von Cora Litwinski

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21. März 2023

"The Russian writer Aleksandr Solzhenitsyn once said that: 'Violence has no way to conceal itself except by lies, and lies have no way to maintain themselves except through violence’ […] Establishing the truth in this case can help prevent fresh violence in the future" [1]

Mit diesen Worten leitete der niederländische Staatsanwalt Ward Ferdinandusse im Jahr 2020 in Amsterdam den Strafprozess gegen die Verantwortlichen des Abschußes des Malaysia-Airlines-Flugs MH17 vom 17. Juli 2014 ein.
Der Filmausschnitt, der diesen Moment wiedergibt, erlischt. Es folgt eine Bilderflut mit Z-Symbolen aus dem russischen Alltag, die den Zuschauer mit der Eskalation der Gewalt seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 konfrontiert. Die Szene unterstreicht die Verbindung des aktuellen Krieges mit den bereits fern erscheinenden Ereignissen des Jahres 2014, als der Krieg gegen die Ukraine noch als „Konflikt“ bezeichnet wurde. Schon damals kostete der russische Angriff auf ein Passagierflugzeug, das sich auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur befand, im besetzten Donbass 298 Zivilisten das Leben. Ihnen ist der Film Iron Butterflies gewidmet. Der Filmtitel verweist dabei auf die schleifenförmigen Eisenfragmente im Kern der Raketen, die das Flugzeug durchlöcherten.

Iron Butterflies ist der zweite Dokumentarfilm des jungen ukrainischen Regisseurs Roman Liubyi. Die Dreharbeiten für den Film begannen bereits im Jahr 2019. Das Filmteam selbst, ordnet Iron Butterflies dem Genre des Documentary Theatre zu. In einer Collage aus Online-Videoausschnitten, schwarz/weiß Tanztheatersequenzen und authentischem Doku-Material wird die Katastrophe des Flugzeugabsturzes und ihre Aufarbeitung nachgezeichnet. Die von der australisch-britischen Choreographin Bridget Fiske geleiteten Tanztheaterszenen sind ein zentrales Element des Films und ermöglichen eine ästhetisch-empathische Annäherung an die Ereignisse.

Obwohl Iron Butterflies den Opfern der Flugkatastrophe gewidmet ist, lässt sich das Sujet des Dokumentarfilmes nicht von seinem Kontext des Ukraine-Krieges trennen. Die Ereignisse des 17. Juli 2014 dienen eher als eindrückliches Fallbeispiel, mit dem nicht nur an die europäische und internationale Solidarität mit der Ukraine in Anbetracht russischer Aggression appelliert wird. Der Film erkundet zudem das Wesen der russischen Kriegskultur. Vor allem die cineastische Inszenierung jener Kriegskultur, die sich aus der (post)sowjetischen Expertise des Filmteams speist, macht die Stärke des Filmes aus.

Als auf der Leinwand eine Person im Schutzanzug einen vergilbten Aufzug betritt, wähnt sich der Zuschauer zu Beginn des Filmes in einer Tschernobyl-Doku. Bald schon wird jedoch deutlich, dass es sich um ein ukrainisches Archiv handelt. Die Person holt eine schwere Filmrolle hervor und legt das Band in ein Abspielgerät. Es erscheint ein sowjetischer Propagandafilm zum Raketen-Flugabwehrsystem Buk, jenes Systems, das in Zukunft den Malaysia-Airlines Flug abschießen wird.

Drei Soldaten sitzen einträchtig im Kontrollraum des Geräts und geben eine Rakete zum Abschuss eines feindlichen Objekts frei.
Der Wind in den heimischen Feldern, das Lächeln der Kameraden hinterlässt den Eindruck von Leichtigkeit und Freude im Dienst der Verteidigung des Vaterlandes. Was im ersten Augenblick wie ein antiquierter Filmausschnitt erscheinen mag, erweist sich bald als prägendes Element der zeitgenössischen russischen Kultur: in der nächsten Sequenz erscheint ein Kinderbettgestell in der Form des Abwehrsystems Buk, das eine russische Möbelfirma auf Wunsch eines der Soldaten für dessen Sohn anfertigen ließ. Neben dem an sich schon makabren Sachverhalt kommt hinzu, dass die Anfertigung nach dem Abschuss der Maschine und dem Tod der 248 Zivilisten erfolgte; das xenophobe Element der russischen Staatsideologie somit in Erscheinung tritt.

Begleitet von den aufschlussreichen Gesprächsmitschnitten russischer Milizen, die vom ukrainischen Geheimdienst aufgezeichnet und für die filmische Rekonstruktion der Ereignisse eingespeist wurden, nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Es erfolgt ein Anruf aus Donezk, indem ein Lieferant in kriegsverherrlichender Manier den Verladeort der „Schönheit“ Buk erfragt, die aus Kursk in den Donbass geschmuggelt wurde. Ein anderer Mitschnitt lässt erkennen, dass das Passagierflugzeug trotz schlechter Sicht leichtfertig als Spionageflugzeug zum Abschuss freigegeben wurde. Die begleitende Tanztheaterszene zeigt die Täter-Soldaten mit verpixelten Gesichtern, untermalt von einer unheimlich disharmonischen Klaviermusik. Ebenso leichtfertig drückt einer der Soldaten auf eine Klaviertaste, die hier symbolisch für die Betätigung des Abschussknopfes steht. Doch als sich die Täter der Konsequenzen ihrer Tat bewusstwerden, machen sich Zurückweisung und Panik breit.

Ähnlich verhält es sich mit den Augenzeugen aus dem Donbass, deren Reaktionen in Videoposts aus den sozialen Netzwerken festgehalten sind. Auf die anfängliche Euphorie und Bewunderung des „wundervollen“ und „schönen“ Abschusses der „ukrainischen Junta“ folgt die Erkenntnis, dass es sich um ein ziviles Flugzeug handelt. Das xenophobe Moment wird dadurch jedoch nicht gemindert. Eine Fotoabfolge aus den sozialen Netzwerken zeigt die Feier einiger Donbasser Milizen auf den Leichen und Trümmern des deutlich erkennbaren Malaysian Airlines Flugzeuges.

In Iron Butterflies wird auch der psychologische Aspekt der zeitgenössischen russischen Kultur thematisiert, der als eine Verbindung apolitischer Passivität mit einem gewaltsamen Kollektivismus erscheint. Neben dem Hersteller des Buk-Kinderbettes, der im Interview beteuert, außerhalb der Politik und des Journalismus zu stehen, erweist sich eine Tanztheaterszene als besonders eindrucksvoll. Sie spielt sich im Haus einer fiktiven Augenzeugen-Familie ab, die den Flugzeugabsturz aus ihrem Fenster beobachten konnte.

Der Wind der ostukrainischen Steppe streift die Wände des bescheidenen Dorfhauses in der Hitze jenes Sommertages. An der offenen Eingangstür, durch die der Blick ins Haus führt, flattert ein christlich-orthodoxer Kalender mit einer Ikone. Im Wohnzimmer der Familie erscheinen plötzlich die verpixelten Täter, die den Zeugen gewaltsam den Mund zu halten. Zu Beginn noch überrumpelt, nehmen die verstummten Zeugen bald die Haltung der Täter ein und vollführen mit diesen einen Tanz zu einem pathetischen Sowjetlied, das den Glauben des Volkes besingt:

„Auf schweren und beängstigenden Wegen,

weit von der Erfüllung des Traums,

Glaub an die Menschen, die nahen und fernen,

und sofort wirst Du auch an Dich glauben.

Schon wieder ruft ein grimmiger Tag,

die Nerven brummen ermüdet.

Der Glaube an die Menschen, der Glaube an die Menschen-

Ist unsere Hauptwaffe.“

Gehorsam setzt sich die Familie anschließend vor den Fernseher, um die Position des russischen Staatsfernsehens aufzunehmen, welches zuerst den Abschuss eines ukrainischen Kampfflugzeuges vermeldet und kurz danach die Lüge vom ukrainischen Abschuss des zivilen Flugzeuges verkündet. Die beunruhigende Musik der Pianistin Aleksandra Morozova setzt erneut ein und begleitet das Streuen der Nebelkerzen durch die russische Propaganda. Von einer westlichen „Spezialoperation“ im Inneren des Flugzeuges ist die Rede. Derweilen beschwört eine russische Schamanin die Geister der Toten.

Zur unheimlichen Stimmung der Szenerie trägt die nach wie vor bestehende Aktualität und Relevanz russischer Desinformationskampagnen bei. So ist es dem Filmteam mit Iron Butterflies schließlich gelungen, ein fesselndes Zeitdokument des russischen Informationskrieges zu produzieren.

Leider setzt die Dokumentation die vielversprechenden Ansätze nicht konsequent fort. Statt die Analyse der russischen Kriegskultur und Desinformationskampagnen zu vertiefen, verliert sie sich in der zweiten Hälfte in der Aufarbeitung der Katastrophe. Hier scheint die Crew nur über vereinzeltes Filmmaterial verfügt zu haben. Die Perspektive der Opfer wird nahezu ausschließlich durch die Dokumentation des niederländischen Hinterbliebenen Robby Oehlers abgedeckt. Auch eine ausführlichere Dokumentation des Strafprozesses in Amsterdam wäre interessant gewesen.

Offenbar wollten die Macher*innen von Iron Butterflies die europäische Perspektive nicht vernachlässigen und ein Bild der Verbundenheit in Anbetracht des Krieges zeigen. Die Appellfunktion des Filmes gegenüber Europa ist unverkennbar.
Da die Stärke des Filmes aber insbesondere in der Darstellung des Zeitgeistes der russischen Desinformation und des Kriegskultes liegt, verfehlt Iron Butterflies die Chance, ein vollständiges Zeitdokument jener Jahre zu sein.

 

Iron Butterflies, von Roman Liubyi
mit Danylo Shramenko, Ivan Zavertalyuk, Anton Ovchinnikov, Sofiya Gakh, Olha Kebas/
Ukraine/ Deutschland 2023 (84‘) Europäische Premiere auf der Berlinale 73 im Februar 2023.

 


[1] Die Zitate im Text stammen aus dem Film Iron Butterflies