von Daniela Münkel

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1. April 2014

Am 6. Mai 1974 kulminierte einer der folgenreichsten Skandale der alten Bundesrepublik; er besiegelte eine peinliche politische Niederlage der DDR und ihres Ministerium für Staatssicherheit; vor allem aber markierte dieser Tag das Ende einer Ära.
Die Bundesrepublik war nach knapp fünf Jahren sozial-liberaler Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt nicht mehr die gleiche wie zuvor – dies gilt sowohl nach außen wie nach innen. Die SPD war im Bundestagswahlkampf 1969 mit dem Versprechen angetreten: „Wir schaffen das moderne Deutschland“. In einem rasanten Tempo begann die neue Regierung nach ihrer Amtsübernahme im Oktober 1969 mit der Umsetzung der neuen Deutschland- und Ostpolitik sowie einem ganzen Paket innenpolitischer Reformen.

Unter der Formel „Wandel durch Annäherung“ wurden innerhalb weniger Jahre die außenpolitischen Koordinaten zwischen West und Ost neu justiert und die Prämissen für eine Deutschland- und Ostpolitik gelegt, die bis zum Ende der DDR im Jahr 1989 ihre Gültigkeit behalten sollten. Die entsprechenden Vertragswerke folgten Schlag auf Schlag: der Moskauer Vertrag am 12. August 1970, der Warschauer Vertrag am 7. Dezember 1970, zwischen den beiden deutschen Staaten das Transitabkommen am 17. Dezember 1971, der Verkehrsvertrag am 26. Mai 1972 und der Grundlagenvertrag am 21. Dezember 1972. Bereits im Dezember 1971 war Willy Brandt für seine erfolgreiche Außenpolitik mit dem Friedennobelpreis geehrt worden.
Auch innenpolitisch wurde in den ersten Jahren viel bewegt.  Es wurde ein innen- und gesellschaftspolitisches Reformprogramm in Angriff genommen. Dies umfasste die Bildungs-, Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits-, Verkehrs-, Umwelt- und Raumordnungspolitik sowie eine Reform des Strafrechts. Gänzlich neu war das dahinter stehende Gesamtkonzept, das Brandt mit den Worten: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, umschrieben hatte. Eine soziale und liberale Demokratie war das Leitbild dieser Politik, durch die mehr Partizipation und Emanzipation der Bürger erreicht werden sollte, was auch die Verantwortung des Einzelnen für das Gemeinwesen umfasste. Damit kam die sozial-liberale Koalition einem damals weitverbreiteten gesellschaftlichen Bedürfnis entgegen und traf den Zeitgeist.
Nach dem überstandenen Misstrauensvotum am 27. April 1972 ging Willy Brandt mit vollem Elan in den Bundestagswahlkampf desselben Jahres. Der Wahlkampf, ganz auf den Kanzler ausgerichtet, wurde für ihn zu einem Triumphzug durch die Republik. Das Wahlergebnis von 45,8 Prozent, das höchste was die SPD jemals bei einer Bundestagswahl erreicht hat, schien ihn und seine Politik zu bestätigen. Willy Brandt auf dem Höhepunkt seiner Macht?

Wie wir heute wissen, trog das Bild. Dass Brandt aus dem erdrutschartigen Sieg vom November 1972 persönlich nicht gestärkt, sondern angeschlagen hervorging – ist ein wichtiger Faktor in den Entwicklungen der folgenden Monate und hat wahrscheinlich mehr als die „Affäre Guillaume“ seinen Entschluss zum Rücktritt begünstigt. Nach den Strapazen des Wahlkampfes körperlich angegriffen, konnte er nicht an den Koalitionsverhandlungen teilnehmen. Einen Zettel mit seiner Wunschliste für die Besetzung des zukünftigen Kabinetts vergaß Herbert Wehner angeblich in seiner Aktentasche und wurde so nicht berücksichtigt. Ohne Kanzleramtsminister Horst Ehmke, seiner rechten Hand, der auf Druck Helmut Schmidts nicht wieder berufen wurde, fühlte er sich zusehends isoliert. Die großen Vertragswerke der Deutschland- und Ostpolitik waren abgeschlossen, die Preise und Ehrungen vergeben. Die innenpolitischen Reformen stockten aufgrund der aufziehenden Wirtschaftskrise. Hinzu kamen Streiks und überzogene Lohnforderungen der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst.

Innerparteilich sah es auch nicht günstiger aus: Helmut Schmidt und Herbert Wehner kritisierten Brandts Führungsstil und unterstellten ihm mangelnde Durchsetzungsfähigkeit. Wehner tat dies sogar öffentlich vor laufenden Kameras und dazu noch ausgerechnet in Moskau. Sein Ausspruch: „Der Herr badet gerne lau …“, war nur eine von vielen Attacken. Die Brandt früher so wohl gesonnenen Medien distanzierten sich: „Kanzler in der Krise“ titelte der Spiegel am 10. Dezember 1973. Ein Teil der Intellektuellen, die die Wahl Willy Brandts zum Bundesskanzler und seine Reformpolitik massiv unterstützt hatten, distanzierten sich nun von ihrem einstigen Idol. Günter Grass teilte via Bildschirm mit, dass sich die Koalition im „Schlafmützentrott“ befände und der Kanzler „Lustlosigkeit“ ausstrahle.
Willy Brandt war in dieser Situation nicht entschlossen genug. Um seine Autorität zu wahren, hätte er Wehner nach dessen Indiskretionen und öffentlichen Angriffen als Fraktionschef absetzen müssen. Brandt wirkte demotiviert und niedergeschlagen. Gesundheitliche Probleme und der Versuch, sich das Rauchen abzugewöhnen, taten ein Übriges. In dieser für den Bundeskanzler insgesamt schwierigen Lage wurde der Referent im Kanzleramt, Günter Guillaume, als DDR-Spion enttarnt und am 24. April 1974 – nachdem man ihn noch mehrere Monate in seinem Amt belassen hatte – in Bonn festgenommen. Das anschließende Agieren von Verfassungsschutz, BND, Bundesinnenministerium und Bundeskriminalamt in der „Guillaume-Affäre“ trug zur weiteren Schwächung von Brandts Position maßgeblich bei – entstand doch am Ende der Eindruck, als sei der Kanzler und sein Privatleben das eigentliche Problem und nicht so sehr Guillaume. Die fehlende Unterstützung Herbert Wehners als Fraktionsvorsitzender, die in einem Vieraugengespräch in Bad Münstereifel am 4. Mai 1974 offensichtlich wurde, verstärkte Brandts Entschluss zum Rücktritt.

Die Gründe für den Rücktritt liegen letztlich in einer Mischung aus unglücklichen Konstellationen, dem Versagen der zuständigen staatlichen Organe, den innerparteilichen Konstellationen und der Persönlichkeit Willy Brandts. Brandt selbst hat zeitlebens Herbert Wehner im Pakt mit der DDR verdächtigt, eine zentrale Rolle bei seinem Rücktritt gespielt zu haben. Posthum versuchten Brigitte Seebacher und Egon Bahr diese These zu untermauern. Einen Beweis dafür gibt es bis heute nicht und es erscheint nach heutigem Forschungsstand auch eher unwahrscheinlich.
Ob der Rücktritt notwendig oder angesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes früher oder später zwangsläufig gewesen wäre, darüber haben sich schon die Zeitgenossen gestritten und es wird bis heute darüber diskutiert. Die Mehrheit der Bundesbürger hielt den Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Bundeskanzlers im Mai 1974 jedenfalls für unnötig. Und Willy Brandt? Wenige Wochen, nachdem der erste Schock verflogen war, präsentierte er sich gelöst, wie lange nicht und verfasste einen von vielen Erinnerungsbänden. Hermann Schreiber schrieb bereits eine Woche nach dem Rücktritt im Spiegel: „Es ist leicht reden dieser Tage mit Willy Brandt, so leicht wie lange nicht […]. Der Schwung des Befreiungsschlags bewegt ihn noch.“ Befreit von der Last des Amtes, begann Willy Brandt eine dritte Karriere: Er behielt bis 1987 das Amt des SPD-Parteivorsitzenden und übernahm 1978 den Vorsitz der „Sozialistischen Internationale“. Zudem mischte er sich bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1992 als elder statesman aktiv ins politische Geschehen ein. Willy Brandt gehört wohl – so zeigte es sich auch im letzten Jahr, als es anlässlich seines 100. Geburtstages in Öffentlichkeit und Medien zu einem regelrechten „Willy-Hype“ kam – zu den großen Kanzlern der Bundesrepublik. Daran können auch die wenig erhebenden Umstände seines Rücktritts nichts ändern.