von Katja Hermann

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1. April 2014

Ich erinnere mich gut an meinen Besuch in den Palästinensischen Gebieten im Sommer 1994, an die friedliche Stimmung in Jericho – und an meine eigene vorsichtige Hoffnung. Siebenundzwanzig Jahre nachdem Israel die palästinensische Westbank, den Gazastreifen und Ost-Jerusalem besetzt hatte, schien erstmals eine Lösung des Konfliktes in Sicht; ein Ende der israelischen Militärbesatzung und ein palästinensischer Staat an der Seite Israels schienen für eine kurze Zeit zum Greifen nah. Nach Verhandlungen zwischen Israel, verschiedenen arabischen Staaten und Repräsentanten der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in Madrid und Oslo war am 13. September 1993 die Declaration of Principles on Interim Self-Government Arrangements (DOP) unterzeichnet worden, die den Aufbau einer palästinensischen Selbstverwaltung sowie den schrittweisen Abzugs Israels aus der Westbank und dem Gazastreifen innerhalb von fünf Jahren vorsah. Während dieser Überganszeit sollten die zwischen beiden Konfliktparteien besonders umstrittenen Themen wie Grenzen, Flüchtlinge, Ost-Jerusalem, Siedlungen und Sicherheit geklärt sowie ein abschließender Status auf der Grundlage der UN-Resolutionen 242 (1967) und 338 (1973) festgelegt werden.[1]

Am 4. Mai 1994 wurden mit Abschluss des Agreement on the Gaza Strip and the Jericho Area (auch Kairo-Abkommen genannt) erste konkrete Schritte auf dem langen Weg des sogenannten Oslo-Prozesses eingeleitet: der israelische Abzug aus Jericho und Gaza, der Aufbau der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die Freilassung von 5000 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen und die Regelung der Handelsbeziehungen zwischen Israel und der PA.  Am 1. Juli traf Jassir Arafat, Vorsitzender von PLO und Fatah, nach jahrzehntelangem Exil in Gaza ein, wo er jubelnd empfangen wurde; ein paar Tage später wiederholte sich das Spektakel in Jericho. Von Anfang an gab es auf palästinensischer Seite auch Kritik am Oslo-Prozess: die Rede war vom Ausverkauf der Rechte der Palästinenser, von faulen Kompromissen, von Kapitulation. Es wurde befürchtet, dass die wesentlichen Konfliktpunkte auf die Übergangszeit verschoben und nicht gelöst, dass Israel seine Machtposition halten und dass die Palästinenser als die schwächere Verhandlungspartei am Ende als Verlierer dastehen würden. Die Anerkennung Israels in den Grenzen von vor 1967 seitens der PLO und die damit einhergehende Bereitschaft, einen zukünftigen palästinensischen Staat auf die Teilgebiete Westbank, Gazastreifen und Ost-Jerusalem zu verorten, wurden im palästinensischen Narrativ ohnehin bereits als beachtlicher Verzicht und Kompromiss wahrgenommen.

Zwanzig Jahre und zahlreiche Verhandlungsrunden, weitere Friedensinitiativen, eine Intifada und mehrere Gaza-Kriege später gibt es weder einen unabhängigen palästinensischen Staat, noch ist ein Ende der Besatzung absehbar. Daran ändert auch die Tatsache, dass Palästina 2012 bei den Vereinten Nationen zu einem Beobachterstaat aufgewertet wurde und seitdem in allen offiziellen Dokumenten den Titel „Staat Palästina“ führt, nicht viel. Ganz im Gegenteil: Die Palästinensische Autonomiebehörde, ein Produkt des Oslo-Prozesses, ist in den allermeisten Belangen vollständig von Israel und von internationalen Gebern abhängig, ihre eigene Autorität ist mehr oder minder auf Verwaltungsaspekte beschränkt. Sie kann weder die Sicherheit ihrer Bürger gewährleisten, noch ihren Staatshaushalt selbständig gestalten, geschweige denn ihre Außengrenzen kontrollieren. Die Palästinensischen Gebiete sind in verschiedene Zonen unterteilt, von denen nur ein kleiner Teil der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde untersteht (ca. 17 %), das restliche Gebiet wird im Wesentlichen von Israel kontrolliert, Ost-Jerusalem ist ohnehin längst annektiert. Durch den Oslo-Prozess ist ein komplexes System von Fragmentierungen und Abhängigkeiten geschaffen worden, das zwar kleine Fenster von Normalität zulässt und bestimmten Gruppen Zugänge zu Privilegien erlaubt, das den allermeisten Menschen aber keinerlei Perspektive bietet. Hohe Arbeitslosigkeit und Armut prägen die palästinensische Gesellschaft, insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene sind betroffen. Gewalttätige Übergriffe von militanten Siedlern auf Palästinenser mit dem Ziel, diese von ihrem Land zu vertreiben, Verwüstung von Eigentum und Zerstörung von Oliven- und Obstplantagen gehören ebenso wie Häuserdurchsuchungen und Verhaftungen zum Alltag der Menschen in der Westbank und in Ost-Jerusalem. Die Lage im Gazastreifen, von wo die letzten israelischen Siedler 2005 abgezogen wurden, ist auf andere Art angespannt. Seit der Übernahme des Küstenstreifens durch die Hamas 2007 hält Israel diesen abgeriegelt. Seitdem die neue Militärregierung in Ägypten ihrerseits die Grenze gesperrt hat, leben die 1,7 Millionen Bewohner des Gazastreifens quasi in einem großen Gefängnis. Engpässe bei Nahrungsmitteln, Medikamenten und Benzin stehen auf der Tagesordnung – mit den bekannten dramatischen Folgen für die Bevölkerung. Innenpolitische Probleme der Palästinensischen Autonomiebehörde, die darauf zurückzuführen sind, dass das politische System seit 2007 nicht mehr demokratisch legitimiert ist, es kein funktionierendes Parlament mehr gibt, die reguläre Amtszeit des Präsidenten bereits 2009 zu Ende ging und die Palästinenser seit Jahren zwischen zwei konkurrierenden Systemen im Gazastreifen (Hamas) und in der Westbank (Fatah) gespalten sind, erschweren die Aushandlung politischer Strategien gegen die Besatzung und für den Aufbau eines demokratischen Staates.

Die meisten Beobachter sind sich einig, dass ohne die enormen internationalen Hilfszahlungen, die an Palästina gezahlt werden, das künstliche Konstrukt der Palästinensischen Autonomiebehörde in den Palästinensischen Gebieten nicht aufrechtzuerhalten wäre. Andere wiederum kritisieren, dass durch eben diese Hilfe-Industrie die Folgen der Besatzungspolitik kaschiert und diese somit indirekt unterstützt würde.

Es gibt viele Gründe, warum die Skeptiker des Oslo-Prozesses Recht behalten sollten und dieser heute als gescheitert gelten muss. Einer ist offensichtlich: Ungeachtet sämtlicher Vereinbarungen hat Israel 20 Jahre lang Abkommen, Vereinbarungen und Zeitpläne blockiert und ignoriert. Während dieser Zeit hat es systematisch den Bau von Siedlungen, Straßennetzen und Sperranlagen auf palästinensischem Gebiet fortgesetzt. Israel hat damit permanent die zentrale Grundlage der Declaration of Principles on Interim Self-Government Arrangements verletzt, die besagt, dass während des Verhandlungsprozesses der Status des Verhandlungsgegenstandes nicht verändert werden dürfe (Art. 1). Damit hat Israel Fakten geschaffen, die mittlerweile der Entwicklung eines unabhängigen palästinensischen Staates – und damit auch der Zwei-Staaten-Lösung - buchstäblich im Wege stehen. Noch entscheidender ist es, dass dieses Vorgehen mit Ausnahme ritualisierter Kritik keine nennenswerten Reaktionen, geschweige denn Sanktionen ausgelöst hat, von der wachsenden Boykottbewegung einmal abgesehen. 

Vor rund neun Monaten haben erneut Friedensverhandlungen unter Leitung des US-amerikanischen Außenministers John Kerry begonnen. Ganz ähnlich wie Oslo basieren auch sie auf Verhandlungen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde. Jetzt zeichnet sich ab, dass diese Gespräche scheitern werden. Wahrscheinlich könnte man dieses Spiel ewig fortsetzen, wenn es nicht um Leben und Würde von Menschen ginge. Die letzten zwanzig Jahre haben gezeigt, dass Verhandlungen in asymmetrischen Konflikten – wie hier zwischen Besatzern und Besetzten – nicht ohne klar vereinbarte Monitoring- und Sanktionsmechanismen durch Drittparteien funktionieren. Wenn solche dauerhaft nicht zur Verfügung stehen, macht es Sinn, nach Alternativen zu suchen. Die Anrufung internationaler Organisationen und die Unterzeichnung internationaler Abkommen könnten ein Weg sein, um neue Impulse in die scheinbar ausweglose Situation zu bringen, damit könnte die Aufwertung zum „Staat Palästina“ doch noch Relevanz zeigen.

 

[1] UN-Resolution 242: Rückzug Israels aus den im Krieg von 1967 besetzten Gebieten; UN-Resolution 338: Waffenstillstand nach Jom Kippur Krieg, Umsetzung der UN-Resolution 242, Aufnahme von Verhandlungen mit dem Ziel, einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten herzustellen.