von Takuma Melber

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22. März 2022

Die Volksrepublik China, die Mongolei, Nordkorea und Japan – vier von insgesamt vierzehn direkten Nachbarn Russlands sind ostasiatische Staaten. Im Allgemeinen wird Russland als geografisches, politisches und kulturelles Bindeglied zwischen Asien und Europa verstanden. Allerdings wird Russland in Ostasien und „in Japan nicht primär als europäische, sondern als asiatische Macht wahrgenommen.“[1] Aus Japans Sicht führt die asiatische Großmacht Russland unter Missachtung territorialer Grenzen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit Auswirkungen auf Japans politische Agenda.

 

Sorge vor einem Dritten Weltkrieg

Wie im Transatlantik besteht auch in Asien große Sorge darüber, dass Russlands Überfall auf die Ukraine den Auftakt zu einem Dritten Weltkrieg (jap. Daisanji Sekai Taisen) darstellen könnte. Dieser würde – so die landläufige Annahme – unter dem Einsatz von Kernwaffen katastrophale Folgen für Asien und die ganze Welt nach sich ziehen. Die geäußerte Sorge vor einem globalen Flächenbrand erinnert an die seinerzeit in Japan bestehenden Ängste angesichts des „Koreaschocks“ bei Ausbruch des Koreakriegs (1950-1953) nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Als das bisher einzige Land erfuhr Japan im August 1945 den Abwurf zweier Atombomben. Es stand nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs bis 1952 unter alliierter, de facto amerikanischer Besatzung und verankerte in Artikel 9 seiner pazifistischen Nachkriegsverfassung den Verzicht „auf den Krieg als ein souveränes Recht“ für alle Zeiten und auf „die Androhung und Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten“.[2] Auf Russlands Einmarsch in die Ukraine reagiert Japan nun einerseits mit einer klaren Friedensbotschaft: Wie etwa im südkoreanischen Seoul oder im taiwanischen Taipeh versammeln sich seit Ende Februar 2022 auch in Tokio Tausende, um im Rahmen der weltweiten Friedensbewegung ihre Solidarität mit der Ukraine zu bekunden und für ein Schweigen der Waffen im russisch-ukrainischen Konflikt, gegen Putins Aggressionskrieg und für den Weltfrieden zu protestieren.[3] Als japanische Besonderheit können dabei die besonders aus Hiroshima und Nagasaki zu hörenden Appelle gegen russische Kampfhandlungen nahe ukrainischer Atomkraftwerke oder den generell drohenden Einsatz von Nuklearwaffen in diesem Konflikt gelten. Hier spiegelt sich der seit 1945 propagierte japanische Pazifismus, den vor allem linkspolitisch ausgerichtete Japaner*innen hochhalten – seien es Politiker*innen, Aktivist*innen oder „einfache Bürger*innen“.

 

Der russisch-japanische Territorialstreit

Die Reaktionen aus den konservativ-nationalistischen Reihen sind hingegen anderer Couleur: In Anlehnung an Putins Bruch des Minsk II-Abkommens wird daran erinnert, dass auch die Sowjetunion als Vorgängerstaat des heutigen Russlands seinerzeit in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs das bis dato bestehende Neutralitätsabkommen mit dem Japanischen Kaiserreich gebrochen hatte. Am 8. August 1945 und damit zwischen den beiden US-Atombombenabwürfen auf Hiroshima (6. August 1945) und Nagasaki (9. August 1945) waren Truppen der Roten Armee über die sowjetisch-mandschurische Grenze in damals japanisch kontrolliertes Territorium einmarschiert und besetzten es. Die sowjetische Expansion – seit der 1983 erschienenen Publikation des US-Militärhistorikers David Glantz als „Operation Auguststurm“[4] bekannt – wurde von sowjetischer Seite zeitgenössisch und wie die gegenwärtige Ukraineinvasion nicht offiziell als Krieg, sondern als „mandschurische strategische Offensivoperation“ (russ. Mantschschurskaja strategitscheskaja nastupatelnaja operatsija) bezeichnet. Sie setzte sich bis in die frühen Septembertage 1945 fort. Bis zum 5. September besetzte die Sowjetarmee den südlichen Teil der Insel Sachalin (zeitgenössisch japanisch Karafuto-chō genannt) und die Kurileninseln – und das, obwohl wenige Tage zuvor am 2. September 1945 japanische und alliierte Vertreter die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation Japans unterzeichnet hatten.[5] Sowjetische Marineinfanteristen waren auf Shumushu-tō (russ. Schumschu), der ersten der besetzten Kurileninseln, erst am 18. August 1945 gelandet und damit drei Tage, nachdem Kaiser Hirohito Japans Kriegsniederlage in einer Rundfunkansprache bereits eingestanden hatte. Der Krieg galt auf japanischer Seite als beendet. Was folgte, war im Spätsommer/Herbst 1945 die Vertreibung zehntausender japanischer Siedler*innen von den Inseln.

Manche Historiker*innen – an erster Stelle der US-amerikanische Russlandhistoriker japanischer Herkunft, Hasegawa Tsuyoshi – sehen im sowjetischen Vertragsbruch und Kriegseintritt gegen Japan im August 1945 und nicht im Abwurf der beiden US-Atombomben das kriegsentscheidende Moment, das Japans politische und militärische Führung von der Unausweichlichkeit der bedingungslosen Kapitulation überzeugte.[6] Auf japanischer Seite war die Enttäuschung über den sowjetischen Bruch des Neutralitätsabkommens im August 1945 besonders groß, hatte sich Tokio in der Endphase des Krieges doch besonders um eine russische Vermittlung einer diplomatischen Friedenslösung für den Krieg im Pazifik bemüht.[7] Ein hieraus resultierendes Urmisstrauen gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise Russland hielt sich in Japan seit Ende des Zweiten Weltkriegs über die Zeit des „Kalten“ Krieges hinweg, der in Asien dabei wesentlich von „heißen“ Kriegen geprägt war – erinnert sei an dieser Stelle lediglich an den Koreakrieg oder den Vietnamkrieg.

 

Japans „Zeitenwende“ vom Pazifismus zur Konfrontation?

Neben dem sich seit der Nachkriegszeit stetig entwickelnden japanisch-amerikanischen Sicherheitsbündnis ist es also der oben skizzierte historische Kontext, der Japans Sanktions- und Boykottpolitik gegenüber Russland und den generellen Schulterschluss mit dem Westen im gegenwärtigen russisch-ukrainischen Krieg bestimmt. Schienen Ex-Premierminister Shinzō Abe und Wladimir Putin im Territorialstreit um die Kurilen einen Annäherungskurs eingeschlagen zu haben, wird der Ton angesichts der russischen Invasion in der Ukraine nun rauer. Tokio bewertet etwa das Eindringen eines russischen Hubschraubers in den japanischen Luftraum über der in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kurilen gelegenen Halbinsel Nemuro am 2. März 2022 als Warnung und Einschüchterungsversuch durch Putin. Die an Russland adressierten und deutlich formulierten verbalen Verlautbarungen japanischer Regierungsvertreter lassen aufhorchen: Außenminister Yoshimasa Hayashi etwa bezeichnete die Kurilen in einer Stellungnahme am 8. März 2022 als „zu Japan zugehöriges Territorium“[8] (jap. waga kuni koyū no ryōdo). Er griff somit auf einen selbstbewusst-konfrontatorischen Sprachgebrauch zurück, den Premierminister Fumio Kishida und dessen Vorgänger Abe gegenüber Russland vermieden hatten.

Tokio scheint den bereits vor dem Russland-Ukraine-Krieg eingeschlagenen Kurs militärischer Aus- und Aufrüstung selbstbewusst aufrechtzuerhalten und weiter zu intensivieren. Eine entsprechende Anpassung von Artikel 9 der pazifistischen Verfassung Japans steht wieder zur Diskussion. Eine wie für Deutschland von Bundeskanzler Olaf Scholz postulierte „Zeitenwende“ der Außen- und Sicherheitspolitik vollzieht sich in Reaktion auf Russlands Ukraineinvasion aktuell also nicht nur in Europa. Auch Japan befindet sich bereits mitten im politischen Paradigmenwechsel.

 

[1] Leon Daiske Oberbäumer; Alexandra Sakaki, Japans Debatte über Russland und den Konflikt um die Ukraine, in: SWP-Zeitschriftenschau 3 (September 2015), Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, S. 1. 
[2] Der Wortlaut der am 3. Mai 1947 in Kraft getretene Japanischen Nachkriegsverfassung (Nihonkoku Kenpō). 
[3] Hierüber berichteten auch deutsche Medien.
[4] David M. Glantz, August Storm: The Soviet 1945 Strategic Operation in Manchuria, Fort Leavenworth 1983.
[5] Im Übrigen unterschrieb die Kapitulationsurkunde damals der aus der Ukraine stammende Generalleutnant Derewjanko als offizieller Repräsentant der Sowjetunion.
[6] Tsuyoshi Hasegawa, Racing the Enemy: Stalin, Truman, and the Surrender of Japan, Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts) 2005.
[7] Gerhard Krebs, Das moderne Japan 1862-1952: Von der Meiji-Restauration bis zum Friedensvertrag von San Francisco, R. Oldenbourg Verlag München 2009, S. 84-85.
[8] Vgl. Hayashi Gamudaijin Kaikenkiroku, [Stellungnahme des japanischen Außenministers Hayashi], 8. März 2022.