von Sarah Czerney

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1. Juli 2014

„Migration ist der Normalzustand und nicht der Ausnahmefall (…)“ heißt es programmatisch auf der Website der Ausstellung „Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt“, die noch bis 12.10.2014 im Deutschen Hygiene Museum in Dresden zu sehen ist.
„Das neue Deutschland“ stehe für eine Gesellschaft von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind, und jenen, die schon da sind. Es steht für ein Land, in dem man verstanden habe, „dass es zu einem Einwanderungsland geworden ist.“ Wie dieses „Neue Deutschland“ aussieht, wohin es sich in seiner kulturellen und sozialen Vielfalt entwickeln kann, und wie wir zusammen leben wollen, sind die zentralen Fragen der Ausstellung.[1]

„Sehnsuchtsorte in aller Welt“ © Robert Pampuch – DHMD

Verlust der Orientierung

Der erste Raum der Ausstellung empfängt die Besucher/innen mit der Installation „Sehnsuchtsorte in aller Welt“.
Auf hölzernen Transportkisten sind berühmte Bauwerke aus Gegenständen des Alltags nachgebaut, so etwa die Blaue Moschee in Istanbul aus Joghurtbechern oder die Freiheitsstatue aus Marshmallows.
An die üblichen Verhaltensregeln in Museen gewöhnt, bleibe ich in einiger Entfernung stehen und betrachte das Ganze, bis ein Sicherheitsmann mich darauf hinweist, dass es erlaubt ist, zwischen den Objekten umherzulaufen und die verschiedenen Bauwerke von nahem anzusehen. Zwischen den verschieden hoch aufgetürmten Kisten stellt sich ein Gefühl ein, das mich im Verlauf des Rundgangs begleiten wird: Ich fühle mich wie auf einem Warenumschlagplatz, in einem Hafen oder auf einem Bahnhof, jedoch ohne mich zu recht zu finden. Die dominanten Gestaltungselemente der Ausstellung –  die Transportkisten aus Holz –  sind so angeordnet, dass sie Orientierung und Überblick verweigern, so dass man zu Beginn des Rundgangs nicht weiß, wo man steht und wohin man gehen wird. Die transportablen Kisten betonen zudem das zentrale Thema der Ausstellungsmacher/innen von Mobilität und Vorläufigkeit und konfrontieren so die Besucher/innen von Anfang an mit entscheidenden Aspekten von Migration.
Nach diesen Momenten der Verunsicherung steht man vor einer Filminstallation des Künstlers Gary Hurst. Unter dem Titel „Unterwegs“ sind auf verschiedenen Fernsehmonitoren Bilder von Waren-, Nachrichten- und Menschenströmen aus unterschiedlichsten Kontexten zu sehen. Daneben finden sich unter der Überschrift „Migration in Zahlen“ mit Kinderspielzeug visualisierte Statistiken zu Themenfeldern der Zuwanderung in Deutschland und Sachsen. So stehen beispielsweise in einer Vitrine verschiedenfarbige Modellautos für die Herkunftsländer von Migrant/innen. Dabei irritiert allerdings, dass einzelne Länder – etwa Polen oder die Türkei –  genannt werden, der gesamte afrikanische Kontinent jedoch nicht nach Ländern aufgeteilt wird. Positiv hervorzuheben ist dagegen die konsequent zweisprachige Gestaltung der Ausstellung (Deutsch und Englisch), die zeigt, dass sich diese nicht nur an ein deutschsprachiges Publikum richtet.

Geschichten vom Weggehen und Ankommen

„‘Das neue Deutschland‘ kann nur in der Begegnung von Menschen gelingen“ heißt es im Ankündigungstext der Ausstellung.[2] Mögliche Formen dieser Begegnungen werden in der Installation Träume. Neue Dresdner erinnern sich inszeniert. Dort sitzen die Besucher/innen in einem mit Teppich ausgelegten Raum einer großen Leinwand gegenüber, auf die Nahaufnahmen verschiedener Gesichter projiziert werden. Im Vergleich zum Rest der Ausstellung herrscht hier eine fast intime Atmosphäre, die Teppiche suggerieren Wohnlichkeit im Temporären, Vorübergehenden. Die Aufnahmen der Gesichter sind in schneller Folge geschnitten und die Stimmen, die aus einem Lautsprecher kommen, erzählen vom Ankommen, vom Gefühl der Fremdheit und vom Einleben in der neuen Gesellschaft. Stimme und Bild gehören jedoch offensichtlich nicht zusammen, so dass nicht klar ist, wer spricht. Zudem haben die Porträtierten hier weder Namen, Geburtsdatum noch Herkunft. Das Statement der Ausstellung, Migration sei eben kein Phänomen einiger marginalisierter Gruppen, sondern der Regelfall, wird in dieser Inszenierung überzeugend vor Augen geführt: Die Geschichten vom Weggehen und Ankommen, von den Schwierigkeiten in neuen Umgebungen sind, so die Botschaft, universelle menschliche Geschichten.

Der Übergang zum nächsten Ausstellungsraum präsentiert sich in Form einer Sicherheitsschleuse, ähnlich denen, die man von Flughäfen kennt. Scheinbar wahllos können einige Besucher/innen die Schleuse unbehelligt passieren, bei anderen wiederum ertönt ein lautes Signal gekoppelt an ein rotes blinkendes Licht. Die umstehenden Besucher/innen schauen fragend: Weshalb darf er/sie nicht passieren? Diese Frage und das Unwohlsein, das man empfindet, wenn man durch die Schleuse geht, sind kluge Effekte einer eigentlich simplen Installation. Begleitet wird die Installation von Ausschnitten aus dem Film „Little Alien“[3] und von Fotografien der Grenzanlagen in der spanischen Enklave Melilla. Sowohl der Film von Nina Kusturica als auch die Fotos der Grenzanlagen machen deutlich, dass die harmlos blinkende Schleuse der Ausstellung für sehr reale und oft lebensgefährliche Grenzpassagen steht. Die Frage „Weshalb wird bei mir Alarm geschlagen?“ wird zur Frage „Weshalb dürfen einige Menschen Grenzen passieren und andere nicht?“.

 

Wege durch das Chaos: Asylverfahren in Deutschland

Ratlos betritt man den nächsten Raum der Ausstellung zum Thema „Im Transit“ und „Wartezone Asyl“ in dem schwarz-weiß Fotografien von Asylsuchende in Deutschland gezeigt werden. Die Protokolle ihrer Lebenswege sind über Kopfhörer auf Deutsch und Englisch zu hören. Im selben Raum findet sich eine der beeindruckendsten Installationen der Ausstellung: Rote Fäden spannen ein unübersichtliches Netz, das an einen U-Bahn-Plan mit verschiedenen Haltestellen erinnert, dargestellt sind die Stationen eines Asylverfahrens in Deutschland. Stationen wie „Ankunft mit dem Flugzeug“, „Grenzübergang“,  „Abschiebehaft“, „Haftentlassung, wenn keine Abschiebung durchgeführt werden kann“ sind hierin markiert. Ein einzelner grüner Faden windet sich durch das Gewirr und steht exemplarisch für den Weg eines Flüchtlings durch das undurchschaubare Verfahren. Ein anderer Faden endet in der Mitte der Installation mit der schockierenden, angesichts des abschreckenden Chaos aus Vorschriften und Institutionen aber nicht überraschenden Markierung „Suizid“. Diese simple Installation macht betroffen und führt mit einfachsten Mitteln deutlich vor Augen, wie kompliziert und menschenunwürdig das im Grundgesetz garantierte Recht auf Asyl in der Praxis oft gehandhabt wird.

„Modernes Antiquariat. Rassismus“ © David Brandt

Orte des Zusammenlebens

Der zentrale Raum der Ausstellung zum Thema „Zusammen leben“ orientiert sich an der Topographie einer Stadt und greift bekannte Orte heraus: das Archiv, in dem man in Zeitungs- und Fernsehausschnitten die Debatten um Einwanderung in Deutschland seit den 1960er Jahren verfolgen kann, den Markt, auf dem verschiedene wirtschaftliche Aspekte von Migration behandelt werden, die Schule und das Gotteshaus. Und schließlich findet man hier den Copy-Shop der Vorurteile - gezeigt werden Tassen, T-Shirts und Kissen mit Abbildern von Karikaturen – und das moderne Antiquariat: Rassismus
Anhand verschiedener Alltagsobjekten wie Kinderbüchern, einer Dose mit dem „Sarotti-Mohr“, einer Tüte „Zigeuner-Gulasch“ werden zeitgenössische Debatten um das Thema (Alltags)Rassismus dargestellt, etwa der Streit um das Wort „Neger“ in Kinderbüchern. Solche sehr gegenwärtigen Debatten in einer Ausstellung über Migration anzusprechen, ist begrüßenswert. Allerdings halte ich die Einordnung des Themas Rassismus in ein „Antiquariat“ für höchst problematisch, suggeriert diese Einordnung doch, dass es keinen Rassismus mehr gäbe, er sozusagen nur noch antiquarisch zu haben sei. Zudem findet sich dem „Antiquariat“ gegenüber ein unscheinbares Exponat, an dem die meisten Besucher/innen achtlos vorbeilaufen. Zu sehen ist ein großer Stein mit dem Hinweis: „Dieser Stein aus der Lausitz hat auch eine Einwanderungsgeschichte: während der vorletzten Eiszeit schoben ihn Gletscher aus Schweden bis nach Welzow.“
Die Verbindung von Objekt und Text mit dem Thema Rassismus wirkt etwas unglücklich und verharmlost durch den Hinweis, auch Steine hätten eine Einwanderungsgeschichte, die Einwanderungsgeschichten einzelner Menschen, die hier thematisierten Erfahrungen mit Rassismus und Gewalt.

 
Jenseits der Logik des Ursprungs

Insgesamt beeindruckt die Ausstellung jedoch vor allem durch erstaunlich einfache Installationen und eine ästhetische Klarheit in ihrer Gestaltung durch das Architektur- und Designteam von raumlaborberlin.[4] Die größte Leistung der Ausstellung besteht darin, mit einfachen Mitteln (Transportkisten, Bindfäden, Alltagsgegenständen) einzelne menschliche Schicksale anschaulich zu verdeutlichen und in dieser Einfachheit  drastisch und sehr klar fundamentale Fragen über Migration aufzuwerfen, wie z.B. „Weshalb darf ich unbehelligt Grenzen passieren und andere lassen ihr Leben dabei?“ oder „Warum werden Menschen, die ihr Grundrecht auf Asyl wahrnehmen wollen, so unmenschlich behandelt?“. Für Museen üblicherweise zentrale „authentische Originalobjekte“ findet man hingegen in der Ausstellung kaum, die diesen Mangel klug für sich zu nutzen weiß. Um Mobilität, Passagen und Lebenswege einzelner Menschen auszustellen, eignen sich offenbar traditionelle „authentische“ Objekte nicht. Stattdessen setzen die Ausstellungsmacher/innen auf die Verwendung von Videos, Fotografien, Audio-Zeugnissen und Installationen aus einfachsten Materialien wie Bindfäden. Damit dekonstruiert die Ausstellung auf kluge Weise die Rhetorik des historischen Ursprungs, die vielen Geschichtsmuseen und -ausstellungen zugrunde liegt.[5]
Insbesondere Geschichtsmuseen wie z.B. das Deutsche Historische Museum in Berlin wollen über das Ausstellen einer als gemeinsam gedachten Geschichte vorführen „woher wir kommen, wo wir stehen und wohin wir gehen“ und damit eine angenommene „kollektive Identität“ konstruieren.
Dazu stellen sie sogenannte „authentische Originalobjekte“ aus, die die Vergangenheit der „imagined community“ materialisieren und als Beweise für deren Ursprung und Kontinuität stehen. Auch die Macher/innen von „Das neue Deutschland“ wollen dieses Neue Deutschland beschreiben und danach fragen, wohin es sich entwickeln kann. Transportkisten, Videos und Fotografien verweigern jedoch die Logik eines gemeinsamen Ursprungs und stehen stattdessen für Vorübergehendes, für Transit und verschiedene Passagen, für Lebensgeschichten, die ständig im Fluss sind und sich nicht eindeutig fest- und ausstellen lassen.

 

„Fragen an die Menschen, die im neuen Deutschland leben“ © David Brandt

Fragen statt Antworten

Dieser Logik folgend, endet die Ausstellung nicht mit Antworten, sondern mit einem großen Raum voller Fragen: „Was verstehen Sie unter Glück?“, „Was muss sich ändern?“, „Kommen Sie mit sich allein zurecht?“, „What does arriving mean for you?“, „Wäre die Integration nach einem WM-Eigentor von Mezut Özil gescheitert?“, „Was heißt Deutsch sein für Sie?“  fragen  Schriftzüge von Plakaten und Leinwänden. Verschiedene Menschen, unter anderem jene, die wir von der Video-Installation im ersten Raum kennen, antworten in einer vielstimmigen und mehrsprachigen Videoinstallation, so dass der Raum in Polyphonie erklingt. Ein Springbrunnen und Sitzflächen laden zum Ausruhen und Nachdenken ein. Und in der Tat kann man beobachten, dass die Besucher/innen, die zum Ausgang zurückgehen, über diese Fragen ins Gespräch vertieft sind. So leistet die Ausstellung in zumeist einfachen,  ästhetisch sehr schönen und beeindruckenden Inszenierungen einen wichtigen Beitrag zum Gespräch über Migration und über unser Zusammenleben.

„Das neue Deutschland. Von Migration und Vielfalt“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, vom 8. März 2014 bis zum 12. Oktober 2014
 

 

 

 

[1] Website des Hygienemuseums zur Ausstellung (25.7.2014)
[2] Website des Hygienemuseums zur Ausstellung (25.7.2014)
[3] Ein Film von Nina Kusturica über Teenager, die allein und unter größter Gefahr aus den Krisenregionen der Welt nach Europa flüchten – in der Hoffnung auf eines: ein Leben zu haben. Zur Website des Film (22.7.2014).
[4] raumlaborberlin  (22.7.2014)
[5] So ist zum Beispiel der erste Teil der Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin überschrieben mit „Deutsche Geschichte von den Anfängen bis 1918“.