit hoher Entwicklung erreicht zu haben (HDI-Wert 0,799 und damit den Rang 76 von 187).[2] Für die Bertelsmann-Forscher*innengruppe war es allerdings rätselhaft, dass sich diese Verbesserung nicht in der Entwicklung des sozialen Bereichs wiederspiegelt. Der Übergangsbericht der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE 2016) attestierte Georgien eine unterdurchschnittliche Entwicklung in Bezug auf Inklusion und soziale Mobilität.[3] Auch die soziale Ungleichheit zeichnet sich deutlich durch eine sehr hohe Einkommensungleichheit ab (der Gini-Koeffizient in 2019 lag bei 40 Prozent) und die Armutsquote ist von Region zu Region sehr unterschiedlich.[4] Die Arbeitslosenquote in Georgien ist trotz eines langsamen Rückgangs immer noch hoch. Im Jahr 2018 lag die Arbeitslosigkeit bei 12,7 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten wird vorrangig durch Selbstständige gebildet, die vor allem in der Landwirtschaft arbeiten. Entsprechend ist die Arbeitslosigkeit in der Stadt höher (19,3 Prozent) als auf dem Land (5,8 Prozent).[5] Die Staatliche Rente beträgt nur 240 GEL (umgerechnet 60 Euro).[6] Dies ist etwas höher als das im März 2021 ermittelte Existenzminimum für einen Mensch im erwerbsfähigen Alter, das 201 GEL (umgerechnet 50 Euro) betrug. Gleichzeitig wurde die Landeswährung in den letzten neun Jahren gegenüber dem Dollar um 100 Prozent abgewertet. Die Armutsquote blieb in den letzten sechs Jahren unverändert. Haushalte mit Kindern sind eher von Armut betroffen und Familien mit drei oder mehr Kindern sind doppelt so häufig arm wie ein Haushalt ohne Kinder (UNICEF, 2018).[7] Zu den Ursachen sozialer Ausgrenzung gehören vor allem niedrige Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit und ein mangelnder Zugang zu Gesundheitsversorgung.

Im Juni 2014 unterzeichneten die EU und Georgien ein Assoziierungsabkommen, das am 1. Juli 2016 in Kraft trat. Das Assoziierungsabkommen zielt auf eine Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und Georgien, unter anderem durch die Errichtung einer Freihandelszone (DCFTA). Zudem hat der Rat der EU am 27. Februar 2017 eine Verordnung verabschiedet, mit der georgische Staatsangehörige bei Reisen in die EU von der Visumpflicht befreit werden, sofern sie sich in einem Zeitraum von 180 Tagen längstens 90 Tage in der EU aufhalten. Das Assoziierungsabkommen (AA) wird von der Assoziierungsagenda (zwischen EU und Georgien) begleitet und ist ein detaillierter Entwurf für Reformen, die in den darauf folgenden Jahren von Georgien durchgeführt werden sollten. Auf die Parlamentswahlen im Jahr 2020 folgte ebenfalls eine lange politische Krise. Für dringend nötige Verhandlungen zur Entspannung der Konflikte zwischen der Regierung und der Opposition, wurde die Vermittlung durch den Präsidenten des Europäischen Rates und die US-Botschafterin erforderlich.
 

Derzeit befindet sich Georgien in einem langwierigen Transformationsprozess, der weitreichende Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft mit sich bringen soll. Diese Veränderungen reichen von der Einführung neuer Produktionsmodelle und einem veränderten Konsumverhalten, über rechtliche Konzepte, neue Organisationsformen bis hin zu Veränderungen der sozialen und kulturellen Einstellung der Bevölkerung. So steht Georgien aktuell und auch künftig vor besonders komplexen Herausforderungen, die dringend bewältigt werden müssen, wenn sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse den europäischen Standards angleichen sollen.

 


[1] Am 26. Mai 1918 hat die georgische demokratische Republik Georgiens Unabhängigkeitserklärung beschlossen, jedoch war die Zeit der ersten Republik von kurzer Dauer, da im Jahr 1921 Georgiens volle Besetzung und Annexion seitens des Sowjetrusslands stattgefunden hat.

[2] Der "Human Development Index (HDI)" ist eine Messzahl für den Entwicklungsstand eines Landes und setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Lebenserwartung, Ausbildung und Kaufkraft. Die UNDP unterteilt die Länder nach dem HDI-Wert seit 2009 in vier Entwicklungskategorien: HDI ≥ 0,800: Länder mit sehr hoher menschlicher Entwicklung. HDI ≥ 0,700: Länder mit hoher menschlicher Entwicklung. HDI ≥ 0,550: Länder mit mittlerer menschlicher Entwicklung. 

[3] European Bank for Reconstruction and Development. Transition Report 2016-17. Countries: Georgia.

[4] National Statistics Office of Georgia.

[5] National Statistics Office of Georgia.

[6] Der aktuelle Wechselkurs von 1. Euro in georgische Währung sind 4,15 Lari.

[7] UNICEF, June, 2018: The Welfare Monitoring Survey 2017