von Clemens Villinger

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6. Oktober 2021

Die Etablierung von forschungsbegrenzenden Regeln erfolgte meist, wenn aufmerksamkeitserregende und als unethisch empfundene Wissenschaftspraktiken publik wurden. Ein frühes Beispiel für diesen Effekt sind die 1898 durchgeführten Versuche des preußischen Dermatologen und Bakteriologen Albert Neisser (1855-1916). Er löste einen Skandal aus, weil er zum Teil minderjährigen Frauen ohne ihr Wissen Serum von Syphiliskranken injizierte. Infolgedessen erließ die preußische Regierung eine Anweisung an die Krankenhäuser, die den „Ausschluss nicht einwilligungsfähiger Patienten von Forschungsvorhaben, die Einholung einer expliziten Zustimmung […] nach Aufklärung über mögliche Risiken der Forschung, die Verantwortungsübernahme durch den Klinikvorstand sowie die Dokumentation der Einwilligung im Krankenblatt“ vorschrieb.[1] Vergleichbare Auswirkungen hatte das „Lübecker Impfunglück“ im Jahr 1930, bei dem 77 mit einem verunreinigten Impfstoff behandelte Kinder verstarben. Im Zuge der Aufarbeitung führte das Reichsinnenministerium ethische Forschungsstandards ein, wie die informierte Einwilligung von Patientinnen und Patienten, die bis in die Gegenwart Leitlinien für Forschung an und mit dem Menschen darstellen.[2] Einen Rückschritt bedeuteten die in tausenden Fällen tödlichen Experimente an Menschen während des Nationalsozialismus. Ein Teil dieser Verbrechen wurde im Nürnberger Ärzteprozess (1946-1947) strafrechtlich verfolgt. Die als „Nürnberger Kodex“ formulierten ethischen Standards für medizinische Forschungen an und mit Menschen markierten den Ausgangspunkt für jahrzehntelange Diskussionen. Im Laufe der 1970er Jahre entstanden Verfahren und Institutionen zur Überwachung der selbst gesetzten Standards, wobei medizinische Skandale wie die in den USA zwischen 1932 und 1972 durchgeführte Tuskegee-Syphilis-Studie, bei der afroamerikanischen Arbeitern lebensrettende Behandlungen vorenthalten wurden, die die Etablierung forschungsethischer Prüfungsverfahren beschleunigten.[3] Davon inspiriert gründete die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 1973 eine erste medizinische Ethikkommission, der 1985 die Musterberufsordnung der Ärzte folgte, in der wenig später eine ethische Prüfung aller medizinischen Forschungsprojekte an und mit Menschen gesetzlich festgeschrieben wurde. Bemerkenswert ist, dass der ursprüngliche „Geltungsanspruch von (bio-)medizinischen Richtlinien auf jegliche Forschung mit Menschen ausgedehnt“ und auf andere Wissenschaftsdisziplinen übertragen wurde.[4]

 

(K)eine moralische Wende: Ethik und Zeitgeschichte

Die in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik etablierte Zeitgeschichte setzte sich früh mit ethischen Fragen auseinander, jedoch ohne diese explizit zum Gegenstand zu machen.[5] Hans Rothfels betonte in seinem 1953 veröffentlichen Aufsatz „Zeitgeschichte als Aufgabe“, dass „Geschichte eben kein wertfreies Gegenüber, sondern etwas für den Menschen Bedeutsames, eine Begegnung mit seiner Vergangenheit wie seiner Zukunft“ darstelle.[6] Deswegen bedeute „Objektivität auf diesem Felde der Erkenntnis […] nicht Neutralität“, sondern „disziplinierte Wahrheitssuche“ und die „Ausschaltung von Vorurteilen soweit möglich“.[7] Damit wies Rothfels implizit auf die Bedeutung von ethischen Fragen im zeithistorischen Forschungsalltag hin. Im Gegensatz zur medizinischen und sozialwissenschaftlichen Forschung wurden und werden ethische Fragen in der deutschen Zeitgeschichte nicht durch institutionalisierte Prüfverfahren, sondern mit einer individuellen akademischen Selbstkontrolle beantwortet. Zwar bilden Zeithistoriker*innen ihre ethischen Entscheidungsprozesse vereinzelt in Einleitungen oder Fußnoten ab, in den meisten Fällen blieben (und bleiben) diese im Hintergrund der Darstellungen.[8]

Zu Beginn der 1990er-Jahre veränderte sich die Wahrnehmung ethischer Fragen in der Geschichtswissenschaft: Neben der Öffnung der Archive nach dem weitgehenden Zusammenbruch des Sozialismus entwickelte sich im Zuge globaler Debatten über die Verwirklichung von Menschenrechten eine Sensibilität für Fragen der Informationsfreiheit.[9] Zusätzlich führte ab Mitte der 1990er Jahre das Anwachsen von Informationen, Daten und potenziellen Quellen durch die weltweite Ausbreitung des Internets sowie die damit einhergehende Pluralisierung von historischen Deutungen zu einer „moralischen Wende“[10] in der Geschichtswissenschaft. Als Reaktion auf diesen Wandlungsprozess erließen nationale Interessensverbände Richtlinien, die sich Fragen des ethischen Forschens in der Geschichtswissenschaft widmeten. Eine Pionierfunktion nahm die „American Historical Association“ (AHA) ein, die 1987 ein „Statement of Standards of Professional Conduct“[11] verabschiedete, das seitdem laufend aktualisiert und angepasst wird. Ein anderes Beispiel ist der 2004 erlassene Ethikkodex der „Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte“.[12] Trotz vergleichbarer Ansätze zur Bündelung der Diskussionen um Ethik- und Verhaltenskodizes in der Arbeitsgruppe „Angewandte Geschichte/Public History“ beim deutschen Historiker*innenverband (VHHD) existiert für die geschichtswissenschaftliche Forschung in Deutschland im Allgemeinen und für die Zeitgeschichte im speziellen kein Ethikkodex, der Forschenden als Richtlinie für das eigene Handeln dienen könnte.[13]

 

Sozialdaten als neue ethische Herausforderung der Zeitgeschichte?

Das 2020 begonnene DFG-Projekt „Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte“ argumentiert, dass sich die zeithistorische Forschung und ihre Erkenntnisprozesse in den kommenden Jahren durch die Nachnutzung von massenhaft produzierten (nicht immer archivierten) Sozialdaten verändern wird. Der Begriff Sozialdaten bezeichnet „qualitative und quantitative Daten […], die von privaten Organisationen oder öffentlichen Einrichtungen unter Anwendung sozialwissenschaftlicher oder statistischer Forschungsmethoden gesammelt wurden“ und von „Zeithistoriker*innen als Quellen wiederverwendet werden können“.[14] Die durch den technologischen Wandel und das Anwachsen der jährlich produzierten Datenmenge neu entstehenden Potenziale zur Sammlung, Kombination und Auswertung haben auch in den Sozialwissenschaften Überlegungen angestoßen, ob die bisherigen ethischen Standards schritthalten können.[15] Anders als in der deutschen Zeitgeschichte kann in den Sozialwissenschaften auf einen Ethikkodex zurückgegriffen, dieser erweitert und technischen Erfordernissen angepasst werden.[16] Schon 1953 prognostizierte Hans Rothfels, dass Teilgebiete der Zeitgeschichte aufgrund der „erstickenden Masse des Stoffes […] neuartige Formen der technischen Bewältigung“ und eine „spezifische Intensität des Fragens“ entwickeln müssten.[17] Einerseits scheint sich diese Voraussage angesichts des Zugangs zu den Datenarchiven der Sozialwissenschaften zu bewahrheiten, andererseits stellen sich ethische Fragen des Umgangs mit neuartigen Quellen und Auswertungsmethoden schon seit den 1950er-Jahren. Mit der Auswertung von Sozialdaten treten in der Zeitgeschichte neue ethische Probleme auf, die als Anlass dienen können, die in der deutschen Geschichtswissenschaft zum Erliegen gekommenen Diskussionen über eine professionsbezogene Forschungsethik aufzugreifen. Insofern benötigt die deutsche Zeitgeschichte weniger eine eigene Datenethik als einen grundlegenden Ethikkodex, der die Arbeit mit diesen Quellen einschließt.

 

Ein Ethikkodex für die deutsche Geschichtswissenschaft

Die deutsche Geschichtswissenschaft orientiert sich in ethischen Fragen zum Beispiel an den von der DFG erlassenen Leitlinien zur „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“, die auf der Webseite "Wissenschaftliche Integrität" ausführlich dokumentiert sind. Historische Problemlagen werden darin aber nicht explizit aufgegriffen, sodass die Leitlinien lediglich eine Orientierung bieten. Insofern regulieren Zeithistoriker*innen in Deutschland den ethischen Umgang mit sensiblen Quellen (etwa solchen, die personenbezogene Daten enthalten) meist selbstverantwortlich und projektbezogen. Den rechtlichen Rahmen für die zeithistorische Forschung bilden die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sowie die auf Bundes- und Länderebene geltenden Archivgesetze.

Trotz dieser bereits verfügbaren ethischen und legalen Orientierungspunkte lassen sich Argumente für einen auf die deutsche Geschichtswissenschaft zugeschnittenen Ethikkodex sammeln. Wie de Baets argumentiert, stärkt ein Ethikkodex die Autonomie und Selbstregulierung der Geschichtswissenschaften und verdeutlicht die Grundlagen und Grenzen des historischen Berufsstandes nicht nur für seine Mitglieder, sondern auch für Personen außerhalb der Berufsgruppe.[18] Zudem erhöhe ein Ethikkodex das öffentliche Vertrauen in die geschichtswissenschaftliche Forschung und schaffe Transparenz. Im Anschluss an De Baets empfehlen Arendes und Siebold einen Ethikkodex als ein Bündel von „Selbstverständigungsdiskurse[n] einer Profession“ zu begreifen, aus dem sich regelmäßig überarbeitete ethischen Leitlinien entwickeln lassen.[19] In Anlehnung an die Vorarbeiten lassen sich drei wesentliche Strukturmerkmale für einen Ethikkodex der deutschen Geschichtswissenschaft formulieren[20]:

 

  • Der Ethikkodex sollte einen Abschnitt zu den inhaltlichen Kompetenzen von Historiker*innen enthalten, indem die Aufgaben in Wissenschaft und Lehre, die Rechte und die Pflichten definiert sind. Auf diese Weise werden ethische Prinzipien ausformuliert, die das Forschungshandeln leiten.
  • In einem zweiten Teil sollte festgehalten werden, welche professionellen Kompetenzen (wie z.B. Integrität oder Diskretion) für das ethische vertretbare Forschen auf dem Feld der Geschichtswissenschaft notwendig sind.
  • Zudem müsste ein Ethikkodex drittens die Frage der Legitimität und das Verhältnis von gesellschaftlichem Nutzen und Risiken von historischer Forschung adressieren.

 

Um die Autonomie und Wissenschaftsfreiheit zu bewahren und die Eigenheiten historischen Arbeitens zu berücksichtigen, kann auf die Einführung von institutionalisierten Prüfverfahren wie Ethikkommissionen auf dem Feld der Geschichtswissenschaft verzichtet werden. Gleichzeitig erzeugen externe Auflagen von Geldgebern und öffentliche Erwartungshaltungen einen ethischen Handlungs- und Legitimierungsbedarf gegenüber der Geschichtswissenschaft. Wenn in der Zeitgeschichte ein Anspruch auf akademische Selbstkontrolle und Autonomie erhoben wird, dann ist die Festlegung und kontinuierliche Überarbeitung eines Ethikkodex dafür Voraussetzung. Zudem sollten forschungsethische Grundsätze und Fragen zu einem Bestandteil der historischen Methodenausbildung und bei der Betreuung von Qualifikationsarbeiten gemacht werden, wobei auch Themen wie das Forschungsdatenmanagement und die Langzeitdokumentation der eigenen Forschungsdaten einbezogen werden müssen.

Die Debatten verdeutlichen, dass nicht der ethische Umgang mit Daten und Quellen strittig ist, sondern Fragen der Umsetzung diskutiert werden. Aufgrund des Facettenreichtums der Zeitgeschichte bietet sich eine individuell angewandte und institutionell nicht überwachte Selbstverpflichtung an. Den wichtigsten Aus- und Bezugspunkt für dieses selbstregulierte ethische Prüfsystem sollte ein bisher noch fehlender Ethikkodex für die Geschichtswissenschaft darstellen.

 

 


[1] Fangerau, Heiner: Geschichte der Forschung am Menschen, in: Lenk, Christian/Duttge, Gunnar/ders. (Hg.): Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Berlin/Heidelberg 2014, S. 169-176, hier S. 170.
[2] Howard-Jones, Norman: Human Experimentation in Historical an Ethical Perspectives, in: Social Science & Medicine 16 (1982) 15, S. 1429-1448, hier S. 1436.
[3] Unger, Hella von/Simon, Dagmar: Ethikkommissionen in den Sozialwissenschaften ‒ Historische Entwicklungen und internationale Kontroversen, in: RatSWD Working Paper Series (2017) 253, S. 1-17, hier S. 6.
[4] Ebd., S. 5.
[5] Zur Geschichte der Zeitgeschichte vgl. Metzler, Gabriele: Zeitgeschichte: Begriff - Disziplin - Problem, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 7.4.2014 (Zugriff am 15.8.2021).
[6] Rothfels, Hans: Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953) 1, S. 1-8, hier S. 5.
[7] Ebd.
[8] Vgl. De Baets, Antoon: The Swiss Historical Society's code of ethics: a view from abroad, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 55 (2005) 5, S. 451-468, hier S. 451.
[9] Ebd., S. 452.
[10] Kühberger, Christoph/Sedmak, Clemens: Ethik der Geschichtswissenschaft. Zur Einführung, Wien 2008, S. 37.
[11] Vgl. American Historical Association, Statement of Standards of Professional Conduct (Zugriff am 15.8.2021).
[12] Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, Ethik-Kodex und Grundsätze zur Freiheit der wissenschaftlichen historischen Forschung und Lehre (Zugriff am 15.8.2021).
[13] Vgl. Arendes, Cord/Siebold, Angela: Zwischen akademischer Berufung und privatwirtschaftlichem Beruf. Für eine Debatte um Ethik- und Verhaltenskodizes in der historischen Profession, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 66 (2015) 3/4, S. 152-166.
[14] Villinger, Clemens/Zöller, Kathrin: Tagungsbericht: Sozialdaten und die Geschichtsschreibung von Wohneigentum und Sozialräumen, 11.03.2021 – 12.03.2021, in: H-Soz-Kult, 08.06.2021 (Zugriff am 15.8.2021).
[15] Vgl. Oellers, Claudia/Wegner, Eva: Does Germany Need a (New) Research Ethics for the Social Sciences?, in: RatSWD Working Paper Series (2009) 86, S. 1-12, hier S. 2.
[16] Vgl. Webseite RatSWD, Forschungsethik: Handlungsempfehlungen für die Einhaltung ethischer Grundsätze bei empirischer Forschung, (Zugriff am 15.8.2021).
[17] Rothfels: Zeitgeschichte, S. 6.
[18] Vgl. De Baets: The Swiss Historical Society’s Code of Ethics, S. 458.
[19] Arendes/Siebold: Zwischen akademischer Berufung und privatwirtschaftlichem Beruf, S. 164.
[20] Ebd.; De Baets: The Swiss Historical Society’s Code of Ethics, S. 458-459.