von Susanne Schattenberg

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11. Februar 2020

Am 12. Dezember 1979 fassten die Vertragspartner in Brüssel den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der vorsah, in Westeuropa nahezu 600 neue Mittelstrecken-Raketen mit Atomsprengköpfen zu stationieren. Es war der Auftakt zu einer Hochphase der Friedensbewegung, die gegen die Pershing-II-Stationierung protestierte, und zur neuen Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen.

Kaum bekannt ist allerdings, dass der NATO-Doppelbeschluss enormen Einfluss auf die Entscheidung Moskaus hatte, keine 14 Tage später, am 25. Dezember 1979, in Afghanistan einzumarschieren. In der Logik des Kalten Krieges erschien es dem Westen selbsterklärend, dass die sozialistische Weltmacht ein Nachbarland überfiel, das außer Kontrolle geraten war. Niemand wollte glauben, dass Moskau nicht die Revolution in Afghanistan unterstützt hatte. Absurd klangen die sowjetischen Behauptungen, Afghanistan habe Moskau um militärisches Eingreifen gebeten.

Dabei war beides wahr: Seit den 1920er Jahren und der Regierungszeit Lenins hatte die Sowjetunion sehr gute Beziehungen zum König und ab 1973 zum Präsidenten der Republik Afghanistans gepflegt. Sie hatte Infrastrukturprojekte und afghanisches Gas gefördert, das Bildungssystem mit aufgebaut und für einen regen Tourismus gesorgt. Zwar hatte Moskau auch die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) gefördert, war aber nicht informiert, geschweige denn erfreut, als sich diese im April 1978 an die Macht putschte und unter Nur Mohammed Taraki ein Schreckensregime à la Stalin etablierte. Für das Politbüro in Moskau unter Leonid Breschnew war das ein Rückfall in längst vergangene Zeiten, die die Sowjetunion erfolgreich überwunden hatte. Als das brutale Vorgehen gegen die afghanische Bevölkerung im März 1979 zu einem bewaffneten Aufstand führte, forderte Taraki tatsächlich Militärhilfe aus Moskau an. Doch weder zu diesem Zeitpunkt noch bei den zwischen März und Dezember 1979 folgenden insgesamt 21 Bitten um Truppenentsendung lenkte das Politbüro ein. Zwar war die Besorgnis groß: „Unter keinen Umständen dürfen wir Afghanistan verlieren“, beschwor Außenminister Andrei Gromyko. Aber Moskau beließ es bei Getreide- und Waffenlieferungen, weil es Angst vor dem irreparablen außenpolitischen Schaden hatte. Die Politbüromitglieder erklärten Taraki, sie könnten nicht den US-Einmarsch in Vietnam anprangern und dann selbst in Afghanistan einmarschieren.

Geradezu prophetisch sagten sie die Folgen voraus: den endgültigen Bruch mit dem Westen, die Absage von Gipfeltreffen, antisowjetische Propaganda, einen dauerhaften Imageschaden und die Weigerung des US-Senats, den Vertrag zur Begrenzung von strategischen Waffen (SALT II) zu ratifizieren, den Breschnew und US-Präsident Jimmy Carter erst ein halbes Jahr zuvor in Wien unterzeichnet hatten. Also erklärte Breschnew Taraki: „Das dürfen wir nicht tun. Das würde nur Ihren und unseren Feinden in die Hand spielen.“

Es fragt sich, was Moskau dazu bewegt hatte, trotz besseren Wissens schließlich Truppen zu entsenden. Zunächst führten Flügelkämpfe in der DVAP dazu, dass im Herbst 1979 Taraki von Hafisullah Amin gestürzt und ermordet wurde. Das Politbüro war besorgt, machte jedoch gute Miene zu bösem Spiel und schickte Glückwunschtelegramme, Getreide und Waffen. Die Einschätzung der Lage änderte sich erst, als Moskau erfuhr, Amin habe, frustriert von den Moskauer Absagen, Kontakt zu den USA aufgenommen und stehe mit der CIA in Verbindung. Das gefährdete Gromykos Diktum, Afghanistan auf keinen Fall zu verlieren. Der Abfall Afghanistans hätte nicht nur einen geostrategischen Verlust, sondern auch einen erheblichen Imageschaden bedeutet.

Und dennoch zögerte Moskau: Der Preis eines Bruchs mit dem Westen schien zu hoch. Wenn das endgültige Ende der Entspannungspolitik unausweichlich war, wollte das Politbüro wenigstens nicht dafür verantwortlich sein. Den Testfall, wie es um die Beziehungen zum Westen stand, sah Moskau in dem drohenden NATO-Doppelbeschluss. Es ist typisch für die Phase des Kalten Krieges, dass beide Seiten die Aufstellung von 600 Mittelstreckenraketen jeweils vollkommen unterschiedlich bewerteten. Während die NATO beanspruchte, mit der UdSSR und ihren SS 20-Raketen lediglich gleichzuziehen, beschuldigte Moskau die NATO, das Gleichgewicht zu stören und damit eine überlegene Position zu etablieren. Zwei Monate hektischer diplomatischer Betriebsamkeit begannen. Breschnew warnte den Westen in seiner Rede anlässlich des 30. Jahrestags der DDR vor einem solchen Schritt. In Briefen beschwor er Helmut Schmidt, Willy Brandt und Valéry Giscard d’Estaing, dass es nicht stimme, dass die UdSSR Europa militärisch dominiere. Die ZK-Mitarbeiter*innen überlegten fieberhaft, mit welchen Mitteln man den Westen noch von dem Beschluss abbringen könnte; aber außer einem einseitigen Truppenabzug, verstärkter Propaganda und der Drohung, Erich Honecker werde sich nicht mehr mit Schmidt treffen, fiel ihnen nichts ein. Sie schleusten den Agenten Waleri Lednjow auf dem SPD-Parteitag Anfang Dezember ein, um sich davon zu überzeugen, dass die Basis der Regierungspartei tatsächlich die Stationierung der Raketen befürwortete. Der 12. Dezember war der Tag der Entscheidung: Würde die NATO die Stationierung beschließen, wären die Beziehungen an einem Tiefpunkt angelangt, und das Politbüro würde den Einmarsch nach Afghanistan beschließen, da es außenpolitisch nichts mehr zu verlieren hatte. Breschnew war am 10. Dezember zweimal zu Beratungen mit Politbüromitgliedern im Kreml zusammengekommen. Es ist bezeichnend, dass das Politbüro am 12. Dezember nicht tagte, sondern erst am 13. wieder zusammentraf, um die Afghanistan-Resolution zu verabschieden und diese auf den 12. Dezember vorzudatieren. Damit wurde einer Troika bestehend aus Außenminister Gromyko, dem KGB-Vorsitzenden Juri Andropow und dem Verteidigungsminister Dmitri Ustinow die Vollmacht erteilt, den Einmarsch in Afghanistan durchzuführen. Breschnew leitete die Sitzung, ob er aber angesichts seiner Tablettenabhängigkeit noch in der Lage war, die Bedeutung des Geschehens zu begreifen bezweifeln seine Assistenten.

Sowohl auf Seiten der NATO als auch im Politbüro gab man sich einer grundlegenden Fehleinschätzung hin. Die westlichen Staatschefs glaubten, Moskau werde sich über die Pershings aufregen, aufplustern und dann zu den SALT-III-Verhandlungen übergehen. Die Moskauer Troika hoffte, der Westen werde sich angesichts der Truppen in Afghanistan empören, schäumen und dann zur Tagesordnung zurückkehren. Um den Einmarsch zu erklären, schickte das Politbüro seinen Agenten nach Bonn. Exakt zehn Jahre, nachdem Lednjow Egon Bahr am Heiligabend die Botschaft von der neuen Annäherungspolitik der Sowjetunion überbracht hatte, stand er wieder im Kanzleramt; diesmal mit der Nachricht, sie seien gerade in Afghanistan einmarschiert und wunderten sich, dass die Amerikaner noch nicht reagiert hätten. Am 28. Dezember rief Breschnew Carter an, um ihm zu versichern, dass dies nur eine vorübergehende Maßnahme sei; die Truppen würden wieder abgezogen, sobald sich die Lage stabilisiert habe.

Es erwies sich, dass diese Folgenabschätzung des Politbüros vom März 1979, als Taraki das erste Mal um Truppen gebeten hatte, exakt gewesen war: Sämtliche Gipfeltreffen wurden auf Eis gelegt, SALT-II wurde nie ratifiziert, das außenpolitische Image der Sowjetunion war restlos ruiniert, der Westen boykottierte die Olympischen Spiele in Moskau im Sommer 1980. Was Moskau jedoch nicht kalkuliert hatte und sich als noch viel gravierender als das endgültige Ende der Entspannungspolitik erwies, war die Lage in Afghanistan und der innenpolitische Schaden. Die Troika hatte sich über die Warnung der Militärs hinweggesetzt, ein Einmarsch in Afghanistan sei ein nicht kalkulierbares Risiko. Die Politiker glaubten, es sei möglich wie in Prag 1968 in einer gezielten Operation die Führung austauschen und wieder abziehen zu können. Sie übersahen, dass sich das Land bereits seit einem dreiviertel Jahr im Bürgerkrieg befand. Statt weniger Monate blieb die Sowjetarmee zehn Jahre in einen blutigen Krieg verwickelt, in dem 15.000 Rotarmisten fielen. Die Tatsache, dass erstmals seit 1945 wieder sowjetische Soldaten starben, obwohl die Parteiführung ein Leben in Frieden und Wohlstand versprochen hatte, trug erheblich zur Delegitimierung im Innern der Sowjetunion bei.

Der NATO-Doppelbeschluss setzte also eine Kettenreaktion in Gang, an deren Anfang der Einmarsch in Afghanistan und am Ende die Auflösung der UdSSR stand.