von Marcus Schäfer

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31. Mai 2023

Wir befinden uns im Jahr 1912. Die fliegende Stadt „Columbia“, einst technologisches Vorzeigeprojekt der USA, hat sich vor genau 10 Jahren von den Staaten losgesagt und ist in den Wolken verschwunden, um ein neuer „Garten Eden“ zu werden. Sie ist inzwischen ein fundamental religiöser Stadtstaat unter der Führung des „Propheten“ Comstock geworden, der sich im Auftrag Gottes sieht, dass Sodom auf Erden zu tilgen. Comstock ist Verfechter der „weißen Vorherrschaft“, was sich auch in der städtischen Propaganda widerspiegelt, die sich hier auf dem Artikelbild betrachten lässt. Minderheiten mit irischen, afroamerikanischen und asiatischen Wurzeln leben in „Columbia“ dementsprechend segregiert von der weißen Mehrheitsbevölkerung und werden durch Arbeit ausgebeutet. Doch unter der Oberfläche brodelt es, denn im Arbeiter*innen-Ghetto machen sich die „Vox Populi“ daran, die Unterdrückung durch eine Rebellion zu beenden. Und an diesem Punkt steigen wir in das Videospiel BioShock Infinite ein. Schnell wird deutlich, dass das Spiel sich nicht nur thematisch stark an der US-amerikanischen Geschichte orientiert und diese kritisch betrachtet, sondern darüber hinaus problematische Erinnerungskulturen hinterfragt.

 

Historische Idealvorstellungen und problematische Realitäten

Vom US-amerikanischen Studio Irrational Games[1] entwickelt und 2013 veröffentlicht, ist BioShock Infinite wie seine beiden Vorgänger ein Ego-Shooter mit Sci-Fi-Anleihen. Trotz all der brutalen Schusswechsel im Spiel kann man die vielen kritischen sozialen Kommentare kaum übersehen. Wir haben es hier mit einer Parabel auf die US-amerikanische Geschichte und Gegenwart zu tun. Überall lassen sich Hin- und Verweise auf historische Ereignisse, Gruppen und Persönlichkeiten beobachten. Es geht um Fragen von Hypernationalismus, Militarismus und radikaler Religiosität. Aber es finden sich auch Bezüge auf kapitalistische Ausbeutung im Zeitalter der Industrialisierung, Rassismus gegen Minderheiten, sowie Imperialismus- und Kolonialismus.[2]

Davon ist bei Spielbeginn noch wenig zu spüren. Ken Levine, Leiter von Irrational Games, betont, dass „Columbia“ anfangs absichtlich in all seiner kolossalen Pracht gezeigt wird. Dessen fabelhafte Oberfläche repräsentiere eine historische Idealvorstellung der USA um 1900, wie sie Levines Erfahrung nach viele seiner Landsleute noch immer für realistisch halten. Erst im Spielverlauf wird jedoch klar, dass die Idylle trügt.[3] Dennoch rütteln die offensichtlichen Probleme des Stadtstaates und seiner Vergangenheit nicht am glorifizierten Selbstbild, welches sich auch in der städtischen Erinnerungskultur widerspiegelt.

 

Die Stabilisierung der Nation in der „Hall of Heroes“

In einem der einprägsamsten Segmente des Spiels gelangen wir in die obskure „Hall of Heroes“ – eine Art Nationalmuseum –, um dort einen abtrünnigen Kriegsveteranen namens Slate zu stellen.

Abb. 1: Eingang zur geschichtlichen Ausstellung „Kampf am Wounded Knee“. Quelle: BioShock Infinite © 2K Games, Screenshot: Marcus Schäfer.
Abb. 2: Eingang zur geschichtlichen Ausstellung „Die Boxer-Rebellion“. BioShock Infinite © 2K Games, Screenshot: Marcus Schäfer.

In den zwei zentralen Geschichtsausstellungen werden die militärische Intervention der Staaten bei der imperialistisch motivierten Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands 1901[4] und das Massaker von Wounded Knee 1890 aufgegriffen; letzteres ein prägnantes historisches Teilereignis des Genozids der USA an der indigenen Bevölkerung Amerikas[5] (Abb. 1 u. 2.).

Der Aufbau der mehrräumigen Ausstellungen ähnelt einer Geisterbahn. Gezeigt werden entmenschlichte Versionen von Native Americans und Chines*innen mit grotesken Fratzen (Abb. 3). Eine monströse Statue zeigt Native Americans, die eine weiße Frau skalpieren (Abb. 4). Die Feinde werden wahlweise als sich im Schatten bewegende Ungeheuer mit alptraumhaften roten Augen und als brennenden Schutt hinterlassende Menschenflut gezeichnet.

Abb. 3: Entmenschlichte Darstellung eines Chinesen. BioShock Infinite © 2K Games, Screenshot: Marcus Schäfer.
Abb. 4: Stereotype Darstellung von Native Americans als rücksichtslose Mörder. BioShock Infinite © 2K Games, Screenshot: Marcus Schäfer.

Aktivierbare Schalter lösen einen mechanisierten George Washington-Roboter aus, der mit martialischer Stimme auf gleichzeitig poetische Weise vom vermeintlich heroischen Sieg über die „barbarischen Horden“ berichtet (Abb. 5).

Abb. 5: Audios informieren in selbstherrlicher Weise über Columbias historische Taten bei Wounded Knee und während des Boxeraufstands. BioShock Infinite © 2K Games, Screenshot: Marcus Schäfer.

Schlussendlich dienen die bizarren Ausstellungen „Columbias“ der nationalistischen Glorifizierung von Imperialismus und kolonialem Genozid. Die Niederschlagung des Aufstandes sowie das Massaker – und die darin enthaltene, rassistische Kreation der als barbarisch klassifizierten „Anderen“ ­– dienen hier als positive Bezugspunkte für die nationalistische Genese und Stabilität der Stadtgesellschaft.

Eine weitere Metaebene erhält der Abschnitt dadurch, dass der Kriegsveteran Slate die Geschehnisse über Funk kommentiert. Darin offenbart er die Lügen der offiziellen Geschichtsschreibung. So wird die Ausstellung als propagandistische Heuchelei des „Propheten“ entlarvt. Das Spiel thematisiert offen die realen Ideologien und Events, wenn auch nicht im Detail auf die Geschehnisse eingegangen wird. Ein umfangreiches Grundwissen wird also vorausgesetzt.

 

Die umkämpfte Transformation der US-amerikanischen Geschichtskultur

BioShock Infinite nimmt in überspitzter Manier Bezug auf die lange Zeit vornehmlich von Weißen vorgenommene Musealisierung US-amerikanischer Geschichte, die keine Multiperspektivität zuließ, staatliche Gräueltaten nationalistisch auflud und glorifizierte. Eine zentrale Rolle für die Identität „Columbias“ spielt der reale, religiös geprägte Exzeptionalismus, der eben auch in der „Hall of Heroes“ allenthalben propagiert wird. Demnach seien die USA eine einzigartige und überlegene Nation, der eine Sonderrolle in der Menschheitsgeschichte zukomme. Gleiches gilt für den hieran anschließenden Frontier-Mythos, welcher vor allem als ideologische Legitimationsgrundlage für die räumliche Expansion in den damals von den Siedler*innen noch unerschlossenen Westen Nordamerikas galt. Diese Grundlage sollte den „Triumph“ der amerikanischen Zivilisation über das „wilde“ Land garantieren und betonte in seiner damaligen Prägung auch die Notwendigkeit der Eliminierung indigener Menschen sowie anderer „Nichtweißer“.[6] Beide Mythen sind zentrale Bausteine amerikanischer Identität/Politik und oft Rechtfertigung für die vermeintliche Notwendigkeit, „amerikanische Werte“ in die Welt zu tragen.[7]

Der Exzeptionalismus hat die amerikanische Geschichtsschreibung entscheidend geprägt.[8] Dem Historiker Andreas Etges zufolge war die beschriebene Glorifizierung bestimmt von einer Darstellung der US-amerikanischen Geschichte als fortschrittlich und vorbildhaft, während weniger rühmliche Aspekte eher ausgeklammert oder relativiert wurden. Seit den kulturellen Umbrüchen der 1960er Jahre wird diese Erzählung gesellschaftlich zunehmend hinterfragt. Institutionen wie das National Museum of the American Indian oder auch die Sand Creek Massacre National Historical Site sind Indizien für eine sich ausdifferenzierende Geschichtslandschaft und stellen narrative Korrektive dar, auch wenn es seit Mitte der 1990er wieder kaum kritische Ausstellungen zu amerikanischer Geschichte gebe.[9] Das ein Teil der Gesellschaft weiterhin eine plumpe Heroisierung der „eigenen“ Geschichte bevorzugt, wird derzeit wieder spürbarer öffentlich diskutiert.[10] Insgesamt hat ein Umdenken stattgefunden, was neben den Aktivitäten der jeweiligen Communities und weiterer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen auch geschichtswissenschaftlichen Meilensteinen wie A People´s History of the United States (1980)[11] und Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses (1970)[12] geschuldet ist, die herrschende Geschichtsnarrative infrage stellen. Und auch BioShock Infinite ist Ausdruck dieser differenzierteren Perspektive.

 

Das Potenzial von Videospielen als Beitrag zu Geschichtsdebatten

BioShock Infinite ist ein einzigartiger Seitenhieb auf selbstdarstellerische, unterkomplexe Geschichtsschreibung und ein Denkanstoß dahingehend, vermeintlich ruhmreiche nationale Vergangenheiten kritisch zu hinterfragen. Das Spiel hat in diesem Sinne seit seinem Release vor 10 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass die einflussreiche rechte Tea-Party-Bewegung das hier verwendete Artikelbild – welches in „Columbia“ der Propaganda dient – ernsthaft für eigene politische Zwecke missbrauchte.[13] Nichtsdestotrotz wird auch das Potenzial von Videospielen, unterrepräsentierten historischen Themen Aufmerksamkeit verschaffen zu können, mehr als deutlich: Nach der Veröffentlichung des Spiels verzeichnete die Anzahl der Google-Anfragen zum Boxeraufstand und zu Wounded Knee einen beachtlichen Anstieg.[14]

 


[1] Das Studio wurde 2017 in Ghost Story Games umbenannt.
[2] Ein überblicksartiges Essay über die Darstellung des gesellschaftlichen Rassismus in Bioshock Infinite haben Georg Kainrath und Jasmin Kofler publiziert. Vgl. ebd., Mythos und Funktion von Rassismus in Bioshock Infinite, Hypotheses, 03. Mai 2017, zuletzt abgerufen am 04. Januar 2023.
[3] Ken Levine, "We Can Kill The Industry With Cynicism" - Ken Levine - Bioshock, Interview geführt von Kevin VanOrd, Gamespot, 20. März 2013, zuletzt abgerufen am 04. Januar 2023, 00:33:03h–00:33:58h.
[4] Die chinesischen „Boxer“ waren eine anti-imperialistische Bewegung, die sich – bald von der chinesischen Regierung unterstützt – zwischen 1899 und 1900 in China ausbreiteten und mit Gewalt gegen ausländischen bzw. westlichen Einfluss wendeten, bspw. gegen christliche Missionare. Westliche Mächte – darunter die USA sowie Deutschland – und Japan schlugen die Rebellion bis 1901 auf brutale Weise nieder. Vgl. Peter Zarrow, China in War and Revolution, 1895-1949, London 2006, S. 2–6.
[5] Das Massaker von Wounded Knee 1890 war eines der Schlusspunkte der Vertreibung und Vernichtung der Native Americans durch die USA im 19. Jahrhundert. Hierbei wurden ca. 300 weitgehend unbewaffnete und passive Indigene von US-Soldaten getötet. Vgl. Bernd Stöver, Geschichte der USA. Von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart, München 2017, S. 134–149; Zur Verwendung des Genozid-Begriffs meint Stöver: „Legt man die UN-Konvention gegen Völkermord von 1948/51 zugrunde, liegt es im Rückblick und vor dem Hintergrund der weitgehenden physischen und kulturellen Vernichtung der Ureinwohner Nordamerikas nahe, neben dem Begriff der ethnischen Säuberung auch den des Genozid zu gebrauchen.“ Ebd., S. 68.
[6] Vgl. Mary E. Stuckey, The Donner Party and the Rhetoric of Westward Expansion, in: Rhetoric & Public Affairs 14 (2011) 2, S. 229–260, hier: 232f.
[7] Vgl. Jirí Kothera, Bioshock: Infinite as the Mirror of America?, in: Central European Journal of Contemporary Religion 1 (2020), S. 23–49, hier: S. 30 u. 36–38.
[8] Vgl. Winfried Fluck, Politische Kultur. Vom Exzeptionalismus der Werte zu einem Exzeptionalismus der Stärke. In: Christian Lammert, Markus B. Siewert u. Boris Vormann (Hrsg.), Handbuch Politik USA, Wiesbaden 2020, S. 19–36, hier: 19f.
[9] Vgl. Andreas Etges, E Pluribus Unum? Nationale Geschichtsmuseen in den USA zwischen Vielfalt und Einheit, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 16 (2019), H. 1, zuletzt abgerufen am 04. Januar 2023.
[10] Vgl. Thilo Kößler, Die USA als Land ohne Erinnerungskultur. Der dunkle Teil der Geschichte, Deutschlandfunk, 12. August 2018, zuletzt abgerufen am 04. Januar 2023.
[11] Vgl. Howard Zinn, A People´s History of the United States. 1492–Present, New York 2005.
[12] Vgl. Dee Brown, Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, München 1972.
[13] Vgl. Paul Tassi, Tea Party Group Unironically Utilizes BioShock Infinite Propaganda, Forbes, 16. Dezember 2013, zuletzt abgerufen am 23. Januar 2023.
[14] Vgl. Jeremy Hsu, Wissenschaftlicher Rassismus in Bioshock Infinite, Vice, 13. April 2013, zuletzt abgerufen am 05. Januar 2023.