von René Schlott

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15. April 2020

Zu den weniger geläufigen Zeilen aus Goethes bekanntem Osterspaziergang gehören jene, die der Dichter den Menschen seiner Zeit widmete:
Denn sie sind selber auferstanden: Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, Aus der Straßen quetschender Enge, Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht, Sind sie alle ans Licht gebracht.(...)
 

Was der sonnige Ostermorgen im Jahr 2020 ans Licht bringt, ist dagegen Ratlosigkeit und Benommenheit, Verzweiflung und Trauer.
Trauer über inzwischen mehr als einhunderttausend Tote, die dem Corona-Virus zugerechnet werden. Tote, deren Angehörige ihnen im Moment des Sterbens nicht beistehen durften, und deren Beisetzung meist kein Abschied in Würde war, während nicht weit davon entfernt die Menschen in Massen in die Baumärkte strömten. Als ich vor vier Wochen in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung konstatierte, die Dinge seien ins Wanken geraten, konnte ich mir nicht ausmalen, wie sehr unsere Gesellschaft auf die schiefe Bahn gekommen ist.[1]
Hätte ich doch Unrecht behalten! Vor einem Monat galten innerdeutsche Grenzen, Leseverbote auf Parkbänken und ein Gottesdienstverbot an Ostern und Passah, den höchsten Feiertagen der Juden und Christen, als unvorstellbar. Heute sind sie traurige Realität. Eine Realität, an die sich die große Mehrheit der Deutschen schnell gewöhnt hat. Neunzig Prozent der etwa 1.250 vom ZDF-Politbarometer Befragten sind mit den Maßnahmen einverstanden. Sechzehn Prozent wünschen sich noch härtere Einschränkungen.

Doch Demonstrations- und Gottesdienstverbote haben nichts mit Virenschutz zu tun, sondern sind allenfalls Symbolpolitik. Denn es wäre ein Leichtes, die Abstandsregeln aus dem Supermarkt auch hier anzuwenden. Mit Grundrechten aber sollte man keine Symbolpolitik treiben. Mit den in Jahrzehnten erkämpften europäischen demokratischen Errungenschaften auch nicht.
Doch das Europa der offenen Grenzen ist tot. Konsumgüter dürfen noch passieren, Menschen nur im Ausnahmefall. („Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist. Aber symbolisch ist das ein starkes Zeichen“, so der Münchener Soziologe Armin Nassehi im Spiegel.) In Konstanz hat man den Grenzzaun verdoppelt, nachdem sich Liebende dort zu nahe kamen

Das europäische Einigungswerk wurde unter dem Primat der epidemiologischen Kurve kurzerhand geopfert. Wer heute aus Dänemark nach Deutschland reist, muss sich für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Wer sich dem verweigert, dem drohte die sächsische „Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt“ (!)  Petra Köpping vorsorglich mit der Einweisung in freie Zimmer psychiatrischer Krankenhäuser. Sekundiert von einem Landespolitiker der Grünen, der auch Rechtsanwalt ist.

Der mecklenburgische Innenminister spricht angesichts des allgegenwärtigen Denunziantentums von einem „beängstigenden Meldeverhalten“.
In Österreich hat die Zahl der Anzeigen wegen Verstößen gegen die Epidemiegesetzgebung inzwischen die Zahl der mit Corona infizierten Österreicherinnen und Österreicher überstiegen. Es zeigt sich eine anthropologische Konstante besonderer Art: Menschen bekommen ein wenig Macht und sie spielen bereitwillig und mit Genuss den Sheriff. Das gilt übrigens auch für die Exekutivorgane auf allen bundesstaatlichen Ebenen: Als der parteilose Bürgermeister meines im Berliner Umland gelegenen Wohnortes in der Gemeindevertreterversammlung ankündigte, die nun freigestellten Erzieherinnen der Kindertageseinrichtungen zur Bewachung der Spielplätze einzusetzen, wurde das von allen Fraktionen mit Beifall quittiert. Ob sich Erzieherinnen gegen diese Entstellung ihrer Erziehungsaufgabe gewehrt haben, ist unbekannt. Selbst Lehrerinnen und Lehrer äußern sich nur hinter vorgehaltener Hand und unter dem Schutz der Anonymität über die Problematik der Schulschließungen, gerade für die Kinder aus ohnehin bildungsfernen Schichten in Deutschland. Und anstatt sich lautstark für die Wiedereröffnung aller Schulen einzusetzen, schlägt der Vorsitzende des Lehrerverbandes den schwachen Schülern einfach eine Wiederholung des Schuljahres vor.
Politikerinnen und Politiker vermitteln der Bevölkerung, der sie zuvor großzügig Haltungsnoten erteilt haben, gerade das Gefühl, als seien die mit einer Ewigkeitsgarantie versehenen Grundrechte nicht mehr als Gnadenrechte, die man einer botmäßigen Untertanenschaft nach und nach wieder gewähren könne, wenn sie den Mundschutz als neuen sozialen Standard akzeptieren und die Tracking-App freiwillig installieren würden.

Einige Richter a. D. mögen das Reden über solche Grenzüberschreitungen als übertrieben hinstellen, Bedenken als „Sentimentalitäten“ (Udo di Fabio) oder „Betroffenheitstheater“ (Thomas Fischer) diffamieren. Andere, wie der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers, nennen die Dinge beim Namen: „Wir leben in einem quasi grundrechtsfreien Zustand“. Soziologen wie Armin Nassehi outen sich als Söder-Fans, dabei müsste sich gerade der bayerische Ministerpräsident die Frage gefallen lassen, warum der Freistaat trotz rigider Ausgangssperre (freilich als Ausgangsbeschränkung euphemistisch getarnt), Schlusslicht bei der Verdoppelungsrate der Corona-Infizierten in Deutschland ist.
Apropos Verdoppelungsrate, als Ziel hatten Robert-Koch-Institut und Regierung einen Korridor von 10 bis 14 Tagen angegeben, inzwischen liegt die Rate in Deutschland bei 25 Tagen und dennoch bleiben auch kleinste Demonstrationen verboten und werden von der Polizei rigide unterbunden. Wenn man sich die Tweets zu der etwa am 11. April in Berlin aufgelösten Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz ansieht, bekommt man eine Ahnung davon, wie dünn der Firnis des antitotalitären Konsenses in Deutschland mittlerweile ist. Bild-Zeitung und taz sind sich zwar einig darin, dass es sich bei den Demonstrant*innen um Verschwörungstheoretiker*innen und Kremlhörige handeln müsse, aber selbst die genießen in einem freiheitlichen Staat das Recht auf Versammlungsfreiheit. Artikel 8 des Grundgesetzes kennt keinen vorab zu absolvierenden Gesinnungstest.

In den Badischen Neuesten Nachrichten hieß es in einem Kommentar über die in diesen Tagen vor allem von Politik und Kirchen bemühte Rhetorik von den positiven Seiten des Ausnahmezustandes: Eine Krise macht etwas ganz anderes, als Chancen zu offenbaren. Sie entfernt Schminke. Und zwar ziemlich radikal. Es ist, als wäre die Welt mit Wimperntusche und Kajal in einen Swimmingpool gesprungen. Das Coronavirus hat in atemberaubender Geschwindigkeit so gut wie alle Problemstellen dieser Zeit und unserer Gesellschaft offengelegt.
Daran ändern übrigens auch die rasch entworfenen Kampagnen des Bundespresseamtes nichts. Der platte Slogan „Jetzt zählt das Wir“  wirkt angesichts von Denunziantentum und Hamsterkäufen, von Betrugsfällen bei den Soforthilfen und Wucherpreisen für Atemmasken nur wie zu dick aufgetragenes Make-Up. Vielmehr bewahrheitet sich gerade einmal mehr Sartres Bonmot aus seinem Drama von der „Geschlossenen Gesellschaft“: Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die andern. Noch treffender aber erscheint an diesem Ostermorgen sein existentialistisches Diktum Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Weil es einen Funken Hoffnung in sich birgt.

Im blühenden Garten habe ich soeben das Kinderbuch „Würde, Freiheit, Gleichheit“ versteckt.
Auf dem Buchrücken steht: Das Grundgesetz gehört in Kinderhände!

 

[1] René Schlott, Um jeden Preis. Es ist besorgniserregend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Einschränkungen unseres Alltags hingenommen werden. Wird die offene Gesellschaft erwürgt, um sie zu retten? Ein Zwischenruf. In: Süddeutsche Zeitung vom 17.3.2020. (Der Gastbeitrag unseres Autors liegt hinter der Bezahlschranke)