von Helen Thein-Peitsch

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24. April 2020

Im Home Office verkleinert sich die Welt auf die Größe eines Schreibtischglobus. Reisen in ferne Länder sind, zur Zeit, nur noch mit dem Finger auf diesem rotierenden Erdball erlaubt. Aber es gibt ein Elektrogerät, das seit nunmehr hundert Jahren die ganze Welt ins eigene Zimmer bringt: das Radio.
Mit dem Finger am Tuning-Rad wurde früher auf der Kurzwelle durch den Äther gesurft, um Sendungen aus weit entfernten Ländern zu hören. Heute lassen sich beim Surfen im Internet kleine und große Radiostationen all over the world entdecken. 
Aber auch Radioarchive, die nicht nur für Zeithistoriker*innen interessant sein könnten, sind im Internet zu finden. Im Folgenden eine kleine, recht subjekte Auswahl, die zu akustischen Welt- und Zeitreisen im Home Office einlädt.

Die British Library ist die Homebase des nationalen Sound Archives. Insgesamt 6,5 Millionen Aufnahmen werden dort gesichert. Dazu gehört auch das National Radio Archive. Im National Radio Archive werden allerdings nicht nur Sendungen der BBC, sondern auch die der Community Radio Stationen archiviert. Es soll gut 700 Radiosender auf der Insel geben. Das Archiv ist noch im Aufbau. Ziel ist, „to create a digital radio archive which will preserve a representative proportion of ongoing UK radio output.“ Es gibt bereits einen Blog, der fast täglich akustische Funde präsentiert. Besonders gefallen hat mir ein Blogeintrag über die Notwendigkeit, Bücher abzustauben.

Apropos Großbritannien. Einer der einflussreichsten britischen Radio-DJs war John Peel. Anfang der 1960er Jahre begann er in den USA bei kleinen lokalen Radiosendern zu moderieren. Berühmt wurde er, als er 1967 in einem Piratensender die Sendung „The Perfumed Garden“ moderierte, denn die wirklich coole Rockmusik wollte die BBC nicht spielen, also schickten einige Enthusiast*innen von Schiffen aus die neue Beatmusik durch den Äther auf die Insel. John Peel entwickelte sich dabei musikalisch permanent weiter und spielte nur die Musik in seinen Radioshows, die er mochte und die neu war. Egal ob Punk oder Reggae, ob bulgarische Frauenchöre oder Jimmy Hendrix. Andy Linehan, British Library Sound Archive's Curator of Popular Music, bemerkte mit Blick auf Peels Plattensammlung, sie sei „legendär, einzigartig und atemberaubend, ein Stück Zeitgeschichte“. Eben! Tatsächlich ist die Plattensammlung archiviert und kann hier besichtigt werden. Auch ein Großteil seiner Radiosendungen wurde digitalisiert. Die Qualität der Aufnahmen ist sehr unterschiedlich, aber hey, unter der Bettdecke klang der Monokassettenrekorder damals in den 1980ern auch nicht viel besser.

Radiogeschichte geschrieben hat noch ein anderer, wenn auch mit einem anderen Format: Orson Welles. Genau jener, der mit so großartigen Filmen wie „Der Prozeß“, „Citizen Kane“ und „Der dritte Mann“ Filmgeschichte geschrieben hat. Bevor Welles als Filmregisseur und Schauspieler über New York hinaus wahrgenommen wurde, arbeitete er für das Theater – und für das Radio. Sein Hörspiel „Krieg der Welten“ (1938, nach einem Buch von H. G. Wells) war so gut inszeniert, dass einige Hörer*innen tatsächlich an eine Invasion von Außerirdischen glaubten und voller Panik beim Sender anriefen. Überprüfen lässt sich die Wirkung der Radioinszenierung hier. Und wenn Sie dann ersteinmal eingetaucht sind in den Zeittunnel und dem Sound aus den Anfängen des Radios verfallen sind, können Sie gleich dranbleiben. Die Macher*innen der Webseite Relic Radio verstehen sich als Archäolog*innen des klassischen Radio-Dramas. Entsprechend präsentieren sie nicht nur mehr als 200 weitere Shows von Orson Welles, sondern noch viele andere Fundstücke aus den 1920er bis 1960er Jahren.

Kurz nachdem Orson Welles seine Dystopie fürs Radio inszeniert hatte, begann der Zweite Weltkrieg, dem sich schließlich auch die USA nicht entziehen konnten. Es folgte der Kalte Krieg, der nicht zuletzt auch im Äther tobte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Radio Free Europe (RFE), dessen erste Station 1950 ihren Sendebetrieb in München aufnahm. Vom Kongress der Vereinigten Staaten finanziert, sah die Sendeanstalt von RFE, später Radio Liberty, ihren Auftrag darin, die Bevölkerungen der Ostblockländer mit Nachrichten aus dem Westen zu versorgen. Das unterschied sie von den Soldatensendern der Alliierten, wie BFBS  oder AFN, die vor allem zur Unterhaltung der Soldaten installiert wurden. RFE sendete jeweils in der Sprache des Ziellandes, diese wehrten sich entsprechend mit Störsendern.

Auf der Seite des Hoover Instituts in Stanford können über 7000 Sendungen von Radio Free Europe online nachgehört werden, etwa das Radiofeature „What do they really think of us?“ aus dem Jahr 1951, in dem osteuropäische Exilant*innen nach ihrem Blick auf die USA befragt werden. Der Bericht bedient sich effektvoll der dramaturgischen Mittel des Radiohörspiels. Teilweise hört es sich an wie die Inszenierung eines Horrorromans. 

Das Hoover Institut wurde vor 100 Jahren gegründet und gilt als konservative Denkfabrik. Das umfangreiche Archiv konzentriert sich auf Quellen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Eine digitalisierte Sammlung von über 70.000 Sendemanuskripten bieten die Open Society Archives in Budapest.

Zurück in der Gegenwart und auf einen anderen Kontinent: Afrika. Hier kann man das Projekt radio continental drift besuchen. Die Radiokünstlerin Claudia Wegener reist seit 15 Jahren mit einer Art Kofferradiostudio, einem „Broadcasting House in der Tasche einer Zuhörerin“ durch den Kontinent und ermächtigt insbesondere Frauen dazu, ihre Geschichten zu erzählen und das Handwerk des Radiomachens zu erlernen. Zum Beispiel im Sambesi-Tal, in der Grenzregion zwischen Simbabwe und Sambia. Das dort aufgebaute Community Radio, Zongw FM, dient dem durch den Fluß getrennten Volk der Tonga als Kommunikationsmittel: „This is a radio-bridge across the Zambezi and across the world...“ Hinzu kommt im digitalen Zeitalter die Möglichkeit der online Präsentation, die die Stimmen der Frauen weit über Landes- und Stammesgrenzen hörbar macht. Claudia Wegener versteht sich und ihre Arbeit als switchboard, als Transistorraum, der lokale Projekte, Künstler*innen und Zuhörer*innen miteinander verbindet. Die Radiosendungen und Feldaufnahmen sind unter Creative-Commons-Lizenz im Internet-Archiv, auf ihrem Blog oder auf Soundcloud zu finden.

Dass das Radio immer noch die Welt bewegen oder irritieren kann, haben die Radio Revolten im Oktober 2016 gezeigt. Das große internationale Festival der Radiokunst fand einen ganzen Monat lang in Halle an der Saale statt. Radiokünstler*innen aus aller Welt machten Tag und Nacht Radio (außerdem noch Ausstellungen, Performances und am Ende auch ein Buch). Es war ohrenöffnend großartig und kann hier nachgehört werden!

Initiiert hat die Radio Revolten Radio Corax. Das Hallenser Community Radio sendet seit 20 Jahren auf UKW und zählt damit zu den langlebigsten Freien Radiostationen in der Bundesrepublik. Radio Corax ist Mitglied im Bundesverband Freier Radios und legt, wie viele Freie Radios, seine Sendungen im Audioportal zur Nachnutzung ab. Sehr SUBjektiv geht es immer montagabends von 21 bis 22 Uhr zu, wenn der Corax-Geschäftsführer Mark Westhusen gemeinsam mit Michael Nicolai alten und neuen "Pünk" auflegt, wie die Herren ihre Lieblingsmusik zu nennen pflegen. Ein Sendearchiv gibt es natürlich auch.

Ähnlich subjektiv, wenn auch musikalisch anders gelagert, legt ein anderer Radio-DJ auf, der ebenso wie Orson Welles für seine Radioshows berühmt ist. Denn sein Geld verdient Bob Dylan eher mit selbstgeschriebenen Songs. Von 2006 bis 2009 hat er – neben seiner Never Ending Tournee durch die Welt – wöchentlich einstündige Radioshows produziert, die aufs schönste eine Archäologie US-amerikanischen Liedguts darstellen. Dylans nuschelndes, zurückgenommenes, dunkles Timbre verleiht dem Nobelpreisträger eine ideale Radiostimme. Wenn er mit dieser Stimme Entdeckungen aus seinem Plattenschrank präsentiert, legt er seine eigenen Quellen offen. Und das tut er auf eine sehr sympathisch Weise, als Fan und mit großem Respekt, aber auch mit Ironie in der Auswahl für die verschiedensten Playlists zu Themen wie Wetter, Nichts, Schuhe oder Autos. Die insgesamt 100 Radioshows der „Theme Time Radio Hour“ sind in einem charmanten Retrostil inszeniert, inklusive gefakter Anrufer*innen und Einspielungen von Freund*innen wie Cat Power und Elvis Costello. Und sie sind alle hier nachzuhören.

Viel Spass beim akustischen Stöbern und stay tuned im Home Office!

 

P.S. Übrigens ist das Radio immer noch die zuverlässigste Informationsquelle, denn UKW funktioniert auch dann noch, wenn es keinen Strom (also auch kein Internet) mehr geben sollte. Werfen Sie also Ihre Radiogeräte nicht fort und prüfen Sie lieber, ob noch ausreichend Batterien vorhanden sind!