von Thomas Etzemüller

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1. Januar 2011

Nach der Jahrtausendwende hatte es so ausgesehen, als würde endlich Gelassenheit in die Diskussion der sogenannten „Bevölkerungsfrage“ einziehen. „Aussterben abgesagt“, titelte etwa Björn Schwentker in einer ZEIT-Serie im Jahre 2006 und entsorgte all die hysterischen Untergangsszenarien der letzten Jahrzehnte.[1] Nur noch Inkontinenzhilfen, Krücken und Kukident in den Supermarktregalen? Kein Nachwuchs, um die zahllosen Demenzpatienten im Rollstuhl zu schieben? Städte wie Gelsenkirchen oder Bremerhaven abgerissen?[2] Die Angst vor der demographischen Katastrophe schien plötzlich nicht mehr richtig zu ziehen. Aber: zu früh gefreut. Mit dem Grusel vor dem Untergang läßt sich eben doch besser Kasse machen — und Politik. Das jüngste Elaborat darüber, daß ein ganzes Land sich angeblich abschaffe, wird letztlich doch als Anstoß zur „Diskussion“ drängender gesellschaftlicher Probleme gewertet. Nach wie vor sind Fragen von Migration, Ausländeranteil und „Leitkultur“ in Deutschland emotional besetzt, um sie wirklich als nüchtern lösbare Probleme zu behandeln. Und wir stehen damit ja nicht allein. In mehreren Ländern Europas wird der vermeintlich zu hohe Ausländeranteil gegen die heimische Geburtenrate in Stellung gebracht. So simpel wie einleuchtend scheint der Ausweg: Zuwanderung bremsen, Islamisten und Kriminelle abschieben, einheimische Frauen der Mittelschichten zu einer erhöhten Geburtenrate bewegen. Wie ein Ballon sollen Sie den Raum der Nation mit Kindern füllen und die Ausländer hinauszudrängen helfen — und zugleich die sozialen Unterschichten in Schach halten.

„Wir“, „Die“ und der Raum — das sind die Ingredienzen, aus denen der Bevölkerungsdiskurs besteht. „Bevölkerung“ wird auf einen spezifischen Raum bezogen und dann differenziert — in die „Wertvollen“ („Wir“) und die „Minderwertigen“ („Die“). Heute ist man sensibler mit der Begrifflichkeit, doch die Unterscheidung zwischen einer kulturell, sozial und sogar biologisch erwünschten einheimischen Mittelschicht, den „Leistungsträgern der Gesellschaft“, sowie den „problematischen“ Ausländern und sozialen Unterschichten prägt überdeutlich auch die aktuelle Debatte: Massenhaft integrationsunwillige Ausländer, die ihre Zeit entweder auf den Sozialämtern oder auf Raubzügen verbringen, zwischenzeitlich im Gefängnis, und Horden fernsehglotzender, chipsfressender und verfettender Hartz-IVler bedrohen angeblich das „Humankapital“ Deutschlands. Sie alle bekommen überproportional viele Kinder, verweigern sich der Bildung und damit dem sozialen Aufstieg, sie gefährden durch vormoderne Wertsysteme die Errungenschaften der westlichen Zivilisation oder durch Verdummung das Innovationspotential der Nation.[3] Aber neu ist dieses Denken wahrlich nicht. Um nur ein Beispiel zu zitieren: „Da die Mittelklasse zusammenschrumpft, und die Oberklasse, welche in überwiegender Zahl in den Städten wohnt, nur wenig Nachkommen hat, ist es ja klar, daß das Volk proletarisiert wird und insgesamt eine schlechtere Rassenbeschaffenheit als vor der Industrialisierung annimmt. Es entsteht mit anderen Worten ein ganzes Heer von mehr oder weniger schwach ausgerüsteten Individuen, und diese machen bald ihren Willen geltend. Geht es nicht im Guten, greifen sie zu revolutionären oder anarchistischen (bolschewistischen) Methoden und machen kurzen Prozeß mit allen, die dagegen sind, d.h. die höheren Klassen müssen es ausbaden. Es kommt ein Schreckensregiment. Alles gerät in Unordnung. Die Kultur sinkt. Das Volk entartet nun rasch und geht seinem Untergange entgegen. Neue Völker drängen sich ein. Es kann dann besser oder auch schlechter werden“.[4] Das schrieb ein Bürger des demokratischen Schweden im Jahre 1921, also vor dem „Dritten Reich“, nämlich der Rassenhygieniker Herman Lundborg, später Direktor des weltweit ersten Instituts für Rassenbiologie in Uppsala.

Wie kam es zu dieser Angst? Wie kam es zur immer selben Antwort? Man könnte auf die Kultur- und Sozialgeschichte eugenisch-demographischer Denkmodelle und Praktiken verweisen, aber das reicht nicht. Damit Demographen das Aussterben prognostizieren und Eugeniker Sterilisierungsprogramme propagieren konnten, bedurfte es einer zugrundeliegenden Entität, ohne die, behaupte ich, kein einziges der eugenisch-demographischen Szenarien funktioniert hätte: „Bevölkerung“. Und diese Entität mußte zuerst virtuell konstruiert, erschaffen werden, denn „Bevölkerung“ als Realität existiert nicht.[5] Das Reden über Bevölkerung setzt Bevölkerung als Gegenstand voraus; dieser Gegenstand entstand in einem langen Prozeß seit dem späten 18. Jahrhundert in der Sprache und im Labor, als diskursive „Matrix“ und als „epistemisches Ding“. Erst mit der Genese eines vermeintlich naturgegebenen Gegenstandes konnten diejenigen politischen Effekte greifen, die Menschen bis heute nach vermeintlichen Wertigkeiten differenzieren.

Ich möchte diese Genese von diskursiver Matrix und epistemischem Ding knapp skizzieren.

1. Die „Matrix“ des Bevölkerungsdiskurses entstand seit dem späten 18. Jahrhundert.[6] Für die frühneuzeitlichen Fürsten war Bevölkerung noch eine von mehreren Naturressourcen gewesen. Gab es nicht genug kräftige Menschen in einem der zahllosen Ländchen, dann schien es um die Herrschaft schlecht bestellt, und durch Peuplierungsmaßnahmen mußte das Humankapital wieder auf Vordermann gebracht werden. Das veränderte sich mit der Industrialisierung fundamental. Die Industrie florierte und benötigte Arbeitskräfte. Immer mehr Menschen zogen in die großen Städte, um in Stahlwerken, im Bergbau, der chemischen Industrie, dem Maschinenbau usw. zu arbeiten. Aber die Arbeitsbedingungen waren verheerend. Immer mehr Menschen gerieten in Not. In den Städten bildeten sich slums mit heruntergekommenen Mietskasernen, in denen fünfköpfige Familien in einem Raum hausten, die Schlafgänger gar nicht mitgerechnet. Seit 1800 verursachte die Bevölkerung plötzlich Sorgen: Die elenden Lebensbedingungen schienen den biologischen Bestand der Völker anzugreifen.

Gleichzeitig stiegen jedoch Medizin und Biowissenschaften auf, sie versprachen eine Lösung der Probleme. Zunächst einmal zeigte Darwins Evolutionstheorie, daß die Natur von den einzelnen Spezies erhebliche Anpassungsleistungen verlangte, und daß diese entweder im Laufe von Generationen mutierten oder aber der Auslese zum Opfer fielen. Jetzt konnten die Experten die sozialen Veränderungen und Probleme der expandierenden Industriegesellschaften plötzlich erklären. Das Elend der Unterschichten sahen sie als Indiz einer zunehmenden biologischen Entartung der Gattung Mensch, die dem modernen Leben geschuldet war. Urbanisierung, Verarmung, schlechte Nahrung, erbärmliche Hygiene, Krankheiten, all das griff die genetische Qualität der Menschen an und multiplizierte sich durch Vererbung progressiv bis zum Untergang — wobei sich bereits ererbte und individuell erworbene, körperliche und soziale Eigenschaften vererbten. Eigentlich hielt sich die Natur durch die ständige Auslese von Arten, die nicht mehr der Umwelt angepaßt sind, in einer grundsätzlich idealen Balance aller ihrer Elemente. Die menschliche Gesellschaft dagegen war aus dem Lot geraten. Die Moderne vernichtete positives Erbgut, die degenerierten Menschen pflanzten sich, Dank sozialpolitischer Maßnahmen trotzdem fort, die Auslese war außer Kraft gesetzt, die Gattung schien dem Untergang geweiht.

Das entscheidende Problem stellten für die Experten die „Geistesschwachen“ dar, denn die konnten nicht, wie Geisteskranke, in Anstalten verwahrt werden. Sie lebten, unerkannt von ihrer Umgebung, ihr unsittliches Leben und vererbten, dank ihres angeblich überdurchschnittlich ausgeprägten Geschlechtstriebes, ihre moralisch-biologischen Defekte an zahllose Nachkommen weiter. Da war also plötzlich ein unerwartetes Problem aufgetaucht: die Menschen bekamen zu viele Kinder, nicht zu wenige — genauer gesagt: die „Falschen“ bekamen zu viele Kinder. Bei den „Richtigen“ dagegen ging die Kinderzahl kontinuierlich zurück. Die „Richtigen“ — das war Menschen aus der gehobenen Arbeiterschicht und der Mittelschicht. Die sollten eigentlich Nachwuchs bekommen, weil sie als eugenisch und moralisch „gesund“ galten. Die Folgen sind bekannt. Der Glaube, daß „minderwertige“ Menschen den biologischen Bestand eines Volkes bedrohten, führte im Nationalsozialismus zur massenhaften Vernichtung von Menschen. In den USA, den skandinavischen Demokratien und später der „Dritten Welt“ (und beinahe auch in Großbritannien) wurde „nur“ fleißig sterilisiert, um die Fortpflanzungsfähigkeit „asozialer“ Menschen zu zerstören. Auf der anderen Seite versuchte man durch eine positive Bevölkerungspolitik die Fertilitätsrate der „wertvollen“ Mittelschichten zu steigern, sei es durch Familienkredite, Kindergeld, Mütterkreuze und dergleichen mehr. Bis in die 1950er Jahre gingen Experten davon aus, daß sich biologische Defekte — und dazu zählten etwa Epilepsie, Geistesstörungen, Gaumenspalten, Trunksucht, asoziales Verhalten, Eigensinn, Geiz und dergleichen mehr — vererbten, deshalb mußten die eugenisch gefährlichen „Elemente“ an der Fortpflanzung gehindert werden.

Seit dem späten 19. Jahrhundert wird die Bevölkerungsfrage in einem spezifischen Raster diskutiert: als Ressource und als Bedrohung — ihre Quantität und ihre Qualität. Das nenne ich die Matrix des Bevölkerungsdiskurses, die das Reden über „Bevölkerung“ in Westeuropa und den USA, Anfang, Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts prägte. Es gab zwar Differenzen — zwischen Darwinisten und Lamarckianern; Krisenpropheten oder Neo-Malthusianern[7] —, aber die wogen nicht schwer. Daß tatsächlich eine Matrix das Sprechen über Bevölkerung formatiert, läßt sich an der Existenz ganz spezifischer Elemente erkennen, die, im Grunde bis heute, in praktisch jedem Text zur Bevölkerungsfrage auftauchen, wenn auch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen und unterschiedlicher Intensität:[8]

• Die Vorhersagen ähneln sich. Die sinkende Geburtenrate wird beklagt. Die Basis der Bevölkerungspyramide, die Zahl junger Menschen schrumpft. Auf Grund der höheren Lebenserwartung weitet sich die Spitze der Pyramide aus, die Pyramide wird zur Glocke und dann zur Urne. Zwar wächst die Bevölkerung in absoluten Zahlen, aber das ist dem Einwanderungsüberschuß geschuldet und ohnehin ein Trugbild, denn zukünftig wird auch die absolute Bevölkerungszahl schrumpfen. 1950 oder 1985 oder 2050 wird sie nur noch die Hälfte bis ein Drittel Menschen des jeweiligen Prognosejahres betragen.

• Alle Texte gehen — zumeist implizit — von Raumeinheiten aus, von Territorien, die zumeist den damaligen Nationalstaaten entsprechen, und ihren Grenzen zu Nachbarräumen. Dadurch entsteht ein bestimmtes Verhältnis zwischen Räumen, weil in diesen nämlich eine bestimmte Bevölkerung behaust ist.

• Diese Bevölkerung wird — wie der Raum — als eine homogene Einheit gedacht. Man muß keine Texte aus dem „Dritten Reich“ lesen, um mit wünschenswerter Klarheit präsentiert zu bekommen, daß mit „Bevölkerung“ die ethnisch Eingesessenen gemeint sind. Erst durch den Raum wurde die Grenze zwischen Innen und Außen, Gemeinschaft und Fremden gezogen. Diese doppelte Grenze, die Gemeinschaft und Raum zugleich gegen Andere abgrenzt, konstituiert das bevölkerungspolitische Denken vom 19. Jahrhundert bis heute.

• Damit entsteht eine spezifische Korrelation von Raum und Bevölkerung. Als Ideal gilt ein fixiertes Verhältnis beider Entitäten, als Realität lässt sich Fluktuation zwischen Räumen nicht übersehen. Diese Fluktuation verdankt sich einem Gefälle: Es gibt Räume, die zuviel, und welche, die zuwenig Bevölkerung haben. Übervölkerte Räume entwickeln einen Bevölkerungsdruck auf den Nachbarraum, untervölkerte Räume üben einen Sog auf Nachbarräume aus. Und das ist, so die Experten, allemal problematisch. Der Abnahme der Geburtenrate wird nämlich unweigerlich zukünftig die Schrumpfung der Bevölkerung folgen, und das wird den Raum attraktiv für eugenisch „minderwertige“ Immigranten machen, seien es „die Slawen“ in Deutschland, Finnen oder Immigranten aus dem Süden in Schweden, Marrokaner und Italiener in Frankreich. In jedem Fall werden die daraus resultierenden Rassenmischlinge das Ursprungsvolk bald in die Defensive getrieben haben. Die Rede von der „Über“- bzw. „Untervölkerung“ hätte ohne diese spezifische Relation von Raum und „Bevölkerung“ niemals aufkommen können, und so erklärt sich auch die Koppelung an die eugenische Frage: Die „wertvollen“ Bevölkerungsteile geben angeblich den Raum der Nation preis, der durch „minderwertige“ Unterschichten bzw. Immigranten gefüllt wird.

• Die Diagnosen, warum Ehepaare keine Kinder mehr bekämen, unterscheiden sich zwar in den Details: Ob der Grund nun in der „Rationalisierung des Sexuallebens“ gesehen wurde, oder weil Frauen Kinder nicht mit ihrer Berufstätigkeit vereinbaren könnten, oder weil Kinder für Familien in den wirtschaftlich angespannten Zeiten zu kostspielig seien, oder Eltern zuerst ihre Konsumbedürfnisse befriedigen wollten, bevor sie sich Kinder anschafften — grundsätzlich herrscht in den Texten Einigkeit, daß moderne Lebensweisen die Sozial- und Familienstruktur veränderten, daß dieselbe Moderne, die die Menschen durch Verstädterung und Industrialisierung eugenisch degenerieren lasse, zusätzlich die erwünschten Geburten verhinderte.

• Im Zentrum der Texte stehen mehr oder weniger explizit fast ausschließlich die Frauen. Es sind Frauen, die angeblich keine Kinder bekommen wollen, weil sie lieber arbeiten, sich selbst verwirklichen oder dem Luxus frönen. Es sind Frauen, auf die sozialpolitische Programme zugeschnitten werden müssen. Und es sind in der Regel Frauen, die unter das Messer kommen sollen. Männer werden auf ihre Fähigkeit zur Versorgung der Familien geprüft, im Bevölkerungsdiskurs tauchen sie als Objekte kaum auf — nur als Autoren.

2. Die Matrix hätte auf einer rein sprachlichen Ebene allerdings nicht funktioniert. Sie mußte auf eine Entität bezogen werden, die für real gehalten wurde, nämlich „Bevölkerung“. Aber auch diese Entität wurde konstruiert, nämlich als „epistemisches Ding“. Der Begriff stammt von Hans-Jörg Rheinberger. Er untersucht „die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozeß der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.“[9] Die Dinge selbst sind zunächst grundsätzlich unscharf und unbestimmt. Sie treten erst in einer stabilen Umgebung hervor, nämlich in den technischen Apparaturen und standardisierten Verfahren eines Experimentalsystems im Labor. Dort gewinnen sie Form und Grenzen. Zugleich sorgen sie für Überraschungen, weil sie das Experimentalsystem auf unvorhersehbare Weise beeinflussen. Unschärfe, Stabilisierung, Überraschung und Reproduktion verbinden Ding und Umgebung in Form eines Wechselspiels, das zu permanenten Verschiebungen führt.

Rheinbergers Beispiel stammt aus den Naturwissenschaften, also aus institutionell, historisch und verfahrenstechnisch stabilisierten Disziplinen wie der Biologie, Physik oder Chemie, die in regelhaften Verfahren klar definierte Probleme durch eindeutige, widerspruchsfreie und allgemeingültige Lösungen eliminieren wollen. Anders sieht es bei der Bevölkerungsfrage aus. Sie ist an der Schnittstelle ganz unterschiedlicher Felder angesiedelt, den Sozialwissenschaften, den Naturwissenschaften, der Nationalökonomie und der öffentlichen Meinung. Sie ist also weder einer wissenschaftlichen Disziplin zugehörig, noch überhaupt allein der Wissenschaft, noch einem klar definierten Methoden-, Theorie- und Verfahrenskanon. Mit gewissen Modifikationen läßt sich Rheinbergers Konzept trotzdem übertragen und „Bevölkerung“ als ein epistemisches Ding beschreiben,[10] das vom späten 18. Jahrhundert an in einem höchst heterogenen Feld von statistischen Ämtern, eugenischen Forschungsinstituten, volks- und völkerkundlichen Institutionen oder Museen hervortrat, bis es im 20. Jahrhundert eine Stabilität gewonnen hat, die es heute als eine unhinterfragbare Einheit erscheinen läßt. In dieser Umgebung wurde der Gegenstand durch spezifische technische und rhetorische Praktiken umkreist und sichtbar gemacht: durch die Herstellung von Statistiken, die Kartierung sozialen Verhaltens, die Visualisierung physiognomischer Typen, aufwendige anthropologischen Vermessungskampagnen, rassekundliche Untersuchungen, Erhebungen in Notstandsgebieten wie der Rhön oder der Eifel, Rekrutenvermessungen und Blutbildkartierungen, durch die Herstellung anatomischer Atlanten oder die Transformation dynamischer Komplexität in suggestive graphischen Abbildungen. Vermessungstechniken wurden kritisiert und verfeinert, Erhebungsfehler ausgewiesen und korrigiert, die empirischen Rohdaten durch komplexe mathematische Modelle „gereinigt“ und aufbereitet. Das mögen keine Laborbedingungen im naturwissenschaftlichen Sinne gewesen sein, aber sie wurden zumindest aufwendig simuliert. Dieser Prozeß war komplex, ich vereinfache ihn beispielhaft auf vier Elemente:[11]

Zuerst wurde das epistemische Ding „Bevölkerung“ in der Statistik profiliert. Statistiken haben den großen Vorteil, daß sie einen umfangreichen, komplexen Gegenstand sehr differenziert in seiner historischen Dynamik abbilden können. Nur in Statistiken konnte „Bevölkerung“ überhaupt als eine nationale Entität in Abgrenzung zu konkurrierenden Bevölkerungen abgebildet und zugleich intern differenziert werden. Allerdings müssen Statistiken interpretiert werden, und genau das erwies sich in der Bevölkerungsfrage als hochgefährlich. Die meisten Demographen sahen beispielsweise in fallenden Geburtenziffern den drohenden „Volkstod“ beweiskräftig vor Augen geführt — doch ihre Gegner, die Neomalthusianer, lasen exakt dieselben Zahlen und interpretierten sie genau entgegengesetzt. In einer schrumpfenden Bevölkerung erkannten sie eine demographische Entlastung des Nahrungsspielraumes und dadurch eine Stärkung der Nation. Letztlich setzte sich jedoch die apokalyptische Interpretation der Bevölkerungsstatistiken durch.

Mit der Statistik hatte man allerdings erst die Oberfläche erfaßt, nämlich die Bevölkerungsdynamik je Land, Region, Sozialschicht usw. Um das Warum der Fertilitätsprozesse und die angeblichen Qualitätsunterschiede des Nachwuchses zu erklären, mußte biologisch ins Detail gegangen werden. Eugeniker konzentrierten sich dabei auf die Vererbung von Erbanlagen. Der erwähnte Herman Lundborg etwa hatte mehrere Jahrzehnte lang ein über 2000köpfiges Bauerngeschlecht in der Provinz Blekinge untersucht. Er trug unzählige Details über Krankheiten und soziale Anomalien zusammen und präsentierte sie in Hunderten von Stammbäumen, Tabellen und Vererbungstafeln eines großformatigen Atlasses, der 1913 in Deutschland und 1920 in Schweden erschien. Die Informationen stammten von Pfarrern und anderen Gewährspersonen sowie aus den örtlichen Archiven; die Daten waren höchst unzuverlässig und unvollständig; soziales Verhalten, Charakterzüge, Krankheiten und psychische Probleme wurden umstandslos vermengt. Am Ende sollte den Lesern das Exempel eines allmählichen erbbiologischen Abstiegs vor Augen stehen. Das, was sich in dieser Blekinger Familiengeschichte abspielte, schien ganz Nord- und Westeuropa zu drohen, deshalb auch wurde Lundborgs Werk von seinen deutschen Kollegen mit großem Interesse rezipiert.[12] Studien dieser Art häuften sich seit dem späten 19. Jahrhundert: Abstammungswege dienten als Umweg, um Erbgänge zu erschließen.

Die Differenzen der aus Erbgängen erwachsenen Erbtypen nahmen Anthropologen in den Blick. Nehmen wir erneut ein beliebiges Beispiel, die Elbinsel Finkenwerder (bzw. Finkenwärder), die in den 1920er Jahren von Walther Scheidt untersucht worden war. Scheidt bezeichnete als „natürliche“ Bevölkerung — im Gegensatz zu einer bloß ortsansässigen — „eine Gruppe von Menschen“, welche durch die „siebenden, modelnden, erbändernden und auslesenden Einflüssen eines bestimmten Wohngebietes“ zu einem „Volkskörper“ verschmolzen sei.[13] Dieser könne, so Scheidt, nur untersucht werden, indem Merkmalsgruppen durch Befragungen, Vermessungen und Archivarbeit aufwendig erhoben und korreliert würden, etwa Länge und Breite der Schädel bzw. Gesichter, Haar- und Augenfarbe, Struktur der Haare usw. Scheidt berechnete „Ahnerbteilsziffern“ auf der Basis genealogischer Daten und erstellte einen „Altansässigkeitsindex“. Auf diese Weise meinte er nachweisen zu können, daß die Finkenwerder Bevölkerung sich mit großer Wahrscheinlichkeit erbbiologisch von den Nachbarpopulationen unterschied, daß Zuwanderer aus diesem Grunde zumeist „gesiebt“ wurden und Abwanderer sich in der Regel erbbiologisch von den übrigen Finkenwerder „Erbstämmen“ unterschieden. Vergleichsstudien über prähistorische und zeitgenössische Schädel anderer Regionen zeigten ihm die erbbiologische Kontinuität auf. Am Ende konnte „kaum Zweifel“ an der Tatsache herrschen, daß die Finkenwerder Bevölkerung eine Rasse darstellte. Altansässigkeit, umgrenzter Raum, geringe Mobilität und gemeinsame Bewährungserfahrungen wurden also biologisch gedeutet, und ähnlich exzessiv haben auch Stadtanthropologen Homologien zwischen sozialen, beruflichen, charakterlichen, körperlichen und geographischen Merkmalen biologisiert. Das, was heute als „Habitus“ beschrieben wird, wurde damals als konsequentes Ergebnis biologischer Unterschiede begriffen.

In der Rassenkunde schließlich wurde der Blick erneut aufs Ganze geweitet, wenn beispielsweise in Deutschland Hans F.K. Günther oder in Schweden Herman Lundborg Kataloge erstellten, an denen die rassischen Unterschiede buchstäblich erschaut werden sollten.[14] Die rassische Zusammensetzung eines Volkes entschied ja über dessen Zukunft; und weil die genetischen Pfade der Vererbung sich den Blicken entzogen, mußte man auf indirekte Daten zurückgreifen, u.a. die Physiognomie. Rassenkundler ermittelten deshalb das typische Aussehen der Menschen verschiedener Klassen, Stände, Berufe und Regionen, um die rassische Zusammensetzung des Volkes und dessen Mischverhältnisse zu erschließen. Sie beschrieben in extenso die unterschiedlichen Rassen Europas bzw. die rassische Feingliederung innerhalb bestimmter Regionen. Das Problem waren die unzähligen Mischungsverhältnisse, die kein Rassenkundler leugnete. Gerade die unscharfen Übergänge und Mischungsverhältnisse versuchten sie zu identifizieren und der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, indem sie unzählige körperliche Indexmaße erhoben und in Tabellen überführten; teils aufwendige Tafeln sollten die feinen Differenzen visualisieren. Der wissenschaftliche Anspruch war derselbe wie der der Anthropologen, Statistiker und Eugeniker: auf einer rein empirischen Basis biologische Sachverhalte zu klären, um „Bevölkerung“ differenzieren, klassifizieren und werten zu können. In ganz kleinen Schritten wollten Rasenkundler ein Gesamtbild des „Volkskörpers“ erstellen, das gleichwohl all die unleugbaren Unterschiede einschloß.

„Bevölkerung“ wurde also aus zwei Komponenten gebildet, nämlich einer sich stabilisierenden diskursiven „Matrix“, die das Sprechen über „Bevölkerung“ prägte, und dem „Labor“ einer Reihe von Professionen, die jeweils unterschiedliche Teile der Bevölkerung vermaßen, beschrieben, bestimmten und bewerteten, sie in Relation zueinander setzten. Allmählich verwandelte sich „Bevölkerung“ derart von einem ursprünglich unscharfen epistemischen Ding in ein klar umrissenes „technisches Ding“, in eine unhinterfragbare Entität. Auf dem Weg dorthin geschah zwar etwas Paradoxes: Die manische Datensammlung der Rassenhygieniker hatte aller Zuversicht zum Trotz nie ausgereicht, um die rassenbiologischen Theoreme zu bestätigen. In den 1950er Jahren waren in den zahllosen Karteikästen aber so viele widersprüchliche Daten angehäuft worden, daß die Theoreme zusammenbrachen. Damit, sollte man Denken, war ein substantieller Teil des epistemischen Dings einfach verpufft — doch geschadet hat das nicht. „Bevölkerung“ ist noch lange nicht zu einem „politischen Ding“ verkommen, zu einer vermeintlich eindeutigen Entität, in Wahrheit aber hohlen Form, die bloß noch taugt, angebliche demographische und soziale Katastrophen zu skandalisieren. Das funktioniert nach wie vor erfolgreich. Darüber hinaus ist das epistemische Ding für den biopolitischen Zugriff auf die Bevölkerung hinreichend intakt geblieben. Es hat sich nur etwas verändert.

Eugenikern oder Anthropologen meinten einstmals beweisen zu können, daß eine Art vorindustrieller, ständischer Sozialordnung mit der Mittelschicht im Zentrum der Natur entsprach. Bis weit in die 1960er Jahre wurde diese bürgerliche Lebenswelt mit eugenischen und demographischen Argumenten zur natürlichen Ordnung erhoben und verteidigt. Jedes Individuum war in seiner Sozialschicht zu fixieren, das Anwachsen bestimmter Schichten war zu verhindern, Geschlechterverhältnisse waren zu zementieren und Fremde vor den Toren der Nation zu halten. Das gilt, beobachtet man die aktuelle Debatte, weiterhin. Zugleich sind neue Felder hinzugekommen. Quantitativ geht es beispielsweise um den Umbau der Sozialsysteme, die durch zunehmende Empfängerzahlen immer stärker belastet werden. Demographie läßt sich als schlagkräftiges Argument einsetzen, den Sozialstaat zu reformieren (das muß keine Verschlechterung bedeuten). Qualitativ trifft es das ungeborene Leben, das mit Hilfe immer detaillierterer medizinischer Screenings zum Kosten-Nutzen-Kalkül reduziert wird: Soll man das Risiko von Behinderungen, Erb- oder Zivilisationskrankheiten oder auch nur unerwünschten Eigenschaften hinnehmen? Außerdem rücken „Alte“ ins Visier, sofern sie zu Pflegefällen werden und die Sozialkassen belasten. Die Stimmen mehren sich, die eine aktive Sterbehilfe für unheilbare Pflegefälle befürworten — und fordern. Und dann das angeblich sträflich vernachlässigte „Humankapital“ der Gesellschaft. Durch die Geburtenausfälle habe sich eine gewaltige Investitionslücke aufgetan, obwohl doch eine moderne Nation hochqualifizierte Arbeitskräfte, kompetente Konsumenten, verantwortliche Eltern, partizipationsfähige Bürger und aktive Mitglieder einer Zivilgesellschaft benötige, um den „Anschluß an die Welt“ nicht zu verpassen. Und diese Bürger müssen Mindestanforderungen erfüllen! Ihr intellektuelles Potential muß der modernen Welt angepaßt sein, außerdem sollen sie keine kostenträchtigen körperlich-genetischen Defekte aufweisen. Deshalb stehen nach wie vor die Frauen im Mittelpunkt der Bevölkerungspolitik, denn von ihnen erwartet man den geeigneten Nachwuchs. Sie sind das Ziel immer ausgeklügelterer diagnostischer Methoden, die immer feinere Risikoabschätzungen zulassen und immer genauere genetische Normalitätskurven zeichnen. Schließlich sind da noch die Bewohner der „Dritten Welt“, die seit den 1950er Jahren zunehmend als eine Art Biomasse imaginiert werden, die Europa zu überschwappen droht, und die, vor allem in den 60er und 70er Jahren, mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen an der Fortpflanzung gehindert werden sollten — weniger durch Zwangs- denn durch verheimlichte Sterilisierungen.

„Bevölkerung“ hat etwas ihre Figur gewandelt, die Sprache ist vornehmer geworden, doch nach wie vor ist sie eine zutiefst politisierbare, stabile Entität; nach wie vor gilt, was der Nationalökonom Julius Wolf bereits 1931 formuliert hat, nämlich „daß die Bevölkerungsfrage von heute in ihrem tiefsten Grunde eine Frage der Ordnung der Welt ist.“[15]

 


[1] „Die Zeit“, 8.6., 14.6., 22.6., 29.6.2006.

[2] „Der Stern“, 30.6.2005, S. 28.

[3] Vgl. z.B. die Artikel der emeritierten Demographen Josef Schmid und Herwig Birg („Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 8.11.1995, 9.4.2009).

[4] Lundborg, Herman: Rassenbiologische Übersichten und Perspektiven, Jena 1921, S. 26f. Der Text wurde zuerst in Deutschland publiziert.

[5] Es mögen Menschen existieren, ihre Gliederung und gruppenweise Zusammenfassung in Alterskohorten, Nationalitäten, Wertigkeiten usw. ist eine Konstruktion, vgl. bereits Winkler, Wilhelm u.a.: Art. „Bevölkerungswesen“, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2, Jena 41924, S. 633-825, hier S. 633 [urspr. 1891].

[6] Ausführlich: Etzemüller, Thomas: Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007.

[7] Vgl. Weipert, Matthias: „Mehrung der Volkskraft“: Die Debatte über Bevölkerung, Modernisierung und Nation 1890-1933, Paderborn u.a. 2006.

[8] Die ausführlichen Nachweise in Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang.

[9] Rheinberger, Hans Jörg: Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 11 (Hervorh. im Orig.).

[10] Vgl. zuerst Schlimm, Anette: Das „epistemische Ding“ Bevölkerung. Möglichkeiten einer kulturgeschichtlichen Betrachtung der Bevölkerungswissenschaft, in: Langner, Ronald u.a. (Hg.): Ordnungen des Denkens. Debatten um Wissenschaftstheorie und Erkenntniskritik, Berlin 2007, S. 97-107.

[11] Detaillierter untersuche ich das im Moment in einem von der DFG geförderten Projekt mit dem Titel „‚Bevölkerung’: Die ‚Bevölkerungsfrage’ und die soziale Ordnung der Gesellschaft, ca. 1798-1987“.

[12] Lundborg, Herman: Medizinisch-biologische Familienforschungen innerhalb eines 2232köpfigen Bauerngeschlechtes in Schweden (Provinz Blekinge), Jena 1913.

[13] Scheidt, Walter: Niedersächsische Bauern II. Bevölkerungsbiologie der Elbinsel Finkenwärder vom dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart, Jena 1932, S. 1f.

[14] Vgl. Günther, Hans F.K.: Rassenkunde Europas. Unter besonderer Berücksichtigung der Rassengeschichte der Hauptvölker indogermanischer Sprache, München 1924; Lundborg, Herman: Svenska folktyper. Bildgalleri, ordnat efter rasbiologiska principer och försett med en orienterande översikt, Stockholm 1919.

[15] Wolf, Julius: Art. „Bevölkerungsfrage“, in: Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 52-66, hier S. 65 (Hervorh. im Orig.).