Für Jugoslawien war der Tod Josep Broz Titos am 4. Mai 1980 ein einschneidendes Ereignis. Der ethnisch und religiös sehr heterogene Staat überlebte Tito zwar noch um ein Jahrzehnt, ohne die integrative Kraft des charismatischen Führers konnte den Zentrifugalkräften jedoch nicht mehr lange Einhalt geboten werden.
Nachdem Titos Leichnam im präsidialen „Blauen Zug“ von Ljubljana über Zagreb nach Belgrad gebracht worden war, wurde er im Belgrader Parlamentsgebäude aufgebahrt. JugoslawInnen standen stundenlang an, um Tito die letzte Ehre zu erweisen. Zu den Beerdigungsfeierlichkeiten am 8. Mai strömte eine halbe Million Menschen zusammen, unter ihnen zahlreiche Staatsgäste aus aller Welt. Zugleich wurde der Trauerakt als nationales und internationales Medienereignis auch am Bildschirm verfolgt: „Die ganze Familie guckte sich drei Tage lang im Fernsehen die Beisetzung in Belgrad an und weinte“, schrieb Dubravka Ugrešić in ihrem Roman Das Ministerium der Schmerzen, der im Jahr 2005 auf Deutsch erschien.[1]
An der Beisetzung Titos in seiner Residenz, dem „Haus der Blumen“ in Belgrad, nahmen 209 Delegationen aus 127 Staaten teil. Damit war die Beerdigung des jugoslawischen Staatschefs die größte Trauerversammlung, die bis dahin weltweit stattgefunden hatte.[2] Mitten im Kalten Krieg, ja sogar in einer Phase besonderer Konfrontation nach dem NATO-Doppelbeschluss und der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979, kamen Staats- und Regierungschefs von beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ zusammen; so beispielsweise aus Großbritannien, Frankreich und Italien ebenso wie aus Ungarn, Polen, Bulgarien und Rumänien. Leonid Breschnew und der langjährige Außenminister Andrei Gromyko repräsentierten die Sowjetunion, US-Präsident Jimmy Carter ließ sich allerdings durch Vizepräsident Walter Mondale vertreten. Auch aus der „Dritten Welt“ jenseits der beiden Blöcke waren zahlreiche Gäste zugegen.
Eine Erklärung für die große internationale Anteilnahme lässt sich in der von Tito geprägten jugoslawischen Außenpolitik finden. Der ehemalige Marschall der kommunistischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg und jugoslawische Staatschef seit 1945 hatte sich schon früh Stalins Hegemonialansprüchen widersetzt und Jugoslawien von der Sowjetunion abgegrenzt.[3] Da Tito sein Land trotz zugesagter US-amerikanischer Unterstützung ebenso wenig zum Satelliten der USA werden lassen wollte, entwickelte die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) für das Land einen „dritten Weg“. Die zentralstaatlichen Leitungsfunktionen in der Wirtschaft wurden reduziert und ein Modell der Arbeiterselbstverwaltung umgesetzt. In der Außenpolitik suchte Tito nach neuen Verbündeten und wurde so, zunächst vor allem im Trio mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru und dem ägyptischen Staatspräsidenten Nasser, zum Initiator der Blockfreien-Bewegung.[4]
Durch seine Führungsposition in der Blockfreien-Bewegung gestärkt, stieg der vielreisende Tito – wohl auch dank seines Selbstbewusstseins, seines Charismas und seiner Geselligkeit – zum weltweit geachteten Staatsmann auf. Daher führte seine Beerdigung politische Führungspersönlichkeiten aus beinahe allen Ländern der Welt und unterschiedlichen, teils antagonistischen politischen Lagern zusammen.
[caption]
Spiegel-Titel vom 12. Mai 1980
[/caption]
Aus zeitgenössischer deutsch-deutscher Sicht wird die Bedeutung von Titos Beerdigung als politisches Ereignis besonders deutlich: Am Rande der Trauerfeierlichkeiten kamen Erich Honecker und Helmut Schmidt erstmals seit der Konferenz von Helsinki im Jahr 1975 zu einem Meinungsaustausch zusammen. Dies war für den SPIEGEL Anlass, am 12. Mai 1980 ein Foto von Schmidt und Honecker mit dem Titel „Deutscher Gipfel in Belgrad: Zurück zur Entspannung?“ (s. Abb.) zu veröffentlichen. In dem recht langen Spiegel-Artikel wird ausführlich, zuweilen anekdotenhaft von der deutsch-deutschen Begegnung berichtet, die ungezwungen und fast familiär verlaufen sei:
„Punkt 18 Uhr […] ging die Tür auf, herein kam Erich Honecker. ‚So, da sind Sie ja schon‘, rief Schmidt, ‚ich habe noch die Schuhe aus.‘ Darauf der SED-Chef, keineswegs pikiert: ‚Das macht doch nichts, das ist bequem.‘“
Aus dem Gespräch resultiere, so der Beitrag: „Bonn und Ost-Berlin hätten ein gemeinsames Interesse daran, eine weitere Zuspitzung der internationalen Lage zu verhindern. Die Weltkrise dürfe sich nicht verschärfen, der Dialog zwischen den Supermächten USA und UdSSR müsse wieder in Gang kommen. Europa sei unbedingt als Zentrum des Friedens zu erhalten.“[5]
Tatsächlich taten sich auf dem „Trauer-Gipfel am Grabe“ (so titelte die ZEIT vom 9. Mai 1980) vor allem EuropäerInnen und VertreterInnen der blockfreien Staaten als verhandlungsbereit und annäherungswillig hervor. Von der heimischen Presse erwartungsvoll verfolgt, führten beispielsweise Schmidt und Honecker zahlreiche Gespräche mit PolitikerInnen aus aller Welt. Der eigentliche Anlass der Zusammenkunft trat dabei in den Hintergrund, wie es SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann aus dem Hotel Intercontinental schildert, in dem ein Großteil der Staatsgäste untergebracht war:
„Man kennt sich, aber in so bunter und vollständiger Zusammensetzung – von Jassir Arafat bis Karl Carstens – begegnet man einander nicht einmal in der Uno. Die Beerdigung, wenn erwähnt, nennen die Angereisten ‚das Ereignis‘. Der Name Tito fällt kaum, höchstens vom ‚großen Staatsmann‘ sprechen die Gäste. Daß aus den Lautsprechern dezente Trauermusik in die Halle rieselt, wer bemerkt es schon? […] Die Hektik ist allgemein. ‚Working funeral‘ nannten die Amerikaner so etwas schon bei der Beisetzung Konrad Adenauers, ein ‚Arbeitsbegräbnis‘ ist auch das in Belgrad.“[6]
„So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“, zitiert der SPIEGEL Helmut Schmidt, der sich in einer neuen Bonner Entspannungspolitik versuchte und eine baldige Reise nach Moskau plante.[7] Durch Carters Abwesenheit zeigt sich jedoch die kritische Distanz wenigstens der einen Supermacht zu den Annäherungsversuchen der kleineren Blockstaaten, weshalb die Bewertung der Gespräche in der zeitgenössischen Presse unterschiedlich euphorisch ausfiel.[8] Dennoch wird die Besonderheit der verschiedenen Treffen hervorgehoben, bei denen PolitikerInnen die Fronten des Systemkonflikts vorsichtig hinterfragten. Das Entstehen dieses Begegnungsorts am Rande der Trauerfeierlichkeiten für Tito zeigt, dass es trotz der scheinbaren Totalität der durch den Kalten Krieg entstandenen bipolaren Weltordnung Möglichkeiten für Annäherungsversuche sowie Orte der Begegnung und des Austausches gab. Dies betont auch die neuere Forschung zum Kalten Krieg, die auf die Durchlässigkeit und Flexibilität von Grenzen sowie auf die (grenzüberschreitenden) Handlungsspielräume einzelner Akteure hinweist.[9]
Tito war eine selbstbewusste und eigensinnige Persönlichkeit, deren Agieren die bipolare Logik der Blockbildung unterlief. Auf den Beerdigungsfeierlichkeiten erreichte seine integrative Rolle während des Kalten Krieges geradezu einen Höhepunkt.
Die Beerdigung Titos, obschon selbst für die zahlreichen Staatsgäste teilweise in den Hintergrund geratend, war somit ein posthumer Gipfel seines politischen Wirkens und als „working funeral“ ein Begegnungsort im Kalten Krieg.
[1] Aus Dubravka Ugrešićs Roman Das Ministerium der Schmerzen, zitiert nach: Herter, Gerald (Red.): Blumen für Tito (pdf-Dokument): Serbien und die Sehnsucht nach Jugoslawien. Radiobeitrag der Reihe Gesichter Europas, Deutschlandfunk, 17. September 2016, 11:05 Uhr.
[2] Vgl. Halder, Marc: Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien. München 2013, S. 230. Inzwischen wurde die Beerdigung Titos durch die Beerdigung von Papst Johannes Paul II übertroffen, an der am 8. April 2005 Delegationen aus 158 Staaten teilnahmen.
[3] Vgl. Pirjevec, Jože: Tito. Die Biografie. München 2016.
[4] Zur Blockfreien-Bewegung vgl. Mišković, Nataša u.a. (Hg.): The Non-Aligned Movement and the Cold War. Delhi - Bandung - Belgrade. London/New York 2014.
[5] o.V.: „So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[6] Leinemann, Jürgen: „Nicht zu breit lächeln“. SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann in Belgrad. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[7] Vgl. „So ein Begräbnis müßte jedes Jahr sein“. In: DER SPIEGEL, 12.05.1980.
[8] Für diesen Text bildet die Analyse von ost- und westdeutschen Presseerzeugnissen den Hintergrund, v.a. Neues Deutschland, DER SPIEGEL und DIE ZEIT. Sehenswert und informativ ist darüber hinaus ein Youtube-Video mit Tagesschau-Ausschnitten rund um Titos Tod und Begräbnis.
[9] Vgl. Forschungsagenda des Berliner Kollegs Kalter Krieg.