Die Folgen des Vietnamkrieges für die amerikanische Gesellschaft sind – nicht zuletzt durch die langjährige Beschäftigung Hollywoods mit der Thematik – auch in Europa allgemein bekannt: die Desillusionierung einer Generation, traumatische Gewalterfahrungen der Soldaten, die Diskreditierung von Militär und Regierung und schließlich die Infragestellung der eigenen imperialen Außenpolitik.[1] Weit weniger bekannt sind die Auswirkungen des Afghanistanfeldzuges auf die sowjetische Gesellschaft. Dabei stellten schon die Zeitgenossen in den achtziger Jahren zahlreiche Parallelen zwischen den Erfahrungen amerikanischer und der sowjetischer Kriegsveteranen fest. In beiden Staaten stand der Krieg am Beginn einer Liberalisierung der Gesellschaft. Im sowjetischen Fall endete der Krieg mit dem Beginn des Zerfalls des Imperiums.
Im Jahr 1979 hatte sich die überalterte und nur noch bedingt handlungsfähige sowjetische Führung sehr zögernd zum Einmarsch ins Nachbarland entschieden. Die alte Garde im Kreml fürchtete sich vor den kaum absehbaren Folgen und misstraute mit einigem Recht ihren Genossen in Kabul. Diese hatten versucht ihr Land gewaltsam in die kommunistische Moderne zu zwingen und bereits vor dem Einmarsch der sowjetischen Armee große Teile der afghanischen Bevölkerung durch Sowjetisierungskampagnen gegen sich aufgebracht. Der afghanische Parteistaat befand sich in Auflösung und die Einheitspartei war in verfeindete Lager zerfallen als die sowjetische Armee in Kabul landete. Tatsächlich glichen die Provinzen und große Teile der Hauptstadt Kabul bereits einem Gewaltraum (Wolfgang Sofsky), in dem keine moderne Staatlichkeit mehr existierte. Die sowjetische Armee kämpfte vom ersten Tag an einen asymmetrischen erbarmungslosen Krieg gegen die afghanischen Partisanen.
Die Erforschung dieses Krieges und seiner Folgen gibt nicht nur Auskunft über die Tragödie des zentralasiatischen Landes.[2] Sie erlaubt auch Einblicke in den Spätsozialismus sowjetischer Prägung. Denn Hunderttausende – Soldaten, Spezialisten, Ärzte und Krankenschwestern – dienten in Afghanistan und brachten ihre im Krieg gewonnenen Erfahrungen zurück in die Heimat. Sie gingen als Wehrdienstleistende oder als Freiwillige in den Krieg und machten Erfahrungen, die ihren Blick auf die eigene Gesellschaft und deren Institutionen nachhaltig veränderten und die Legitimität der sowjetischen Herrschaftspraxis beschädigten. Denn jeder Kriegsteilnehmer brachte das Wissen um eine exzessive und schrankenlose Brutalität mit, die den Krieg in Afghanistan von Anfang an kennzeichnete.
Die sowjetische Führung hatte ihre Intervention im Dezember 1979 mit den „internationalistischen Verpflichtungen“ gegenüber Afghanistan begründet. Was heute als zynische Ausrede für ein machtpolitisches Abenteuer gelesen wird, wurde Ende der siebziger Jahre von vielen sowjetischen Bürgern als Aufforderung zu internationaler Solidarität verstanden. Die Erziehung zu „Solidarität und Völkerfreundschaft“ war an der jungen Generation, die in der Brezhnev-Ära sozialisiert wurde, nicht spurlos vorübergegangen. Zahlreiche Veteranen berichteten rückblickend, dass sie sich mit dem Auftrag der Parteiführung sehr wohl identifizierten. So erklärte etwa ein sowjetischer Major: „Ich ging voller Enthusiasmus nach Afghanistan. Ich dachte, dass ich dort etwas Nützliches tun könnte.“[3] Ähnliche Einstellungen waren auch bei sowjetischen Krankenschwestern, die sich freiwillig gemeldet hatten, zu finden. Eine junge Moskauerin erinnerte sich, dass sie ebensolche Erfahrungen machen wollte, wie sie die Älteren ihrer Meinung nach in den propagandistisch hoch aufgeladenen sozialistischen Großprojekten gemacht hatten: „Ich hatte ja schon die BAM[4] und das Neuland-Projekt[5] versäumt. Doch nun gab es zum Glück Afghanistan. […] Ich war ein normales Moskauer Mädchen, ein wenig ein Bücherwurm. Und nun wollte ich ein Abenteuer erleben und aus dem Alltag ausbrechen“.[6] Wahrscheinlich war dieser Idealismus eher die Ausnahme als die Regel. Das Gros der sowjetischen Truppen in Afghanistan bestand aus Wehrpflichtigen, die keine andere Wahl hatten als in den Krieg zu ziehen. Doch auch für sie galt, dass sie kaum auf das vorbereitet waren, was sie jenseits der Grenze erwartete. Und auch ihr Bild des eigenen Landes und der eigenen Armee veränderte sich im Krieg nachhaltig.
Durch die gesamte sowjetische Erinnerungsliteratur an den Afghanistan-Krieg zieht sich das Moment der vollkommenen Überraschung und des Entsetzens über die Situation, die die Protagonisten im Land vorfanden. Was in der sowjetischen Öffentlichkeit bis zur Glasnost der späten achtziger Jahre als Hilfsmission beschrieben wurde, entpuppte sich als Krieg ohne Fronten. Ein Krieg der nicht zu gewinnen war und der von Kriegsverbrechen, Folter, Gefangenenmord und Massakern auf beiden Seiten gekennzeichnet war. Für die sowjetischen Soldaten war Afghanistan ein Raum, in dem Gewalt zur wichtigsten sozialen Ressource wurde und für alle sowjetischen Bürger war es - mit Ausnahme weniger Oasen - Feindesland. Die Tagebücher und Erinnerungen beschreiben, wie schnell man sich an diese Bedingungen anzupassen hatte, wollte man überleben. So schrieb ein Rekrut, der im Laufe des Jahres 1980 an den Hindukusch verlegt wurde in sein Tagebuch: „Was hier passiert jagt mir Todesangst ein […]. Die Angriffe auf uns gehen weiter und die Mudschaheddin verfügen über Granatwerfer. Die Lage ist nicht die beste, doch die Zeitungen schreiben vom Aufbau des Sozialismus in Afghanistan.“[7]
Die Soldaten waren weder auf die Kampfeinsätze, noch auf deren Härte vorbereitet. Beide Seiten machten in der Regel keine Gefangenen. Übergriffe auf Verwundete und Zivilisten waren an der Tagesordnung. Während des Einsatzes zeigte sich zudem, dass die Pathologien der sowjetischen Gesellschaft auch jenseits der Grenze existierten: Korruption, Diebstahl, Betrug und Gewalt prägten das Verhältnis der „Kameraden“ untereinander. Manche Soldaten nutzten den Kampf zur Abrechnung mit ihren Peinigern aus den eigenen Reihen. Dieser Gewaltraum diktierte den Soldaten die Bedingungen im Überlebenskampf. Das sowjetische Oberkommando nahm die Verstöße gegen Disziplin und Völkerrecht in Kauf. Nach ihrer Rückkehr erinnerten sich sowjetische Soldaten an zahlreiche Kriegsverbrechen. So berichtet ein Rekrut über die Erstürmung eines Dorfes: „Kurz nachdem wir ankamen, begann schon der Luftangriff. Obwohl es deutlich war, dass es sich vornehmlich um Zivilisten handelte, bekamen wir Befehl auf alles zu schießen was sich bewegt. Auf alles – sogar auf das Vieh.“[8] Der Kriegsalltag in Afghanistan war geprägt von permanenten Angriffen und Gegenangriffen; häufig war Rache ein Motiv, das die Eskalation der Gewalt vorantrieb. Ideologien oder strategische Überlegungen spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Die Dynamik von Gewalt und Gegengewalt bestimmten das Handeln vor Ort.
Die Situation in Afghanistan, die Verluste von Menschen und Material und schließlich die schleichende Delegitimierung von Armee und Partei veränderten die sowjetische Gesellschaft der achtziger Jahre. Bereits vor Gorbatschows Glasnost kursierten Gerüchte über Menschenrechtsverletzungen und den Zustand der Armee im Afghanistankrieg. Im Laufe der Jahre 1987 und 1988 wurden das militärische Debakel und der moralische Skandal zur Gewissheit: die sowjetische Presse begann nun offen über den Krieg zu berichten. Die sowjetische Führung musste sich dafür rechtfertigen, dass es ihr nicht gelungen war, sich schneller aus Afghanistan zurückzuziehen. Der Status der Roten Armee und die Aura ihres Heldentums, die stets im sowjetischen Wertehimmel verankert gewesen waren, wurden schwer beschädigt. Während das Regime durch den Krieg an Legitimität einbüßte, litten die „Afgantsy“ genannten Veteranen in der Heimat an ihren Traumata. Die Quellen zeigen deutlich, dass es den Soldaten schneller gelungen war, sich den Regeln des Gewaltraumes in Afghanistan zu unterwerfen als sie benötigten, um wieder in der Zivilgesellschaft anzukommen. Viele fanden diesen Weg zurück nicht. Zahlreiche Kriegsveteranen rutschen in die Kriminalität ab oder suchten sich eine Beschäftigung im Milieu der Sicherheitsdienste.
Der Afghanistankonflikt gehört zur Geschichte des Spätsozialismus. Er zeigt, wie groß die Gewaltpotentiale der Sowjetunion waren und verdeutlicht, dass der friedliche Zusammenbruch des Regime in Europa ein historischer Sonderfall war. In Russland selbst gilt es eher, die Kontinuität der Gewalt zu konstatieren: in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1991 und 1993 und in den Kriegen im Nordkaukasus sowie in Zentralasien zeigte sich, dass die Armee die Handlungsweisen, die sie in Afghanistan erlernt hatte, auch im eigenen Land anzuwenden bereit war. An den Peripherien des Imperiums bleibt Gewalt eine zentrale Handlungsoption der politischen Auseinandersetzung und von dort wirkt sie weiterhin in die russische Gesellschaft zurück.
[1] Zur Gewalterfahrung in Vietnam, siehe Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007.
[2] Für eine Gesamtdarstellung des Afghanistankrieges siehe Rodric Braithwaite: Afgantsy. The Russians in Afghanistan, 1979-1989, Oxford 2011.
[3] Major der sowjetischen Armee, in: Svetlana Alexievich (Hg.): Zinky Boys. Soviet Voices of the Afghan War, New York 1992, S. 88.
[4] Baikal-Amur-Magistrale (BAM), eine 3000 Kilometer lange Eisenbahnstrecke, die in den 1970er und 1980er Jahren, mit großem propagandistischen Aufwand überwiegend von Pionierbrigaden in Ostsibirien gebaut wurde.
[5] Das Februar-März-Plenum des ZK der KPdSU hatte 1954 die Steigerung der Getreideproduktion beschlossen und damit auch der Neulandgewinnung zugestimmt. Insgesamt 250.000km2 Steppenland sollten urbar gemacht und für die Landwirtschaft gewonnen werden.
[6] Zivilangestellte, in: Zinky Boys, S. 79.
[7] Tagebuch von Yuri Pakhomov, in: Afghanistan Weighs Heavy on my Heart. The Diaries of Soviet Soldiers Who Fought in Afghanistan, New Dehli 1992, S. 119.
[8] Yuri T. in: Anna Heinämaa u.a. (Hg.): The Soldier’s Story. Soviet Veterans Remember the Afghan War, Berkeley, Cal. 1994, S. 5.