von Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon

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23. Mai 2023

Der Prozess der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes

Gegenwärtig wartet Wissenschaftsdeutschland im Novellierungsprozess des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) mit Hochspannung auf den Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMBF). Dieser soll dem Vernehmen nach in den nächsten Tagen oder Wochen an die Öffentlichkeit gelangen. Aus diesem Grund lohnt es sich, noch einmal den gegenwärtigen Stand der Diskussion in Erinnerung zu rufen.

 

Wiederholung: Das WissZeitVG und seine Probleme

92 Prozent der Wissenschaftler*innen unter 45 Jahren ohne Professur sind befristet beschäftigt.[1] Diese Situation ist im Wesentlichen möglich durch das WissZeitVG, ein Sonderbefristungsrecht, das es aus guten Gründen anderswo so nicht gibt. Es besagt im Kern, dass man vor bzw. nach der Promotion jeweils maximal sechs Jahre befristet angestellt werden darf; danach ist (von Drittmittelbefristungen und Vertretungen abgesehen) nur noch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis möglich. Die Folge dieser Regelung ist nun aber nicht, dass die Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit Steuergeldern höchstqualifizierte Wissenschaftler*innen tatsächlich entfristen, sondern dass diese bei Erreichen der Höchstbefristungsdauer in den meisten Fällen zur beruflichen Neuorientierung gezwungen sind, nachdem sie sich über Jahre und Jahrzehnte auf wissenschaftliche Arbeit spezialisiert haben. Der Berufswechsel ist damit alles andere als einfach, zumal sich die betreffenden Personen oft schon ihrem fünften Lebensjahrzehnt befinden. Zudem geht aber auch der Wissenschaft und den Studierenden erfahrenes Personal verloren – nur weil man, um es zu halten, gezwungen wäre, dessen Anstellung in unbefristetes Normalarbeitsverhältnis zu überführen.

 

Brain Drain und New Work

Hieraus resultiert ein Brain Drain, der sich indes längst nicht mehr auf das Ausscheiden nach Ablauf der zwölf Jahre beschränkt: Die Arbeitsbedingungen sind nicht nur finanziell wenig attraktiv. Zudem hat auch New Work keinen Einzug in die Forschungs- und Hochschullandschaft gehalten. Vielmehr gibt es dort weiterhin starke Hierarchien und die Praxis der ständigen Erreichbarkeit mit selbstverständlicher Arbeit am Wochenende und im Urlaub ist weitverbreitet – ja, gilt sogar als zwingend notwendig, um zu beweisen, dass man für eine wissenschaftliche Laufbahn hinreichend ‚brennt‘, um eine Chance auf die Professur zu haben.[2] Man hat es in der Wissenschaft also mit einer nicht mehr zeitgemäßen Arbeitskultur zu tun, die überdies klar diskriminierenden Effekt hat, weil man sie sich nur mit hinreichenden finanziellen Rücklagen, ohne Care-Aufgaben, krankheitsbedingte Einschränkungen etc. problemlos leisten kann. Auch gesellschaftliche Minderheiten schaffen es aus diesen Gründen nur in Ausnahmefällen bis ganz nach ‚oben‘. In dieser Situation wundert es nicht, dass die Bereitschaft, sich auf den unsicheren Weg einzulassen, inzwischen merklich abnimmt.

 

Proteste auf Twitter und ihre Folgen

Nachdem die Proteste gegen das WissZeitVG zunächst vor allem von Mittelbauinitiativen und Gewerkschaften getragen waren, haben sich seit dem Jahr 2020 unter den Hashtags #95vsWissZeitVG und #IchBinHanna Proteste in Form loser Netzwerke bei Twitter organisiert, die dann schließlich auch ihren Weg in die analoge Welt gefunden haben.[3] Wesentliche Ergebnisse waren bislang, dass Kritik an den Arbeitsbedingungen mittlerweile relativ selbstverständlich formuliert wird – und nicht wie früher hinter vorgehaltener Hand aus Angst vor karriereschädlichen Konsequenzen. Auch die gebetsmühlenartige wiederholte Ideologie, nach der das Wissenschaftssystem aufgebaut ist – nämlich, dass Fluktuation Innovation bedeute –,[4] wird inzwischen nicht mehr so offen vertreten wie noch vor kurzer Zeit. Das Ziel der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft hat sogar einen prominenten Platz im Koalitionsvertrag der Ampelregierung erhalten.[5] Die Erwartungen an Verbesserungen sind also groß.

 

Stakeholder-Prozesse des BMBF und das Eckpunktepapier

Nach Veröffentlichung der offiziellen Evaluation[6] im letzten Jahr, auf deren Basis die nun anstehende Reform erfolgen sollte, leitete das zuständige Ministerium einen umfassenden Stakeholder-Prozess ein, in dem die Vertreter*innen verschiedener Interessensgruppen befragt wurden; parallel fanden Stakeholder-Gespräche initiiert von den einzelnen Parteien statt. Die Vorstellung der Ergebnisse erfolgte an einem Freitagnachmittag im März 2023 in einem Pressegespräch, das nur mit vorheriger Einladung zugänglich war. Wenn die Idee war, dass durch die Terminierung möglichst wenig Aufmerksamkeit für das vorgelegte Eckpunktepapier[7] erregt werden sollte, dann ist dies nicht gelungen. Es kam zu einer heißen Diskussion auf Twitter mit einhelliger Ablenkung, die noch am selben Wochenende zur Folge hatte, dass das Ministerium das Eckpunktepapier „zurück in die Montagehalle“ schickte, wie Staatsekretärin Sabine Döring schrieb.[8]

 

Proteste gegen das Eckpunktepapier

Inhaltlich war es die Regelung um die Postdoc-Phase, die am meisten Protest verursachte. Das Eckpunktepapier sieht hier nur noch eine Phase von drei Jahren unbefristeter Anstellung nach der Promotion vor. Das Wochenende bot ausreichend Zeit, dass sich selbst die Professor*innenschaft unter dem Hashtag #ProfsFürHanna dagegen vernetzte.[9] Die Motive, gegen diese Regelung zu sein, waren allerdings höchst unterschiedlich: Manche bemerkten, dass drei Jahre ein zu kurzer Zeitraum seien, um sich sinnvoll für eine Professur qualifizieren (also beispielsweise habilitieren) zu können. Dies freilich dürfte auch gar nicht mit der Verkürzung des Zeitraums intendiert gewesen sein; allerdings ist davon auszugehen, dass sich gerade aufgrund dieser Auslegung bloß der Druck auf die Beschäftigten erhöht hätte, dieselben Leistungen in noch kürzerer Zeit vorzulegen. Eine zweite Gruppe zeigte sich enttäuscht, dass nach der Promotion – dem letzten akademischen Abschluss, der für eine Tätigkeit auch außerhalb der Wissenschaft als Qualifikation gelten kann – überhaupt noch befristet werden dürfe. Schließlich forderten einige zur Lösung der Problematik eine Abschaffung jeglicher Befristungsgrenzen überhaupt – im Glauben, dass dann lebenslange Befristung möglich sei, die allerdings das EU-Recht verbietet.[10] Nachdem lange Zeit hauptsächlich über Jahreszahlen diskutiert wurde, hat sich die Zahl der Optionen inzwischen durch Einführung der Idee einer Befristung mit baldiger und verbindlicher Anschlusszusage vergrößert.[11]

 

Eine umfassende Reform und die Rolle des Wissenschaftsrats

Nicht zuletzt kamen Forderungen auf, anstelle einer Reform des WissZeitVG auf einen allumfassenden Hochschulreformprozess zu warten, der vom Wissenschaftsrat vorbereitet werden solle. Dass es auch einen umfassenden Reformprozess der Wissenschaftseinrichtungen muss, liegt beim gegenwärtigen Zustand von Forschung, Hochschulen und Wissenschaft auf der Hand. Damit freilich müsste man sich auf einen jahre-, wenn nicht jahrzehntelangen Prozess einstellen, der die Zustimmung sowohl des Bundes als auch der 16 Länder braucht. Diese ist – auch angesichts zwischenzeitlich anstehender Regierungswechsel – schlicht unrealistisch: Eine Gegenstimme kann den Konsens kippen und jegliche Reform verhindern. Es gilt also in der Tat an dem Hebel anzusetzen, der jetzt zur Diskussion steht, und bei dem der Bund die Handlungskompetenz hat (dem WissZeitVG) und darauf zu setzen, dass dortige Änderungen weitere Reformschritte in anderen Bereichen nach sich ziehen (müssen). Ansonsten ist das Risiko der Erhaltung des Status quo viel zu hoch. 

 

Schritte zum Referentenentwurf

Nach dem Rückzug des Eckpunktepapiers wurde zügig ein weiteres Stakeholder-Treffen angesetzt, das aber im Wesentlichen nur zu einem nochmaligen Austausch der altbekannten Argumente führte. Dieses live im Internet übertragene Gespräch[12] wies eine merkliche Überzahl der Arbeitgeberseite auf und fand in einem Ambiente statt, das von der Ästhetik eher an die 1970er Jahre erinnerte. Angesichts der dort vonseiten der Wissenschaftsorganisationen vorgebrachten Positionen wird man sagen müssen, dass sich die Führungskräfte in der Wissenschaft aus ihrer Personalverantwortung stehlen wollen. Dennoch soll es nun bald einen Referentenentwurf geben. Mit Spannung bleibt abzuwarten, ob insbesondere für die Promovierten aus dem erneuten Prozess nicht doch eher eine Verschlimmbesserung resultiert. Kein Vorschlag wird alle zufrieden stellen. Dennoch muss man den Postdocs irgendeine realistische Aussicht auf Verbesserungen anbieten: Befristungshöchstquoten[13] oder verbindliche Anschlusszusagen können und sollten dabei eine wichtige Rolle spielen.[14] Gelingt dies nicht, wird die Wissenschaft angesichts demografischen Wandels und des Fachkräftemangels bald in allen Bereichen merkliche Schwierigkeiten haben, ihre Stellen zu besetzen, nicht nur in den wenigen mit starker Industriekonkurrenz, wo dies bereits jetzt der Fall ist.[15]

 

Ausblick: Aufgaben für die Geschichtswissenschaft

Abschließend: Der Prozess der Novellierung zeigt große Desiderate auf und bietet Historiker*innen weite Forschungsfelder: Die Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Arbeitens und insbesondere die prekären Anstellungsverhältnisse sind aus historischer Perspektive nicht in dem Maße untersucht, wie man vermuten könnte.[16] Die Grundlagen des eigenen Arbeitens zu analysieren, wäre aber sicherlich eine angemessene Zukunftsaufgabe für die Zunft. Dazu gehört nicht nur die Bundespolitik, sondern auch oder wohl eher vor allem die Wissenschaftspolitik einzelner Bundesländer und der verschiedenen Parteien, die bislang völlig unterbelichtet sind. Solange dies blinde Flecken sind, müssen an dieser Stelle vorerst die Reflexionen der Beobachtungen der unmittelbar Beteiligten zeitgeschichtlicher Prozesse als wenig befriedigender Ersatz stehen bleiben. Hierbei freilich handelt es sich eher um kritisch auszuwertende Quellen, denn um Historiographie nach den Regeln der Kunst.[17]

 


[1] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, S. 111, letzter Zugriff 22.05.2023.
[2] Siehe die Diskussion auf dem Twitter-Hashtag #BrennenFürDieWissenschaft.
[3] Amrei Bahr/Kristin Eichhorn/Sebastian Kubon (Hg.): #95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft. Marburg 2021; Amrei Bahr/Kristin Eichhorn/Sebastian Kubon: #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland. Berlin 2022. Ein Pressespiegel findet sich hier: Amrei Bahr/Kristin Eichhorn/Sebastian Kubon.
[4] Vgl. Dazu Sebastian Kubon: Frist first. Über die Entstehung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und die Begriffe Innovation, Fluktuation und Qualifikation als ideologische Grundlagen und Dogmen. In: Bahr/Eichhorn/Kubon 2021, S. 12–32.
[5] Mehr Fortschritt wagen. Bündniss für Freiheit Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalititonsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten (FDP), Berlin 07.12.2021, letzter Zugriff 22.05.2023.
[6] Jörn Sommer et al.: Bericht Evaluation des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Berlin/Hannover 2022, letzter Zugriff 22.05.2023. Daneben haben die GEW und NGAWiss eigene Evaluationen durchgeführt. Vgl. Freya Gassmann: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eine erste Evaluation der Novellierung von 2016. April 2020, letzter Zugriff 22.05.2023; Kuhnt, Matthias/Reitz, Tilman/Wöhrle, Patrick (2022): Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten. Mai 2022, letzter Zugriff 22.05.2023.
[7] Ministerium für Bildung und Forschung: Reform des WissZeitVG, 17.03.2023, letzter Zugriff 22.05.2023.
[8] Sabine Döring[sabinedoering]: Das heißt, es geht zurück in die Montagehalle [...], 19.03.2023, Twitter.
[9] #ProfsFürHanna #ProfsFürReyhan. Stellungnahme zur geplanten Reform des WissZeitVG aus Sichter Professorinnen und Professoren
[10] Vgl. hier insbesondere den Artikel von Marietta Auer: Weg mit der Höchstbefristung! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. März 2023, letzter Zugriff 22.05.2023.
[11] Vgl. Simon Pschorr: Ein Kompromiss, der seinen Namen verdient. In: Blog von Jan-Martin Wiarda vom 28. März 2023, letzter Zugriff 22.05.2023. 
[12] Die Aufzeichnung kann hier abgerufen werden.
[13] Vgl. Arnold Arpaci/Simon Pschorr: Befristungshöchstquote und Anschlusszusage auf dem grundrechtlichen Prüfstand. In: Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht vom 19. April 2023, letzter Zugriff 22.05.2023.
[14] Vgl. Amrei Bahr/Simon Pschorr/Geraldine Rauch/Tobias Rosefeldt: Jetzt nicht das Ziel aus den Augen verlieren. In: Blog von Jan-Martin Wiarda vom 16. Mai 2023, letzter Zugriff 22.05.2023. 
[15] Vgl. Geraldine Rauch: Faire Arbeit in der Wissenschaft. In: Tagesspiegel vom 17. Mai 2023, letzter Zugriff 22.05.2023.
[16] Die Geschichte des WissZeitVG wurde bisher nur in einer juristischen Dissertation eingehender behandelt. Friedrun Domke: Das Befristungsrecht des wissenschaftlichen Personals an deutschen Hochschulen zwischen wissenschaftlicher Dynamik und sozialer Sicherheit. Eine Untersuchung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Baden-Baden 2020.
[17] So ist etwa das Buch von Peter-André Alt: Exzellent!? Zur Lage der deutschen Universität. München 2021, natürlich keine historiographische Studie, sondern die Reflexionen eines an maßgeblichen Stellen Dabeigewesenen der beschriebenen Prozesse.