Es ist wieder soweit. Seit vielen Jahren findet am 8. Mai, im Gedenken an Henry Dunants Geburtstag (*1828), der alljährliche Welttag des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes statt.[1] Ein solcher Tag bietet auch Anlass der Geschichte der Selbstbeschreibung humanitären Helfens nachzugehen. Gerade in den letzten Jahren ist zu beobachten, wie humanitäre Ideen nicht nur als Politikersatz auftreten, sondern auch immer häufiger – insbesondere in der Schweiz – zum identitätsstiftenden Bezugspunkt für humanitäre Selbstbeschreibungen avancieren. Wie lässt sich dies erklären?
Gefangen in einer rückwärtsgewandten Gegenwart?
Bereits 1998 konstatierte der tschechische Schriftsteller und Präsident Václav Havel: »Wir genießen all die Errungenschaften der modernen Zivilisation. Doch wir wissen nicht genau, was wir mit uns anfangen, wohin wir uns wenden sollen. Die Welt unserer Erfahrungen erscheint chaotisch, zusammenhanglos, verwirrend. Experten der objektiven Welt können uns alles und jedes in der objektiven Welt erklären; unser eigenes Leben aber verstehen wir immer weniger. Kurz, wir leben in der postmodernen Welt, in der alles möglich und fast nichts gewiss ist.«[2] In Abkehr zu Francis Fukuyamas euphorischem Diktum vom »Ende der Geschichte« bringt er damit ein prekäres Lebensgefühl zum Ausdruck, das auch gute 20 Jahre später mit erwartungsbangem Blick auf gefühlte Herausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung, auf Klimawandel und weltweite Migrationsbewegungen zuzutreffen vermag.
Heute scheinen sich Erwartungen kaum auf eine »andere Zukunft« zu richten, auf eine Zukunft, deren sicher erwartbare Andersartigkeit zu Hoffnungen oder Ängsten Anlass geben könnte. Vielmehr verbinden sich Hoffnungen wie Ängste eher mit der erwarteten Fortdauer des Gegenwärtigen, wie der Historiker Christian Geulen urteilt.[3] Medien und der Medienwandel befördern solche Befindlichkeiten. Der Humanitarismus ist davon besonders betroffen. In ihm ist eine enge Beziehung zu Medien angelegt[4], womit er auch als Projektionsfläche für Zeit- und Politikentwürfe dient.
In seinem neuesten Werk hat Christopher Clark unlängst auf die Möglichkeiten der Re-Orientierung von Kontingenz zu Kontinuität in Zeiten politischer Disruptionen hingewiesen. Die Erschöpfung und Legitimationskrise von Zukunftsvisionen sowie das Unvermögen solche Visionen zu formulieren habe das Gefühl einer rückwärtsgewandten Gegenwart erzeugt. Diese sei durch den Appell und den Rückgriff auf eine idealisierte Vergangenheit gekennzeichnet. Imaginierte Zeitlandschaften erhalten spezifische Konturen. Zeitlandschaften stellen dabei nicht nur eine bloße Kontaktzone für die Übergänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dar. Durch die Konstruktion neuer Vergangenheiten würden somit ebenfalls alte Zukunftsvorstellungen verdrängt.[5] Clarks Konzeption ist auch für die Geschichte humanitärer Hilfe und den Begriff der »humanitären Tradition« fruchtbar. Dieser Begriff kann als ein Produkt verstanden werden, die Vergangenheit so zu strukturieren, dass eine humanitäre Erzählung »aus einem Guss« ermöglicht wird.
Beschwörungsformel »humanitäre Tradition«
Denn der Rückgriff auf imaginierte Zeitlandschaften ist in der Tat ein wichtiges Instrument politischer Kommunikation, um die es in erster Linie geht, wenn die Formel der »humanitären Tradition« eines Landes ins Spiel gebracht wird. Die Beschwörung der Schweiz als Hort humanitärer Hilfe erlebt eine Konjunktur, deren Erzählung aus folgenden Versatzstücken besteht: Bereits seit dem 16. Jahrhundert habe man politisch und religiös Verfolgten Asyl gewährt. Durch ihre Neutralität sei die Schweiz seit dem 19. Jahrhundert prädestiniert für humanitären Einsatz und spätestens seit der Ratifizierung der ersten Genfer Konventionen nehme sie auch auf internationaler Ebene eine herausgehobene Rolle ein. Als institutionalisiertes Manifest stehe das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) dabei stellvertretend für die tiefen Bande, welche das Land mit dem humanitären Geist verbinde und sich nicht zuletzt im Emblem des Roten Kreuzes – einer Umkehrung des Schweizer Wappens – wiederspiegle.[6]
Die Formel einer »humanitären Tradition« mag medien- und mobilisierungswirksam sein, erscheint allerdings aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive befragungswürdig. Sie evoziert eine homogene, linear-teleologische Entwicklung. Dadurch verstellt sie den Blick für die Einbettung von polyzentrischen Entwicklungsprozessen in ihre jeweiligen spezifischen Kontexte sowie deren Brüche und Ambiguitäten. Humanitäre Hilfe muss immer wieder neu organisiert, verhandelt und geleistet werden und ist dabei in der Regel selektiv und asymmetrisch. In einer Geschichte über die humanitäre Hilfe der Schweiz ein wiederkehrendes oder traditionelles Verhalten vorauszusetzen wäre daher trügerisch. Ein paar Mausklicks auf Google genügen zudem für die Bestätigung, dass in manch einem anderen Land die Rede von einer spezifischen humanitären Tradition ebenfalls gepflegt und historisch unterfüttert wird.
Seit den 1980er Jahren wird der Begriff »humanitäre Tradition« vermehrt besetzt, in der Schweiz mittlerweile nahezu inflationär. Seine Verwendung hat deklaratorischen Charakter. Daniel Speich Chassé konstatiert daher: »Wenn in der Schweiz von einer humanitären Tradition gesprochen wird, so ist damit nicht die Vergangenheit gemeint, sondern stets die Gegenwart und die Zukunft. […] Als Staatsräson ist der humanitäre Gedanke nicht zukunftsfähig. Er ist ein Opfer seines eigenen Erfolges. Er wurde global institutionalisiert und zeichnet heute keinen einzelnen Staat mehr aus.«[7] Der Begriff selbst bleibt vage und kaum operationalisierbar. Er zeigt sich am Deutlichsten als eine Akteurskategorie von Eliten in politischen Diskursen.
Als Akteurskategorie enthält er in der jüngeren Geschichte der Schweiz drei idealtypische Momente. Sie lassen sich – bewusst zugespitzt – in einem Dreiklang aus Aneignung, Bedeutungszuweisung beziehungsweise Bedeutungsumdeutung sowie praktischer Anwendung und Nutzen verstehen. Im Zentrum steht hierbei also die Frage nach der Funktion dieser Formel in ihren spezifischen Zeitlandschaften also in ihren jeweils relevanten zeitlichen und räumlichen Kontexten.
Die Inkorporation von Dunants Idee
Die Rede von einer nationalen »humanitären Tradition« vollzieht sich vor dem Hintergrund von neuer Staatlichkeit, Nationalismus, Imperialismus und Humanitarismus im 19. Jahrhundert. Dabei steht die augenfällige Zufälligkeit humanitärer Handlung in offenem Widerspruch zum Bestreben humanitäres Wirken zur DNA der Schweiz zu erklären. Es tun sich spezifische Zeitlandschaften auf: eine unendlich angenommene Vergangenheit entsteht, um der Zukunft zu dienen. Gegenwart und jüngste Vergangenheit werden quasi auf der Streckbank zu einer nationalen Geschichte ausgedehnt, die im Falle der humanitären Hilfe in der Schweiz des 19. Jahrhundert zwangsläufig nicht älter als ein paar Dekaden sein kann.
Solche Tendenzen zeigten sich im Deutsch-Französischen Krieg etwa in der Botschaft des Schweizer Bundesrates an die Eidgenössischen Räte über die Aufrechterhaltung der schweizerischen Neutralität während des Krieges. Die Schweiz habe ihre Pflichten zur Neutralität mit Humanität erfüllt sowie für die Gemeinschaft der Menschen und für den Fortschritt der Zivilisation gewirkt heißt es in der Botschaft. Damit werden die erwähnten Aufgaben untrennbar mit der Existenz des jungen Landes verbunden, wie Irène Herrmann bemerkt: »Dieses Gefühl der Verbundenheit wird durch die beständige Bezugnahme zur Natur akzentuiert. Auch respektive gerade weil die Botschaft die Geschichte der Schweiz außer Acht lässt, vermag sie diese schweizerische Berufung zu essentialisieren und lässt die Leserschaft im Glauben, dass die verschiedenen Bestandteile solch einer Berufung sehr alt seien.«[8]
Dabei zeigt der genauere Blick, dass humanitäre Handlungen der Schweiz und ihrer Regierung von Zufällen begleitet war: Für die Gründer des IKRK war die Schweiz als Gastland einer internationalen Konferenz (Erste Genfer Konvention) nach Frankreich nur zweite Wahl. Als Frankreich den Ball der Schweiz zuspielte, zeigte sich die Landesregierung zunächst zögerlich.[9] Dass die Schweiz zum Depositarstaat der Genfer Konventionen wurde, ist so betrachtet nicht die Folge zwingender Geschichtsverläufe, sondern eher Produkt kontingenter Entscheidungsketten. Desgleichen war die humanitäre Hilfe der Schweiz im 19. Jahrhundert weder vorbehaltlos noch grenzenlos. Als die Schweiz im Deutsch-Französischen Krieg beschloss, 1800 Zivilpersonen aus Straßburg zu evakuieren, waren der Gastfreundschaft von Beginn weg Grenzen gesetzt: »Die Schweiz war darauf bedacht, lediglich vorübergehendes Asyl zu gewähren und zu verhindern, dass ›gefährliches Gesindel‹ kommen und eine neue ›Heimatlosengefahr‹ entstehen könnte.«[10]
Die weiteren Versatzstücke des Narrativs einer seit Ewigkeiten bestehenden humanitären Schweiz zerfallen bei genauerer Betrachtung in heterogene Einzelteile – weder die Anerkennung Schweizer Neutralität 1815 noch die Gründung des Bundesstaates 1848 präsentieren sich als Produkte linearer und unverrückbarer Entwicklungen. Und auch das »Schweizerische« an der Institution des Roten Kreuzes erhält auf den zweiten Blick erstaunliche Differenzierungen: Im gesamten 19. Jahrhundert blieb das IKRK personell, konfessionell und kulturell eher eine Genfer als eine Schweizer Institution, deren Interessen darüber hinaus nicht selten von jenen der Berner Diplomatie abwichen. Das Bild einer »humanitären Tradition« ist konstruiert, propagiert und schreibt sich im 19. Jahrhundert in eine spezifische Zeitlandschaft ein, die Irène Herrmann folgendermaßen skizziert: »Die humanitäre Mission der Schweiz […] ist eine konstruierte Berufung, die auf spezifische Umstände reagiert. Sie rechtfertigt die Neutralität des Landes und fungiert als wichtiger Anreiz zur Respektierung der territorialen Integrität der Schweiz. In einer Zeit aggressiven Nationalismus vervollständigt sie die Identität der Schweiz und verschafft dem Land einen beneidenswerten Platz in [der] Zivilisation. Mit anderen Worten erfüllt diese ›natürliche Fähigkeit zur Humanität‹ zahlreiche Funktionen.«[11] Um Funktionen in der Gegenwart zu erfüllen werden Ereignisse aus der Vergangenheit reduziert, simplifiziert und essentialisiert. Dem Begriff der »humanitären Tradition« der Schweiz respektive seiner Spielarten kommt dabei eine konstruktive, orientierungsstiftende und handlungsanleitende Funktion für Zukunftsentwürfe zu.
Moralische Erneuerung nach dem Zweiten Weltkrieg
Ein zweiter idealtypischer Moment ist die Zeitlandschaft nach 1945. Nicht nur galt es die Schweiz in einer europäischen und internationalen Nachkriegsordnung neu zu positionieren und im Hinblick auf die aufbrechenden Verwerfungslinien zwischen West und Ost, Nord und Süd (neu) zu verorten. Man sah sich auch aufgrund der Rolle der Schweiz während des Krieges mit massiver Kritik durch die internationale Staatengemeinschaft konfrontiert. Der Verstoß gegen moralische Imperative aus Gründen der Staatsräson und wegen wirtschaftlicher Vorteile – Stichwort »nachrichtenlose Vermögen« – warf dunkle Wolken auf das Bild einer »humanitären Schweiz«.[12] Die staatspolitische Maxime der Neutralität erreichte zumindest aus internationaler Perspektive einen Tiefstand und das IKRK hatte im Zweiten Weltkrieg an Glaubwürdigkeit und Reputation eingebüßt.[13]
Um die Schweiz aus ihrer außenpolitischen und wirtschaftlichen Isolation herauszuführen, formulierte Bundesrat Max Petitpierre daher die Chiffre der »Neutralität und Solidarität«. Mit Hilfe der Neutralität sollte die Unabhängigkeit des Landes weiterhin gewahrt bleiben, die Solidarität sollte darüber hinaus aber auf die Guten Dienste der Schweiz für die internationale Gemeinschaft verweisen. Humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe wurden somit strategische Instrumente und wichtige Stützpfeiler einer »aktiven Neutralität«. Sie flankierten die Schweizer Außen- und Außenwirtschaftspolitik und verliehen ihr eine metapolitische Rechtfertigung.[14] Auch das IKRK ließ sich hier wieder einmal durch die Regierung in Bern vereinnahmen, indem sich die neutralisierte Humanität des Genfer Komitees und die humanisierte Neutralität der Schweiz wechselseitig beförderten.
Aus einer Vielzahl humanitärer Taten konstruierte sich die in sich konsistente Formel einer »humanitären Tradition«, der im Wesentlichen zwei Funktionen zukam. Als symbolischer Bezugspunkt sollte sie einerseits nach innen integrierend und mobilisierend wirken. Sie war Ausdruck eines gemeinsamen kulturellen Erbes und diente der Versicherung einer gemeinsamen Wertegemeinschaft. In einer Zeit der Re-Orientierung hatte sie damit eine identitätsstiftende bzw. identitätsversichernde Funktion. Mit Blick in die unmittelbare Vergangenheit war sie dabei zugleich ein Baustein zu einer moralischen Wiedererneuerung, verpflichtete als Zukunftsprojektion zugleich aber auch zu weiteren humanitären Handlungen in der Zukunft, die sich als anschlussfähig an modernisierungstheoretische Vorstellungen der Zeit erwiesen.
Anderseits wirkte sie nach außen werbend aber auch schützend. Sie wurde zur Imagepflege nutzbar gemacht und sollte im zunehmend kompetitiven Feld der Entwicklungshilfe als Nation branding die humanitäre Hilfe der Schweiz vermarkten. Denn schließlich: Wer hat‘s erfunden? Dass die »humanitäre Tradition« dabei auch als Gegenstück einer restriktiven Flüchtlingspolitik angesehen werden kann[15], oder IKRK-Flugzeuge während des Biafra-Konflikts mit Schweizer Waffen abgeschossen wurden, passte nicht in das gewollte Narrativ und war dysfunktional. Aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive verweisen diese Beispiele aber auf die vielschichtigen und durchaus widersprüchlichen Entwicklungsprozesse, die sich hinter dieser Formel verbergen und denen es nachzuspüren gilt.
»Humanitäre Tradition am Scheideweg«
»Humanitäre Tradition am Scheideweg«, stand am 10. April 2019 als Spitzmarke über einer Geschichte mit dem Titel Hilfswerke in Not in der Aargauer Zeitung. Der Artikel handelt davon, wie große Schweizer Hilfswerke in eine unsichere Zukunft blicken. Obwohl das Spendenverhalten von Frau und Herrn Schweizer zunimmt, profitieren die Hilfswerke nicht. Denn die Spendierfreude wird zunehmend ausländischen Organisationen zuteil. Auch die Schweizer Regierung macht den Organisationen das Leben nicht leichter: Förderbedingungen werden geändert und erschwert. Das Narrativ von in Not geratenen Helfern ist journalistisch anziehend und anschlussfähig an Diskurse von Mitleid, Diskriminierung und Angst. Mit seiner Spitzmarke von einer »Humanitären Tradition am Scheideweg« stellte der Artikel den Kontext her – ein Kontinuum von Hilfe gerät zum abrupten Stillstand. Dass Spendenflüsse und politische Rahmenbedingungen in der Geschichte der humanitären Hilfe dauerndem Wandel unterworfen sind – Wandel vielleicht sogar die einzige Kontinuität darstellt – wird ausgeblendet. Deutlich wird dagegen, wie inflationär und unreflektiert die Formel der »humanitären Tradition« heute verwendet wird.
Der Begriff taucht regelmäßig in Reden zum Schweizer Nationalfeiertag auf; er ist genauso in Abstimmungskämpfen über völkerrechtliche Themen zu finden wie er an Stammtischen seine Runde macht. Wie lässt sich die Konjunktur dieser Formel erklären und welche Zeitvorstellungen sind mit ihm verbunden? Sicherlich: Themen der Migration, die Frage nach Waffenexporten und Abstimmungsvorlagen über das Verhältnis von Landesrecht zu Völkerrecht in der Schweiz liefern eine einfache Begründung dafür, warum humanitäre Handlungen der Vergangenheit verstärkt in das öffentliche Interesse gerückt sind. Sie können die Konjunktur des Begriffs der »humanitären Tradition« aber nicht erklären.
Die Rede von einer »humanitären Tradition« hat in jüngster Zeit einzig eine Funktion in der Gegenwart, die der Begriff gleichzeitig herleitet, verwaltet und neu formuliert. Er ist enttemporalisiert und verweist weder auf eine konkrete Vergangenheit noch auf eine konkrete Zukunft. Die Schutzwirkung als Element zeitlicher Zukunftsvorstellung, welche dem Begriff der »humanitären Tradition« in den ersten zwei Phasen eigen war, ist ihm in der Phase der Bedeutungsumdeutung abhandengekommen. Vielmehr hat er Konjunktur, weil er die Zeitebenen von Vergangenheit und Zukunft in vager Weise auszublenden vermag und damit das Zeitgefühl der eingangs zitierten Diagnosen von Václav Havel und Christian Geulen am besten bedient: Eine Malaise und Orientierungslosigkeit.
Zugespitzt ausgedrückt: dem Begriff kommt stellenweise die Funktion des Politikersatzes zu, er ist anschlussfähig an Bedürfnisse einer modernen Gesellschaft. In einer scheinbar aufgeklärten, transparenten und digitalisierten Welt ist die Figur der Latenz (Verborgenheit) zu einem genauso realen wie bedrohlichen Definitionsmerkmal für Räume und Grenzen von Öffentlichkeiten geworden. Die humanitäre Hilfe im Selbstverständnis der Fortführung einer humanitären Tradition ist die Anti-Latenz; sie steht für Revitalisierung politischer Handlung von Individuen, für Solidarität von Gemeinschaften und für die Sichtbarkeit von Wirkungszusammenhängen.
Auf der Suche nach der Geschichte einer »Humanitären Schweiz«
Dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi wird der Aphorismus »Es gibt keine Fakten. Es gibt nur unsere Wahrnehmung davon« zugeschrieben. Der Rückgriff auf imaginierte Zeitlandschaften als Mittel der politischen Kommunikation macht dies sehr deutlich. Das Instrumentarium der Begriffsgeschichte, wie es Reinhard Koselleck ausgebildet und François Hartog und Christopher Clark weiterentwickelt haben, erlaubt es, Reden über das Humanitäre mit Vorstellungen über die Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft in Verbindung zu bringen. Konjunkturen einer Rede der »humanitären Schweiz« könnten also damit erklärt werden, dass solche Reden unterschiedliche Funktionen aufgrund sehr unterschiedlicher imaginierter Zeitlandschaften erfüllen.
Gerade aber eine geschichtswissenschaftliche Perspektive ermöglicht es, einem wirkungsmächtigen Narrativ in seinen jeweils spezifischen historischen Momenten und Zeitlandschaften nachzugehen und damit zugleich dringend benötigtes Orientierungswissen bereit zu stellen. Einem solchen Anliegen verpflichtet sich der Sammelband Wo liegt die »Humanitäre Schweiz«? Eine Spurensuche in 10 Episoden. [16] Er beschäftigt sich mit Fragen nach der jeweiligen Funktion, die die Rede über eine »humanitäre Tradition« in spezifischen Zeiten der Geschichte in der Schweiz hatte, und dient als Ausgangspunkt für diesen Beitrag.
[1] In diesem Jahr wird zudem auch dem 160. Jahrestag der Schlacht von Solferino (1859), dem 100. Geburtstag der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften (1919), sowie dem 70-jährigen Bestehen der Genfer Konventionen (1949) gedacht.
[2] Havel, Václav, »Wir wollen nicht allein im All sein«, Die Weltwoche, 01.01.1998.
[3] Geulen, Christian, »Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts«, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 79–97, hier S. 84 [zuletzt eingesehen am 06.05.2019].
[4] Paulmann, Johannes, »Humanitarianism and Media. Introduction to an Entangled History«, in: Ders. (Hg.) Humanitarianism and Media. 1900 to the Present, New York 2018, S. 1–38, hier S. 1.
[5] Clark, Christopher, Time and Power. Visions of History in German Politics, from the Thirty Years‘ War to the Third Reich, Princeton 2018, hier S. 1–18. Siehe insbesondere seine konzeptionellen Gedanken zu Koselleck und Hartog sowie seinen Rückgriff auf das Instrumentarium der Begriffsgeschichte.
[6] Siehe z. B. die Reden von Bundesrätin Simonetta Sommaruga und Bundesrat Didier Burkhalter: Burkhalter, Didier, L’humanitaire, cœur vibrant de la Suisse depuis 150 ans, in: Der Bundesrat. Das Portal der Schweizer Regierung, 14.03.2014 [zuletzt eingesehen am 06.05.2019]; Sommaruga, Simonetta, Humanitäre Tradition gehört zu unserer Identität, in: Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, 01.08.2014 [zuletzt eingesehen am 06.05.2019].
[7] Speich Chassé, Daniel, Die Zukunft der humanitären Tradition (Gastkommentar), in: NZZ, 07.05.2015 [zuletzt eingesehen am 06.05.2019].
[8] Hermann, Irène, »Eine ›Genferei‹ als Grundlage eidgenössischer Identität? Der Bund und die Naturalisierung der Ideale des IKRK«, in: Miriam Baumeister/ Patrick Sonnack/ Thomas Brückner (Hg.), Wo liegt die »Humanitäre Schweiz«? Eine Spurensuche in 10 Episoden, Frankfurt am Main/New York 2018, S. 65–80, hier S. 66.
[9] Ebd. S. 71.
[10] Sutter, Gaby, »Humanitäre Tradition in Stein gemeisselt? Das Strassburger Denkmal in Basel als historischer Lernort«, in: Ebd. S. 81–96, hier S. 86.
[11] Herrmann, ›Genferei‹ (wie Anm. 8), S. 76.
[12] Speich Chassé, Zukunft der humanitären Tradition (wie Anm. 7).
[13] Steinacher, Gerald, Humanitarians at War. The Red Cross in the Shadow of the Holocaust, Oxford 2017, S. 84–111.
[14] Siehe dazu auch Speich Chassé, Daniel, »Verflechtung durch Neutralität. Wirkung einer Schweizer Maxime im Zeitalter der Dekolonisation«, in: Patricia Putschert/Barbara Lüthi/Francesca Falk (Hg.), Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 22013, S. 225–245.
[15] Kury, Patrick, Die ›humanitäre Tradition‹: Historische Anmerkungen zu einem schillernden Begriff, in: Geschichte der Gegenwart, 23.02.2016 [zuletzt eingesehen am 06.05.2019].
[16] Siehe Baumeister, Miriam/Thomas Brückner/Patrick Sonnack (Hg.), Wo liegt die »Humanitäre Schweiz«? Eine Spurensuche in 10 Episoden, Frankfurt am Main/New York 2018.(>