Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.[1]
Pünktlich zum 150. Jahrestag der Reichsgründung von 1871 ist die öffentliche Debatte über die Modernität des deutschen Kaiserreichs wieder voll entbrannt. Den Anstoß gaben Eckart Conze und Hedwig Richter mit ihren jüngsten Veröffentlichungen zum Reichsgründungsjubiläum.[2] Über alle Streitpunkte hinweg sind sich die gegensätzlichen Positionen in einem Punkt erstaunlich ähnlich: Das Königreich Preußen war so etwas wie das konservative Bollwerk gegen die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Kaiserreichs. Gestritten wird eigentlich nur über die Frage, ob dieses Bollwerk bis 1914 noch unerschütterlich feststand (Eckart Conze) oder ob seine Mauern bereits zu bröckeln begonnen hatten (Hedwig Richter).
In beiden Fällen wird das Königreich Preußen als das retardierende Moment im Kaiserreich gedeutet. Dabei ist es gar nicht so einfach, die Stellung Preußens auf einen Begriff zu bringen. Neben dem Bild des Bollwerks behilft sich die Kaiserreich-Forschung meist mit weiteren Metaphern aus dem physikalisch-technischen Bereich: Das träge, schwerfällige Preußen gilt im dynamisch wachsenden Kaiserreich als „Widerlager“ (Wolfgang Mommsen), als „Barriere“ (Thomas Nipperdey), als „Treibanker“ (Hans-Peter Ullmann)[3], zuletzt als „Bremsklotz“ (Oliver Haardt)[4], sozusagen als Sand im Getriebe der deutschen Regierungsmaschine. Diese Bilder haben die Gemeinsamkeit, dass sie die komplexen Wechselwirkungen zwischen preußischer Politik und Reichspolitik lediglich auf eine angebliche Bremswirkung Preußens reduzieren. Eine der berühmtesten dieser Bollwerk-Metaphern ist die Rede vom „Pentagramm in Preußen“.
Das Rätsel: Die fünf Bollwerke Preußens – oder sieben?
Der erste Historiker, der das Bollwerk Preußen als „Pentagramm“ („Fünfstern“) beschrieb, war der Hamburger Professor Fritz Fischer. Für seinen Bestseller über den „Krieg der Illusionen“ (1969) hatte er die Memoiren des Grafen von Westarp gelesen. Dort hatte Kuno von Westarp, Fraktionsvorsitzender der Konservativen im Reichstag, einen Brief seines Fraktionskollegen Ernst von Heydebrand abgedruckt. Heydebrand war jedoch nicht nur wie Westarp Mitglied des Reichstags, sondern als sogenannter Doppelmandatar auch Fraktionsvorsitzender der Konservativen im preußischen Abgeordnetenhaus. Am 5. Juli 1913 beschwerte sich Heydebrand bei Westarp darüber, dass der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Theobald von Bethmann Hollweg für die konservative Reichstagsfraktion kein verlässlicher Bündnispartner mehr sei. Heydebrand klagte „daß er [Bethmann] über unsere, ja leider nicht günstig postierte Fraktion im Reichstage ziemlich leichten Herzens hinweggehen würde; aber das Pentagramm in Preußen macht ihm Pein!“[5]
Fritz Fischer stand vor einem Rätsel: Was meinte Heydebrand mit dem „Pentagramm in Preußen“? Einerseits taucht dieser eigenartige Begriff in keiner anderen Quelle auf. Andererseits hielt Heydebrand es nicht für nötig, den Begriff zu erklären. Er schien also vorauszusetzen, dass Westarp schon verstehen würde, was mit dem „Pentagramm“ gemeint war. Nun war Fischers Neugier geweckt: Er verglich den Abdruck des Briefes mit dem Original aus Westarps Nachlass und stellte fest, dass Westarp die Briefstelle in seinen Memoiren falsch zitiert hatte. Im Original stand: „aber das Pentagramm in Preußen macht ihn klein!“ (Hervorhebung L. B.) Nach dieser Entdeckung glaubte Fischer, die Lösung des Rätsels gefunden zu haben: „Mit diesem ‚Pentagramm‘ waren offensichtlich die konservativen Machtfaktoren in Preußen gemeint: das Staatsministerium, das Herrenhaus, die konservative Fraktion des Abgeordnetenhauses, die landrätliche Bürokratie und der ‚König in Preußen‘.“[6] In gewisser Weise baute Fischer die gängige Metapher vom Bollwerk Preußen aus und machte daraus eine Festung mit fünf Bollwerken gegen die Parlamentarisierung und Demokratisierung des Reiches.
Ganz so „offensichtlich“, wie Fischer meinte, war seine Deutung des „Pentagramms“ dann aber doch nicht. Nicht einmal Dirk Stegmann, der im Jahr 1969 bei Fischer promoviert hatte, mochte seinem Doktorvater folgen. Stegmann ging in einem Aufsatz aus dem Jahr 1983 zwar wie Fischer davon aus, dass Westarp den Brief falsch zitiert hatte. Die fünf „konservativen Machtfaktoren“ Fischers wurden von Stegmann sogar zu fünf „konservativen Machtbastionen“ verstärkt. Aber bei Stegmann saßen diese Bastionen woanders: „im Herrenhaus, im Abgeordnetenhaus, in der Armee, in der preußischen Ministerialbürokratie und bei den Landräten“.[7] In zwei Punkten wich Stegmann von Fischer ab: Aus den Staatsministern wurden bei Stegmann die den Ministern untergeordneten Ministerialbeamten. Und aus der Monarchie wurde bei ihm die Armee.
Seit dem Aufsatz von Dirk Stegmann kursieren also in der Forschung zwei unterschiedliche Deutungen des „Pentagramms in Preußen“. In der angelsächsischen Forschung setzte sich Fischers Deutung durch. Das lag vor allem daran, dass dessen Bestseller über den „Krieg der Illusionen“ im Jahr 1975 als „War of Illusions“ ins Englische übersetzt worden war.[8] In der deutschen Forschung dagegen setzte sich Stegmanns Deutung durch.[9]
Zuletzt hat Hartwin Spenkuch in einem englischsprachigen Beitrag einen Kompromiss zwischen angelsächsischer und deutscher Forschung vorgeschlagen: Man könne doch Fischers Festung mit ihren fünf Bastionen noch weiter ausbauen und um die zwei Bastionen von Stegmann erweitern. Das Ergebnis wäre ein „seven-pointed star“[10]. Also kein Pentagramm, sondern ein Heptagramm.
Die Spurensuche: Fritz Fischer und das Falschzitat
Es hilft alles nichts: Wenn wir in diesem munteren Rätselraten mitspielen wollen, müssen wir uns Heydebrands Brief einmal selbst im Original anschauen. Der Nachlass des Grafen Westarp befindet sich im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde. Nur ist es gar nicht so einfach, die fragliche Briefstelle in der Akte Nr. 1 zu finden. Fritz Fischer und Dirk Stegmann geben nämlich in ihren Fußnoten für das Pentagramm-Zitat keine Blattzahl an. Erst in den späteren Publikationen von James Retallack und Joachim Bohlmann erfahren wir, dass sich das Zitat auf Blatt 163 befindet.[11]
Dort finden wir ein Schreibmaschinen-Manuskript mit der gesuchten Briefstelle: „aber das Pentagramm in Preussen macht ihn klein!“ Wenn wir Westarps Memoiren gründlich gelesen haben, müssten wir nun eigentlich misstrauisch werden. Denn aus den Memoiren wissen wir, dass Heydebrand noch zu der älteren Generation von Parlamentariern gehörte, die ihre sämtlichen Briefe handschriftlich verfassten.[12] Und tatsächlich finden wir unmittelbar vor dem Schreibmaschinen-Manuskript auf der Rückseite von Blatt 161 auch das Original des Briefes in Heydebrands eigener Handschrift. Wir suchen also das Pentagramm-Zitat heraus und entziffern verblüfft: „aber das Pentagramma in Preußen macht ihm Pein!“[13]
Diese Entdeckung kann nur eines bedeuten: Das Schreibmaschinen-Manuskript enthält eine Verlesung des Originals! Fritz Fischer ist auf diese falsche Transkription hereingefallen und die Forschung ist ihm darin gefolgt. Die einzig korrekte Transkription des Briefes bietet ausgerechnet diejenige Person, die von Fischer zu Unrecht verdächtigt wurde, sie habe in ihren Memoiren den Brief falsch zitiert: der Graf Kuno von Westarp! Wer auch immer das – übrigens auch unvollständige – Schreibmaschinen-Manuskript erstellt hat, der Graf Westarp jedenfalls war es nicht. Er konnte die Briefstelle gar nicht falsch entziffert haben, weil er ihren Sinn auf Anhieb verstanden hatte: Das „Pentagramm in Preußen“ war keine Reflexion über die fünf „Machtbastionen“ Preußens, wie Fischer und die anderen Historiker ganz „offensichtlich“ hineininterpretiert hatten. Die Lösung des Rätsels ist viel einfacher.
Des Pudels Kern: In Fausts Studierzimmer
Heydebrand hatte den „Faust“ zitiert. In der berühmten „Pudelszene“ des ersten „Faust“-Teils begegnen sich Faust und Mephisto zum ersten Mal. Mephisto hatte sich in einen schwarzen Pudel verwandelt und war Faust auf sein Studierzimmer gefolgt. Dort offenbarte Mephisto nun seine wahre Gestalt. Nach einem ersten Wortwechsel will Mephisto das Zimmer wieder verlassen, bleibt jedoch stehen:
Mephisto: Gesteh’ ichs nur! daß ich hinausspaziere
Verbietet mir ein kleines Hinderniß,
Der Drudenfuß auf eurer Schwelle –
Faust:
Mephisto konnte Fausts Studierzimmer nicht verlassen, weil sich auf dessen Türschwelle ein Pentagramm befand. Solche „Drudenfüße“, wie sie auch genannt wurden, galten im Mittelalter als Bannzeichen gegen das Böse und wurden häufig auf den Türschwellen und Türstürzen von Kirchen, Klöstern und Wohnhäusern angebracht.
Das war also „des Pudels Kern“[15] in Heydebrands Brief: Das „Pentagramma in Preußen“ war der Grund dafür, dass Bethmann in seiner Doppelrolle als Reichskanzler und Ministerpräsident „über unsere, ja leider nicht günstig postierte Fraktion im Reichstage“ eben gerade nicht „hinweggehen“ konnte. Damit dürfte die jahrzehntelange Diskussion darüber, welche fünf Bastionen denn nun aus Preußen eine Festung gemacht hatten, als das entlarvt worden sein, was sie von Anfang an war: ein Luftschloss. Die Pentagramm-Metapher kann nicht länger als Beleg für eine vermeintliche Bremswirkung Preußens im Kaiserreich verwendet werden.
Die Forderung des Tages: Die Wehrvorlage im Sommer 1913
Aber was war dann mit dem „Pentagramm in Preußen“ gemeint? Der humanistisch gebildete Graf Westarp hatte Heydebrands Anspielung auf den „Faust“ sofort verstanden. Als leidenschaftlicher Goethe-Leser hatte er seinen Memoiren einen Aphorismus aus „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ vorangestellt: „Versuche Deine Pflicht zu tun, und Du weißt gleich, was an Dir ist. Was aber ist Deine Pflicht? Die Forderung des Tages!“[16] Was aber war die „Forderung des Tages“ an jenem 5. Juli 1913, als Heydebrand seinen Brief an Westarp schickte? Anders gefragt: Welche Bedeutung hatte das Pentagramm-Zitat in seinem damaligen politischen Kontext, der von der Forschung bisher nicht für die Deutung des Zitats berücksichtigt worden ist?
Am 5. Juli war die Sitzungsperiode des Reichstags gerade erst zu Ende gegangen. Der Reichstag hatte an seinem letzten Sitzungstag, dem 30. Juni, mit großer Mehrheit eine neue Wehrvorlage verabschiedet. Die darin festgeschriebene Truppenvermehrung war jedoch sehr kostspielig und musste gegenfinanziert werden. Alle Fraktionen des Reichstags – bis auf die Konservativen – forderten daher die Einführung einer direkten Reichssteuer auf das Vermögen, die sogenannte Reichsvermögenszuwachssteuer. Bis dahin hatte es zu den ungeschriebenen Gesetzen des Kaiserreichs gehört, dass das Reich nur indirekte Steuern erheben durfte, während die Einzelstaaten, – also auch Preußen – die Hoheit über die direkten Steuern behielten. Die Reichstagsmehrheit wollte die Wehrvorlage jedoch nur unter der Bedingung annehmen, dass die Reichsregierung im Gegenzug der Reichsvermögenszuwachssteuer zustimmen würde. Der Reichskanzler Bethmann entschied sich schweren Herzens dafür, diese Bedingung zu erfüllen. Die einzige Fraktion, die zwar für die Wehrvorlage, aber gegen die Reichsvermögenszuwachssteuer gestimmt hatte, war die konservative Fraktion.
Doch diese Niederlage im Reichstag hatte ein Nachspiel: Bereits am 1. Juli veröffentlichte Ernst von Heydebrand in der „Conservativen Correspondenz“ einen Zeitungsartikel.[17] In diesem kündigte er an, dass die Konservativen den Reichskanzler Bethmann in seiner gleichzeitigen Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident im Landtag zur Rechenschaft ziehen würden. Im Reichstag, der nach dem gleichen Wahlrecht gewählt wurde, gehörten die Konservativen zu den kleinsten Fraktionen. Deshalb schrieb Heydebrand in seinem Brief, dass Bethmann „über unsere, ja leider nicht günstig postierte Fraktion im Reichstage“ an sich „ziemlich leichten Herzens hinweggehen würde“. Im preußischen Abgeordnetenhaus aber, das nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählt wurde, bildeten die Konservativen mit großem Abstand die stärkste Fraktion. Und auch im preußischen Herrenhaus verfügten die Konservativen über die große Mehrheit der Sitze. Da der Landtag aber bereits im Juni geschlossen worden war, musste Heydebrand für seine Abrechnung erst noch die nächstbeste Gelegenheit abwarten.
Diese Nachricht schlug im Regierungslager ein wie eine Bombe, besser gesagt: wie eine Zeitbombe. Über einen Mittelsmann ließ Bethmann den Konservativen ausrichten, dass er über seinen Abschied nachdenke: „er sehe ein, daß gegen die Konservativen in Preußen Deutschland nicht regiert werden könne“[18]. Und genau in dieser Situation stellte Heydebrand am 5. Juli voller Genugtuung fest: „das Pentagramm in Preußen macht ihm Pein!“ In der Rolle des Fausts saß Heydebrand seinem Mephisto Bethmann sozusagen im Nacken. Mit dem Pentagramm war also nichts anderes gemeint als der preußische Landtag mit seinen zwei Kammern: dem Abgeordnetenhaus und dem Herrenhaus.
So kam es, wie es kommen musste: Als der preußische Landtag im Januar 1914 wieder eröffnet wurde, sprach die große Mehrheit des Herrenhauses dem Ministerpräsidenten Bethmann ihr Misstrauen aus. Und auch im preußischen Abgeordnetenhaus musste sich der Ministerpräsident der scharfen Kritik der Konservativen stellen. Als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident wurde Bethmann zwischen der immer weiter nach links driftenden Reichstagsmehrheit und den konservativen Mehrheiten im Landtag geradezu in der Luft zerrissen.
Doppelte Parlamentarisierung: Die Dysfunktionalität des Regierungssystems vor 1914
Das Dilemma seiner Doppelrolle hat Bethmann in seinen Memoiren eindrücklich reflektiert: Die „Verschiedenheit der Wahlrechte“ und die daraus folgende „Divergenz der Majoritätsbildung in Preußen und im Reich“ war die ungelöste „Kernfrage“ der Bismarckschen Reichsverfassung: „In Preußen war ein der Parlamentarisierung ähnlicher Zustand in dem Anspruch der Konservativen auf entscheidende und die Linke so gut wie exkludierende Beeinflussung der Regierung praktisch beinahe verwirklicht.“[19]
Wenn man also für die Vorkriegszeit überhaupt den Begriff der „Parlamentarisierung“ verwenden möchte, dann müsste man eigentlich von einer doppelten „Parlamentarisierung“ sprechen. Sowohl der Reichstag als auch der Landtag gewannen in dieser Zeit immer mehr Einfluss auf die Regierung. Um es noch einmal mit den Begriffen der klassischen Dramentheorie zu formulieren: Preußen war in diesem Prozess der „Parlamentarisierung“ keineswegs das „retardierende Moment“ – wie Eckart Conze, Hedwig Richter und andere meinen –, sondern das „erregende Moment“. Und wenn man schon Metaphern gebrauchen will, dann war Preußen eben nicht das Bollwerk im Kaiserreich, nicht der „Treibanker“ oder der „Bremsklotz“, nicht der Sand im Getriebe der deutschen Regierungsmaschine, sondern ihr gut geölter „Parlamentarisierungsmotor“[20]. Die Regierungsmaschine war freilich so komplex konstruiert, dass der Reichskanzler und Ministerpräsident kaum noch dazu in der Lage war, das Steuerrad einigermaßen auf Kurs zu halten. Er konnte das Reich nicht gegen die Konservativen, aber auch nicht mit den Konservativen regieren. Denn die turbulenten Wechselwirkungen zwischen preußischer Politik und Reichspolitik führten zu einer zunehmenden Dysfunktionalität des preußisch-deutschen Regierungssystems vor 1914.[21]
Das „Pentagramm in Preußen“ und der Faust im Nacken machten Bethmann also wahrhaftig „Pein“. Und damit waren eben nicht die Landräte, nicht das Staatsministerium, nicht der Monarch und nicht die Armee gemeint. Die bisherigen Deutungen des Pentagramm-Zitats treffen nicht den Kern des Problems. Denn das Problem war viel moderner: Es war die parlamentarische Power des preußischen Landtags, die den Reichskanzler Bethmann in die Knie zwang.
Mit Faust hätte Bethmann klagen können: „Zwey Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen“[22]. Sicherlich wäre das Regieren mit dem Reichstag für den Reichskanzler einfacher gewesen, wenn er nicht gleichzeitig auch Ministerpräsident gewesen wäre. Und umgekehrt hätte der Ministerpräsident wohl ganz gut mit den Konservativen im Landtag auskommen können, wenn er nicht gleichzeitig Reichskanzler gewesen wäre. Nur war eine dauerhafte Trennung der beiden Regierungsämter undenkbar in einem Reich, in dem der König von Preußen zugleich deutscher Kaiser war. Ob unter solchen verwickelten Umständen ein Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident überhaupt erfolgreich regieren konnte, war eine offene Frage, die auch zum 150. Reichsgründungsjubiläum noch nicht abschließend beantwortet ist. Man könnte auch sagen: Das ist die Gretchenfrage des Kaiserreichs.
[1] Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie, Tübingen 1808, S. 122, (6.4.2021).
[2] Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020; Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2020.
[3] Zit. nach: Hartwin Spenkuch, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947, Göttingen 2019, S. 225.
[4] Oliver Haardt, Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, Darmstadt 2020, S. 513.
[5] Kuno von Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches. Erster Band: Von 1908 bis 1914, Berlin 1935, S. 388-390, Zitat: S. 390.
[6] Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969, S. 269.
[7] Dirk Stegmann, Vom Neokonservatismus zum Proto-Faschismus: Konservative Partei, Vereine und Verbände 1893-1920, in: Dirk Stegmann, Bernd-Jürgen Wendt, Peter-Christian Witt (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, S. 199-230, hier S. 213.
[8] Geoff Eley, Reshaping the German Right. Radical Nationalism and Political Change after Bismarck, Ann Arbor 1991, S. 351; James Retallack, The Road to Philippi. The Conservative Party and Bethmann Hollweg’s „Politics of the Diagonal“, 1909-1914, in: Larry E. Jones, James Retallack (Hg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence 1993, S. 261-298, hier S. 295; Mark Hewitson, Germany and the Modern World, 1880-1914, Cambridge 2018, S. 309.
[9] Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 518; ders., Preußen – eine besondere Geschichte, S. 222-223; Joachim Bohlmann, Die Deutschkonservative Partei am Ende des Kaiserreichs. Stillstand und Wandel einer untergehenden Organisation, Dissertation Universität Greifswald 2011, S. 149, (06.04.2021).
[10] Hartwin Spenkuch, Prussian Governance, in: Jefferies, Matthew (Hg.), The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, Farnham 2015, S. 33-53, hier S. 48.
[11] BArch N 2329/1: Politischer Schriftwechsel. Jan. 1910-Dez. 1913, Bl. 161-163. Siehe James Retallack, The Road to Philippi. The Conservative Party and Bethmann Hollweg’s „Politics of the Diagonal“, 1909-1914, in: Larry E. Jones, James Retallack (Hg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945. Providence 1993, S. 261-298, hier S. 295; Bohlmann, Die Deutschkonservative Partei am Ende des Kaiserreichs, S. 149.
[12] Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, S. 198.
[13] BArch N 2329/1: Politischer Schriftwechsel. Jan. 1910-Dez. 1913, Bl. 161v (Hervorhebung L. B). An dieser Stelle sei Daniel Stienen für seine Unterstützung bei der Entzifferung des Zitats herzlich gedankt.
[14] Goethe, Faust, S. 89.
[15] Goethe, Faust, S. 85.
[16] Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches.
[17] Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, S. 267, 382.
[18] Westarp, Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, S. 388.
[19] Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege. Erster Teil: Vor dem Kriege. Berlin 1919, S. 97.; Ders.: Betrachtungen zum Weltkriege. Zweiter Teil: Während des Krieges, Berlin 1921, S. 175-176.
[20] Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 582.
[21] Zum Kontext der Wehrvorlage und zur Dysfunktionalität der „doppelten Parlamentarisierung“ siehe auch: Lennart Bohnenkamp, Die Tripolarität der Reichshauptstadt: Berliner Politik im Spannungsfeld von Reich, Staat und Kommune 1871-1918, in: Andreas Braune et al. (Hg.), Einigkeit und Recht doch Freiheit? 150 Jahre Kaiserreich, Weimar 2020, S. 72-76, (06.04.2021).
[22] Goethe, Faust, S. 73.