Veröffentlicht: Januar 2010
Der 38. Rechtshistorikertag 2010 in Münster verabschiedete eine Resolution über den Zugang zu Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts. Publik wurde das Thema durch mehrere Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[1] Die Linke formulierte dazu eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung.[2] Die Antworten der Bundesregierung enthalten spannende und ergänzende Informationen zu diesem Themenkreis, vermeiden jedoch eine klare Position in dieser Sache.[3]
In sechs Punkten forderte der Ständige Ausschuss des Rechtshistorikertages im September 2010 eine Regelung, die den Zugang zu Unterlagen des Bundesverfassungsgerichtes fixiert. Diese Neuregelung soll sich an den Regelungen des Bundesarchivgesetzes sowie den dort niedergelegten Fristen von üblicherweise dreißig, höchstens sechzig Jahren orientieren. Allgemein gilt nach dem Bundesarchivgesetz, dass Verfassungsorgane, Behörden, Gerichte und andere öffentliche Stellen des Bundes, Unterlagen, die sie nicht mehr benötigen, an das Bundesarchiv oder ein Landesarchiv abgeben müssen. In der Regel steht die Benutzung des Archivgutes nach Ablauf von dreißig Jahren allen Bundesbürger/innen zu. Eine der wichtigsten Ausnahmen dieses Grundsatzes bildet Archivgut, das sich auf Personen bezieht. Hier beginnt die Frist von dreißig Jahren mit dem Tod der Person. Weitere Ausnahmen bestehen überwiegend aus Schutzinteressen der Bundesrepublik oder einem ihrer Länder, von Dritten oder Geheimhaltungspflichten nach dem Strafgesetzbuch.Eine für Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen[4] äußerst relevante Ausnahme existiert hinsichtlich des Archivguts der DDR, für das die dreißigjährige Frist nicht gilt. Die Unterlagen der Staats-, Partei- und Massenorganisationen der DDR sind weitgehend zugänglich.Eine weitere Ausnahme stellen Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts dar, die zwar zu einem großen Teil im Bundesarchiv aufbewahrt werden, jedoch nicht als Archivgut gelten. Für Verfahrensakten gibt es Akteneinsichtsrechte, über die das Bundesverfassungsgericht entscheidet. So bezeichnete „Nebenakten“[5] – dies sind Entscheidungsvorschläge (Voten) und -entwürfe – des Bundesverfassungsgerichts sind von den Akteneinsichtsrechten jedoch ausgenommen und vom Beratungsgeheimnis erfasst, wie es die gängigen Kommentare zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz auslegen[6].Über den Zugang von Wissenschaftlern zu den Akten entscheidet das Bundesverfassungsgericht - seiner Ansicht nach großzügig – im konkreten Einzelfall.Im Herbst 2010 sollte es eine Plenumsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine allgemeine Zugangsregelung geben. Von einer solchen ist bislang nichts bekannt.
An der Resolution des Rechtshistorikertages ist vor allem interessant, dass ein Diskurs im Vorfeld, eine Debatte, ein konkreter Konfliktfall kaum wahrnehmbar war. Eine Erklärung dafür bietet die Tatsache, dass die Rechtsgeschichte an den Universitäten bei den Rechtswissenschaftlern als Grundlagenfach angesiedelt ist. Professor/innen und solche, die es werden wollen, erforschen und lehren neben der Rechtsgeschichte auch geltendes Recht, meist Zivilrecht. Zudem umfasst die Rechtsgeschichte alle Epochen vom Altertum bis zur Zeitgeschichte, so dass wenige Forscher Projekte bearbeiten, in denen Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts relevant sind. Dieser kleine Akteurskreis vermag es kaum, eine starke fachinterne oder gar öffentliche Debatte zu initiieren. Einzelne Stimmen in der Literatur zur juristischen Zeitgeschichte haben auf die Praxis des Bundesverfassungsgerichts und besonders den Zugang zu den „Nebenakten“ hingewiesen – zum Beispiel in dem von Jörg Menzel herausgegebenen Sammelband über hundert Verfassungsgerichtsentscheidungen[7] oder dem von Thomas Henne und Arne Riedlinger herausgegebenen Band über das Lüth-Urteil des Gerichts[8]. Das besondere Interesse von Rechtshistorikern an Voten und Entscheidungsentwürfen gründet darin, dass sich aus ihnen unter anderem nachvollziehen ließe, welche Optionen und Argumente die Richter erwogen haben. Diese entscheidungsrelevanten Argumente spiegeln sich kaum im Urteil selbst wider. Solche Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen sind in der Rechtsgeschichte eher neu, da Rechtshistoriker lange Zeit eher normen-, dogmen- oder institutionsgeschichtliche Zugänge gewählt haben. Wenn Wissenschaftler des geltenden Öffentlichen Rechts historische Betrachtungen angestellt haben, standen ebenfalls die ergangenen Entscheidungen für sie im Vordergrund.Wie großzügig der Zugang zu den Unterlagen auch sein mag, sind diese Einzelfallentscheidungen ohne gesetzliche oder zumindest allgemeine und transparente Grundlagen juristisch problematisch. Hervorzuheben ist hier die Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes. Wenn das Bundesverfassungsgericht etwa einem Antrag nicht entspricht, greift es in diese Freiheit ein. Dafür gibt es Rechtfertigungsgründe wie zum Beispiel das Beratungsgeheimnis, die jedoch je länger eine Entscheidung zurückliegt umso weniger tragfähig sind. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes kann berührt sein. Es ist zwar möglich, dass diejenigen Personen, die über die Anträge entscheiden, diesen Grundsatz immer berücksichtigen. Antragstellenden Personen bleibt jedoch eine Überprüfung anhand allgemeiner und objektiver Kriterien verwehrt, wenn sie eine Verletzung dieses Grundsatzes annehmen. Eine Regelung wie das Bundesarchivgesetz schafft Rechtssicherheit und gewährt Einzelpersonen einen Anspruch auf Aktenzugang. Mit einer solchen Rechtsposition wären Wissenschaftler nicht mehr auf die großzügige Praxis des Gerichtes im Einzelfall angewiesen, sondern hätten eine Basis für Rechtsschutzmöglichkeiten sowie eine berechenbare und nachvollziehbare Grundlage für ihre Projekte und Forschungsinteressen.
[1] M. Otto in FAZ vom 28.08.2010: „2046 weiß man alles über die KPD“; FAZ vom 15.09.2010: „Keine Gnade für Doktoren!“, FAZ vom 07.12.2010: „Das Gericht braucht die KPD-Akten noch“.
2] Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BT-Drucksache 17/3579.
[3] Antwort der Bundesregierung, BT-Drucksache 17/4073.
[4] Im Folgenden wird aus Verständlichkeitsgründen lediglich die männliche Form verwendet. Die Autorin bittet darum, die weibliche Form mitzulesen. Das entspricht zwar auch der weitverbreiteten Lesegewohnheit, ist aber gewählt, da in den beschriebenen Kontexten Frauen in der Minderheit waren und überwiegend noch sind.
[5] Sennekamp, in: Umbach/Clemens/Dollinger: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar, § 35a Rn. 11, 2. Aufl. 2005.
[6] Umbach/Clemens/Dollinger: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005; Maunz/Schmidt-Bleibtreu: Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Loseblatt-Kommentar, 33. Aufl. Stand: August 2010.
[7] Menzel: Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2000.
[8] Henne/Riedlinger: Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht: Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 2005.