Alles an Twitter scheint den Bedürfnissen der Wissenschaft zu widersprechen: Es ist schnell, kurzlebig, assoziativ und – wenn wir Wissenschaft als jenes Funktionssystem fassen, in dem es um die Suche nach Wahrheit geht – aberwitzig offen und beliebig. Twitter ist Trump oder Facebook, irgendwas mit „sogenannten social media“. Twitter ist ordinär und verdirbt die Schriftkultur. In einem sehr klugen Essay, dessen Intention vornehmlich die Konstruktion einer semantischen Twitter-Gegenwelt zu sein scheint, erläuterte jüngst DFG-Präsident Peter Strohschneider, inwiefern Twitter möglicherweise eine Gefahr für die Demokratie darstelle. Auch das noch.[1]
Ist das aber wirklich so klar und einfach mit der Schlechtigkeit von Twitter? Das größte Missverständnis der Kritiker*innen liegt auf der Hand: Sie meinen, das Medium sei auf den Punkt zu bringen. Als gäbe es die eine Eigenschaft von Twitter, seine ganz bestimmte Diktion und die klar definierte Funktion, die den Griff nach der Weltmacht vollzieht und die Demokratie stranguliert. Gleich zweimal spricht Peter Strohschneider in seiner Kritik von der „dauererregten Exklamatorik“ auf Twitter. Gewiss, häufig trifft das zu. Oft aber auch nicht. Zahlreiche eher bedächtige Personen auf Twitter kommen ihrem Bedürfnis nach Weitschweifigkeit gern mithilfe des „Threads“ nach, also vieler aneinander gehängter Tweets. Einige der beliebtesten Phrasen auf Twitter sind entschleunigend: „Meinst Du wirklich?“, „Das Argument scheint mir noch nicht ganz ausgereift“, „Darüber muss ich nochmal nachdenken“.
Twitter ist ein bisschen wie Paulus: Den Griechen ein Grieche, den Populisten ein Trump. Die anwachsende, sich ausdifferenzierende Forschung über Twitter weiß das. Die Soziologin Bernadette Kneidinger-Müller etwa oder der Medienwissenschaftler Johannes Paßmann würden Twitter niemals simplifizierend auf einen Tweet bringen. Fachleute verweisen auf „die Komplexität der Interaktionssituationen auf Twitter kombiniert mit der hohen interpretativen Flexibilität innerhalb der Logik des Likes“[2]– ganz zu schweigen von den hyperkomplexen Interpretationsmöglichkeiten des Retweetens. Wenn eine Nutzerin den Tweet einer anderen Person auf den eigenen Account postet (= retweetet) und der fremde Tweet dort also unter den eigenen Tweets auftaucht: Was hat das zu bedeuten? Meistens meint ein Retweet Zustimmung, doch beispielsweise Trump zu retweeten, lässt in der Regel auf ein ironisches Statement schließen. Was aber den Trump-Account wahrhaft spektakulär macht, sind nicht seine Tweets (ein typischer Denkfehler von Nichtkenner*innen wie Peter Strohschneider), sondern die Antworten (Replies) auf Trump, die sich in Witz und Geist überbieten. Hier lässt sich wiederfinden, was längst als verloren galt: der Glaube an Amerika. Twitter lebt eben nicht von den Statements top-down, sondern viel mehr vom bottom-up.
Interpretationsoffenheit und multiple Funktionszuschreibungen
Es ist kein Zufall, dass alle, die informiert über Twitter schreiben, über einzelne Accounts berichten, denn jeder Twitterer schafft sich sein eigenes Reich, seine eigenen Funktionen, und alle Benutzer*innen leben nach ihrer speziellen Ästhetik und Twitter-Logik.
Twitter ist wohl kaum das ideale Medium für die Wissenschaft, aber doch das geniale: Es ist auf Gegenseitigkeit angewiesen, es zwingt zur Reflexion, es ermöglicht Schnelligkeit, und es bietet Offenheit. Das erklärt auch, warum bestimmte Intellektuelle es gerne nutzen (und andere nicht): von Paula-Irene Villa bis zu Rudolf Stichweh, von Armin Nassehi und Raewyn Connell bis zu Sibylle Berg. Die polymorphe Gestalt von Twitter, sein flinker Charakter, sein proteisches Wesen kann es ebenso zu einem wissenschaftsfeindlichen Medium machen (alles bleibt beliebig und idiotisch) wie zu einer dienstfertigen und zugleich frechen Magd des Denkens und des Wissens. Zur Wissenschaftskompatibilität gehört allerdings auch, dass Twitter mit seinen Möglichkeiten der Selbstpräsentation dem narzisstischen Verlangen der Wissenschaft mit offenen Armen entgegenkommt.
Taugt Twitter also auch für die Historiographie? Lange Zeit galt die habituell zweifellos konservative Zunft als verloren für dieses Medium. Doch wer auf Twitter nachschaut (was ohne einen eigenen Account möglich ist, was wiederum von erstaunlich vielen genutzt wird), entdeckt tatsächlich immer mehr Historikerinnen und Historiker: Michael Wildt tweetet über Rechtsextremismus, Josephine Hoegaerts schreibt aus Helsinki über Geschlechtergeschichte und Levke Harders aus Bielefeld über Migrationsforschung. Philipp Sarasin zeigt in kühlen Tweets seine Liebe für Europa, und die Friedens- und Konfliktforscherin Claudia Kemper denkt auf Twitter über die Lehre und den Feminismus nach. Achim Landwehr aber bleibt sich treu und tweetet zumeist auf der Metaebene: „Hinreichende Beschreibung des eigenen Tuns: Ich mach’ halt so mein Zeug“, setzte er neulich zwischen einer Gryphius-Strophe und einem Retweet eines typischen Jürgen-Zimmerer-Kampf-der-Ignoranz-gegenüber-Kolonialismus-Tweet ab. Unter dem Schlagwort „Women also know History“ tweetet der Account @womnknowhistory. Charlotte Jahnz und Moritz Hoffmann gehören zu den Pionier*innen der twitternden Geschichtswissenschaft und sorgten schon 2013 mit ihren Tweets über das Novemberpogrom 1938 international für Aufsehen. Sie nutzten die Möglichkeiten des Mediums, um in Echtzeit um 75 Jahre verschoben über die Details des Terrors zu berichten – und damit auf bedrückende Weise (am Handy, direkt, jetzt) den Schrecken einem breiten Publikum zu verdeutlichten.[3] Gleichwohl dominiert die Zeitgeschichte keineswegs das historische Twittern. Im Gegenteil auch in dieser Hinsicht scheinen das Mittelalter und die Frühe Neuzeit methodisch überlegen.
Wie aber sieht das konkret aus: wissenschaftliches, historiographisches Twittern? Entscheidend ist die Möglichkeit des Austauschs. Eine Historikerin, die nach Argumenten sucht oder eine kühne These ausprobieren will, kann dazu Twitter nutzen. Der Widerspruch kommt ganz gewiss. Wenn der Twitter-Verächter einwendet, „einer argumentativen Auseinandersetzung fehlen Zeit und Raum“ in diesem Medium, hat er ganz offensichtlich noch nie die Tweets von Thomas Stockinger oder Dina Pomeranz gelesen.[4] Twitter eröffnet die Kommunikation; der Raum für Replies steht grenzenlos zur Verfügung. Neulich etwa entbrannte auf Twitter ein Streit über die Bedeutung von Nation für die Demokratisierung. Karen Hagemann und Dieter Langewiesche wurden zitiert, Exklusionsmechanismen von Gleichheitsstrategien dargelegt und Konzepte männlicher Staatsbürgerschaft gegen den egalisierenden Effekt des Patriotismus ins Feld geführt. Zu diesen Scharmützeln gehört es auch meistens, dass Texte verlinkt werden oder das Angebot kommt: „Soll ich Dir den Aufsatz mailen?“
Die Flexibilität und hohe Durchlässigkeit des Mediums Twitter erlauben einen intensiven Flow an Meinungen, Hinweisen, Fakten, Vermutungen. Deren Vermengung oder säuberliche Differenzierung sind auf Twitter für jeden vernunftbegabten Menschen nicht schwerer nachzuvollziehen als in anderen Medien.
Eine Historikerin stieß bei ihrer 1848er-Forschung voller Entzücken auf eine Fotografie (Daguerreotypie) der Pariser Barrikaden vom Juni 1848. Sie tweetete das Bild und gab zugleich den Hinweis auf eine entsprechende Publikation des Historikers Christoph Pallaske über das Bild. Sogleich meldeten sich Kollegen und fragten, warum die Straßenszenerie mit Barrikaden so merkwürdig menschenleer sei. Ein User gab zu bedenken, dass die Selbstdarstellung auf Revolutionsfotos gefährlich sein konnte: In Thiers hätten Kommunarden die Bereitwilligkeit, auf den Barrikaden zu posieren, mit dem Leben bezahlt, als sie nach der Niederlage von der Polizei identifiziert und füsiliert wurden. Doch die richtige Antwort auf das Rätsel der verödeten Pariser Straßen ließ nicht lange auf sich warten: Die Belichtungszeit war damals so lange, dass Menschen in Bewegung nicht auf Fotos zu bannen waren. Der Medienhistoriker Pallaske selbst meldete sich, gab fachwissenschaftliche Auskunft – und ein weiterer Twitterer verwies auf den Account der brasilianischen Koloristin Marina Amaral, die historische Fotos einfärbt, wobei er das entsprechend kolorierte Pariser Foto von 1848 an seinen Tweet anhängte.
Die Ästhetik der Reduktion
Hier scheint der Zauber auf, den viele bei Twitter empfinden: Es ist die Schlichtheit des Mediums. Während die meisten Programme eine schier unendliche Vielfalt an Möglichkeiten bieten, bleibt Twitter reduktionistisch. Es gibt nicht mehr als Tweeten, Likes und Replies, und es besteht die Möglichkeit, an einen Tweet ein Medium anzuhängen. Das war’s. Dadurch erhält das angehängte Medium einen hohen Stellenwert: Der Tweet dient der Präsentation des Bildes. Historiker*innen können auf Twitter also ihre Faszination für Artefakte ausleben. Es gibt nicht wenige Accounts für Buchmalerei, und wer auf Twitter aktiv ist, weiß, dass die Fantasie eines hochmittelalterlichen Mönches keine Grenzen kannte; auch Archive oder Museen (wie das Historische Museum in Frankfurt am Main oder die Smithsonian Archives) nutzen Twitter für diese Würdigung einzelner Objekte.
Zur reduktionistischen Ästhetik von Twitter gehört prominenterweise die geringe Anzahl an Zeichen pro Tweet. Die Beschränkung kann zwar, wie deutlich wurde, durch einen Thread hintergangen werden, aber der klassische Tweet kommt doch alleine in die Welt, angewiesen auf 280 Zeichen. Wer im Zwang zur Kürze schon den Populismus dräuen sieht, weiß nichts von der Schönheit der Aphorismen und prägnanten Weisheiten. Die wundervollsten Hölderlinstrophen und einige der wichtigsten historischen Zitate fügen sich problemlos in einen Tweet: „Alles prüfe der Mensch“, so Hölderlin geschichtsphilosophisch, „Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.“ Oder der Tweet, in dem der „Vorwärts“ von 1899 zitiert wird: „Der Kaiser ist nicht die Regierung, denn wir sind ein Verfassungsstaat“ – kann mehr über das Kaiserreich aussagen als manche dickleibige Pickelhauben-Geschichtsschreibung.
Entdifferenzierung: Wo sich Universität, Politik und Patrick Bahners treffen
Für Wissenschaft ist Twitter darüber hinaus dann interessant, wenn sie interdisziplinären Ehrgeiz besitzt. Hier tummeln sich jede Menge Leute aus der Soziologie und den Politikwissenschaften. Kluge Jurist*innen treten ins Gespräch mit Historiker*innen und mit Leuten aus der Literaturwissenschaft. Beim Thema Demokratie beispielsweise bringt die Greifswalder Skandinavistin Berit Glanz ihr Wissen über die Frauenbewegung in Finnland ein, und der Göttinger Politikwissenschaftler Michael Hein berichtet über Entdemokratisierungsprozesse in Bulgarien. Eine ganz eigene intellektuelle Liga schließlich bildet die Theologie, von Sandra Bils, Petra Bahr und Christoph Markschies bis hin zu Hanna Jacobs.
Aber Twitter geht weiter – und hier drängt sich die Frage auf, ob Twitter für die Wissenschaft nicht doch eine gefährliche Verführung bedeutet. Wie viel Abgeschlossenheit ist legitim, wie viel Elfenbeinturm braucht die Wissenschaft? Denn Twitter ist wie ein großer Platz, auf dem sich alle treffen und gemeinsam Whisky trinken. Wissenschaft plaudert mit Politik, und beide tauschen sich mit Journalist*innen aus, kluge Laien beweisen immer wieder ihre Kompetenz; und ständig reden die Leute aus Wien dazwischen („Warum sind hier auf Twitter eigentlich so viele Leute aus Österreich, haben die nicht ihr eigenes Internet?“, fragt ein Tweet). Zumeist interessiert sich zwar nicht die ganze Welt für den Tweet eines Historikers, zuweilen aber Anna-Lena Scholz oder Heinrich Wefing von der ZEIT, Kia Vahland oder Jens Bisky von der „Süddeutschen“ oder die wunderbare Ann-Kathrin Büüsker vom DLF – und ja, natürlich: Patrick Bahners von der FAZ. Volker Beck schießt gerne dazwischen (vor allem, wenn mal wieder Man-wird-ja-wohl-noch-sagen-dürfen-Israelkritik geübt wird), und Christian Lindner versucht, die Contenance zu wahren, wenn der Gaudi der Germanist*innen über seine Tweets kein Ende findet.
Da Twitter immer vieles zugleich ist, vermischen sich auf einem Account oft reizvoll die Systembereiche, und Differenzierungsleugner erleben intellektuelle Triumphzüge. Die Psychologin Jule Specht berichtet auf Twitter von ihrer Forschung und nutzt zugleich das Medium im Kampf gegen den Blödsinn des Personalsystems an deutschen Universitäten. Weithin Beachtung finden die beiden Twitter-Accounts des Wiener Gelehrtenehepaars Katharina Prager und Eugen Pfister, beide tweeten über ihre Forschung und ihre Kinder, über Strickereien, Karl Kaus, Spielzeug und Wien. Die Intellektuelle Christina Dongowski äußert sich zu naturwissenschaftlichen Fragen und zum Wein. Aus Washington D. C. schließlich erzählt die Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier über Sonderlichkeiten des Lebens in der Hauptstadt und über literarische Erkenntnisse.
Twitter-Hierarchien
Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, die Party auf Twitter sei hierarchiefrei. Es gibt ganz klar die Stars, auch in der Geschichtswissenschaft: Die Althistorikerin Mary Beard gehört zu ihnen (230.000 Follower) oder der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze (40.000 Follower). Wie auch sonst ist die englische Sprache nicht zu toppen, was nicht heißt, dass es in den anderen Sprachen nicht auch eigene geschichtswissenschaftliche Twitter-Communities gibt, die auf vielfältige Weise über sprachliche Grenzen hinweg miteinander verbunden sind. Über das Frauenwahlrecht etwa schreibt aus UK Ingrid Sharp (die perfekt Deutsch spricht), und Ros Ball tweetet aus den USA zum Thema, Birte Förster (die alle möglichen Sprachen beherrscht) aus Deutschland und Zoé Kergomard (mindestens multilingual) aus Frankreich. Für viel Aufsehen in der Geschichtstwitterwelt sorgte neulich die Entdeckung, dass es die Encyclopédie von 1751 online gibt, der Link und große Zitate wurden gleich dazu gepostet.
Das schillernde Medium Twitter lässt sich gleichwohl auch in Fragen der Hierarchie nicht auf einen Punkt bringen: Es gibt die unterschiedlichsten Rankings. Warum sollte allein die hohe Follower-Zahl entscheidend sein? Manche halten besonders viele Tweets für besonders prestigeträchtig; es gibt aber auch die Ansicht, die Anzahl der Tweets dürfe keinesfalls die an Followern überschreiten. Ist es cool, wesentlich mehr Follower zu haben als Accounts, denen man selbst folgt, oder ist das nicht vielmehr unhöflich?
Eine wichtige Frage. Denn auf den historiographischen Twitter-Accounts geht es freundlich, kultiviert und meistens auch wohlformuliert zu. Zum Argumentieren gehört auch die Zustimmung, die oft in einem Reply ausgedrückt wird („Merci!“ – „Wie interessant, davon hatte ich noch nie gehört!“).
Neulich notierte eine Twitterin: Was Twitter von Facebook unterscheide, sei das, worauf verwiesen werde. Bei Facebook dominiere die Geste: Schaut mich an! Bei Twitter hingegen: Schaut Euch das an! Einerseits ist das richtig, da es in der Gelehrtenwelt wesentlich darum geht, Forschung darzulegen und Kolleg*innen zu würdigen, wichtige Texte zu zitieren und intellektuelle Kämpfe auszufechten. Und so wichtig die Selbstpräsentation ist: Accounts, die ausschließlich der Pflege des Egos dienen („meine Tagung, mein Buch, mein TV-Auftritt“), stoßen zumeist auf wenig Resonanz. Andererseits aber ist der Vergleich problematisch, denn Twitter hat schlicht nichts mit Facebook zu tun. Einfach gar nichts. Facebook ist für Urlaubsfotos, Twitter für die Coolen – so viel muss bei aller Vorsicht, bei aller Vermeidung von Pauschalisierungen und in aller Bescheidenheit schon gesagt werden.
[1] Diese und die weiteren Zitate von Peter Strohschneider in: POTUS als Twitterer, in: Zeitschrift für Ideengeschichte XII/3 (2018), S. 61-75 [zuletzt abgerufen am 2. Mai 2019].
[2] Bernadette Kneidinger-Müller: Liken und Retweeten, in: Soziopolis, 18.12.2018 [zuletzt abgerufen am 2. Mai 2019].
[3] Noam Cohen: History Comes to Life With Tweets From Past, in: New York Times 17.11.2013 [zuletzt abgerufen am 2. Mai 2019].
[4] Strohschneider: POTUS.