Gäbe es so etwas wie die „Mutter aller öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“, dann hätte die BBC ohne Zweifel Anspruch auf diesen Titel. Die 1922 gegründete Rundfunkanstalt ist nicht nur eine urbritische Institution, sie war in journalistischer wie in organisatorischer Hinsicht Vorbild für den Aufbau des Rundfunks anderer Länder – nicht zuletzt in der Bundesrepublik. Derzeit allerdings läuft es jedoch nicht gut für die BBC, sie steckt in einer tiefen Legitimationskrise. Konkreter Anlass ist die sogenannte Savile-Affäre.
Der im Herbst 2011 verstorbene Jimmy Savile war ein ebenso exzentrischer wie populärer Diskjockey und Moderator, der seit den 1960er Jahren für die BBC tätig war. Inzwischen wurde öffentlich, dass er über Jahrzehnte hinweg Minderjährige sexuell belästigt und missbraucht hat. An Hinweisen darauf, so weiß man inzwischen, hatte es schon zu Lebzeiten Saviles nicht gemangelt. Ihnen war jedoch nie konsequent nachgegangen worden, schon gar nicht von Seiten seines langjährigen Arbeitgebers, der BBC. Erst nach dem Tod der Pop-Ikone hatte das BBC-Magazin „Newsnight“ einen Bericht vorbereitet, der das Doppelleben Saviles offenlegte. Der Beitrag wurde allerdings kurz vor der Ausstrahlung von der Chefredaktion abgesetzt. Stattdessen lief ein Zusammenschnitt aus Höhepunkten seiner Sendungen. Der Verdacht, man habe einen Image-Schaden für den Sender abwenden wollen, lag auf der Hand. Als „Newsnight“ dann im letzten November einen früheren konservativen Spitzenpolitiker fälschlich des Kindesmissbrauchs beschuldigte, war das Maß voll: Der Generaldirektor der BBC, George Entwistle, trat nach nur zweimonatiger Amtszeit zurück. Das Boulevardblatt „Sun“ titelte: „BBChaos“.
Die akute Krise trifft eine Institution, die ohnehin in einer schwierigen Lage ist. Denn der Legitimationsdruck, der auf der altehrwürdigen Anstalt lastet, ist enorm. Sie gilt in weiten Teilen der britischen Öffentlichkeit als schwerfälliger, ineffizienter Tanker, der sich dank großzügiger Ausstattung mit Rundfunkgebühren keinem Wettbewerb stellen muss und stattdessen den privaten Medienunternehmen das Wasser abgräbt. Letztere lassen daher in ihren Boulevardzeitungen keine Gelegenheit aus, genüsslich Fehler von BBC-Mitarbeitern auszubreiten oder opulente Gehälter der Manager zu geißeln. Erschwerend hinzu kommen die unpopulären Rundfunkgebühren von ca. 145 £ jährlich. Auch der Vorsitzende des obersten Aufsichtsgremiums BBC Trust, Lord Chris Patten, schlug in diese Kerbe, als er scherzhaft anmerkte, in der BBC gebe es „more senior leaders […] than in the Chinese communist party“. Schon die vorherige „New Labour“-Regierung hatte der BBC daher einen harten Sparkurs verordnet und zugleich Strukturreformen durchgesetzt, die die Effizienz und Kontrolle der Anstalt verbessern sollten, während gleichzeitig die Regulierung privater Rundfunkanbieter zurückgenommen wurde. Unter der amtierenden konservativ-liberalen Regierung ist der Druck auf die Anstalt noch einmal erheblich verstärkt worden. Im Zuge der Finanzkrise wurde die Rundfunkgebühr eingefroren. Daraufhin musste das traditionsreiche „Television Centre“ in London an einen privaten Investor verkauft werden. Weitere drastische Einsparungen sind für die Zeit ab 2013 vorgesehen, unter anderem soll Geld aus dem Etat der BBC an private Mitbewerber fließen und der Ausbau digitaler Infrastruktur bezahlt werden. „Verschlankung“ allein genügt nicht mehr: diskutiert werden Szenarien bis hin zur Teilprivatisierung der Anstalt.
Den Hintergrund für die Verteilungskämpfe zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und privaten Wettbewerbern mitsamt ihrer schrillen Begleitmusik bildet der dramatische Wandel der Medienlandschaft. Die Digitalisierung und die Verbreitung des Internets haben – nicht nur in England – die etablierten Geschäftsmodelle der Medienbranche brüchig werden lassen. Insbesondere sind die Werbeerträge dramatisch eingebrochen, was neben dem klassischen Print-Journalismus besonders die werbefinanzierten Radio- und Fernsehsender getroffen hat. Im Königreich wird dieses Problem durch die schwere Rezession der letzten Jahre noch verschärft. Die Erträge aus dem Online-Geschäft können die Verluste bisher nicht einmal ansatzweise kompensieren. Angesichts dieser schwierigen Lage beklagen sich die privaten Medienunternehmer über die ihrer Meinung nach marktbeherrschende Stellung der überwiegend gebührenfinanzierten BBC, die den freien Wettbewerb behindere, wenn nicht unmöglich mache. Damit stoßen sie besonders bei der gegenwärtigen, marktliberal eingestellten Regierung auf offene Ohren. Paradoxerweise ist es ihr Erfolg, der es der BBC in dieser Debatte besonders schwer macht. Denn tatsächlich hat man dort früh die Notwendigkeit erkannt, auf die Digitalisierung zu reagieren. Nicht nur, dass die traditionelle, terrestrische Ausstrahlung von Radio und Fernsehen relativ rasch auf digitale Technologie umgestellt worden ist, parallel dazu sind alternative Verbreitungswege ausgebaut worden: Das Online-Angebot der BBC ist schon seit längerem eine der meistgenutzten Websites in Großbritannien, und auch die bereits im Jahr 2007 eingerichtete Online-Mediathek „iPlayer“ ist überaus erfolgreich.
Die aktuelle Krise der BBC kommt Massenblättern wie der „Sun“ jedoch nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen gelegen. Denn sie lenkt die Aufmerksamkeit von eigenen, weitaus schwerwiegenderen Verfehlungen ab und scheint geeignet, die derzeitige Diskussion über das Verhältnis von Staat und Presse im Königreich in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei geht es darum, ob sich die Presse im „Mutterland der Meinungsfreiheit“ in Zukunft einer gesetzlichen Regulierung unterziehen muss oder ob dies die Pressefreiheit gefährdet. Traditionell gibt es in Großbritannien weder ein Pressegesetz noch ein Zivilrecht im eigentlichen Sinne. Hintergrund der Debatte ist ein Skandal um die britische „Yellow Press“. Jahrelang hatten Reporter von Boulevardzeitungen des Medienmoguls Rupert Murdoch private Telefone von Politikern, Prominenten, Verbrechensopfern und deren Hinterbliebenen abgehört und die so gewonnenen Informationen ausgeschlachtet. Die Ermittlungen offenbarten nicht nur, dass die moralfreie Zone beim britischen Murdoch-Unternehmen „News International“ die Chefebene einschloss, sondern auch, dass sich korrupte Polizisten von dem Medienunternehmen hatten bezahlen lassen und dass es überaus enge Beziehungen zur Politik bis hinauf zu Premierminister David Cameron gab.
Allerdings hat es noch andere, historische Gründe, dass diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Polen des sogenannten dualen Mediensystems in Großbritannien mit besonderer Härte geführt wird. Zum einen ist die Stellung der BBC innerhalb der britischen Medienlandschaft im Vergleich etwa zu Deutschland und Frankreich tatsächlich wesentlich stärker. In der Bundesrepublik, wo der Rundfunk nach 1945 nach britischem Vorbild organisiert worden ist, hat die föderale Struktur die Entstehung einer ähnlich mächtigen, zentralen Rundfunkanstalt verhindert. Im zentralistischen Frankreich mit seinem staatsnahen Mediensystem gab es dagegen schon früh stärkere kommerzielle Player als in England. Zum anderen stand die BBC als öffentlich finanzierte, mit Staatsverträgen („Royal Charter“) gebundene Institution schon immer in Spannung zu der traditionell wirtschaftsliberal geprägten Kultur in Großbritannien. Auch dies hat historische Gründe: Denn 1927, als die damalige Regierung die BBC erstmals an sich band, geschah dies nicht zuletzt mit Blick auf die Herrschaft über das Empire. Insofern ist es symptomatisch, dass das Außenministerium ab 2013 nicht mehr wie bisher für den „world service“ der BBC aufkommen möchte.
Schließlich lässt sich unschwer prognostizieren, dass der Legitimationsdruck, der auf dem öffentlich finanzierten Public-Service-Rundfunk lastet, so lange nicht abnehmen wird, bis es den privatwirtschaftlichen Anbietern gelungen ist, neue, tragfähige Geschäftsmodelle in Bezug auf die digitalen Medien zu etablieren. Bis dahin wird voraussichtlich auch die Skandalisierung der BBC nicht abnehmen.