Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn
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Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn

Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn
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Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn

Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn
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Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn

Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn
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Oberstleutnant i. G. Marcel Bohnert im Interview am „Nationalen Veteranentag“ in Berlin, 15.6.2025, Fotograf: Stephan Horn

„Deutsche Krieger“ oder „Staatsbürger in Uniform“?

Impuls für die identitätspolitische Debatte der Bundeswehr

Die Frage, ob das Soldat*in-Sein in der Bundeswehr eher vom Krieg oder vom Frieden gedacht werden soll, welche Rolle die Politik und das Erbe der Wehrmacht dabei spielen, ist so alt wie die Organisation selbst. Was zählt mehr? Das militärische Können des „Kriegers“ im Kampf oder das wertegebundene Selbstverständnis des „Staatsbürgers in Uniform“? Meist unbeachtet von weiten Teilen der Zivilgesellschaft strahlen die bundeswehrinternen Identitätsdebatten kaum über die Szene hinaus. Welche*r Zeithistoriker*in kennt schon die Auseinandersetzungen zwischen Baudissin und Karst, zwischen „Reformern“ und „Traditionalisten“? Wer hat schon etwas von der „Schnez-Studie“, der Gruppe der „Leutnante 70“, von den „Hauptleuten von Unna“ oder dem „Darmstädter Signal“ gehört?[1] Ohne die Zuwendung einer informierten Zivilgesellschaft kommt aber den deutschen Streitkräften ein wichtiges Korrektiv ihres militärischen Eigenlebens abhanden.

 

Der lange Schatten des Afghanistaneinsatzes

Der derzeitige Stand der soldatischen Identitätsdebatte ist eine Folge des langjährigen Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan (2001-2021). Afghanistan hatte nicht nur zur Renaissance soldatischer Memoirenliteratur in deutscher Sprache geführt.[2] Vor rund zehn Jahren veröffentlichten junge Bundeswehroffiziere der sogenannten Kampftruppen quasi zur Selbstverortung und -findung den Sammelband „Armee im Aufbruch“. Sie nahmen sich als „Generation Einsatz“ wahr, hatten nach eigenem Verständnis in Afghanistan ihre „Feuertaufe“ erlebt, die sie zu ihren „militärischen Wurzeln zurückgeführt“ hätte, und plädierten für eine „Professionalisierung statt Politisierung“ der Soldat:innen.[3] Damit stellten sie die offizielle „Unternehmensphilosophie“ der Bundeswehr (Stichwort „Innere Führung“) teils vehement in Frage. Marcel Bohnert, einer der Herausgeber des Bandes, trieb in den darauffolgenden Jahren die Einführung eines „Veteranentages“ entschieden voran.[4] Am 15. Juni 2025 wurde dieser Tag erstmalig in der Bundesrepublik gefeiert. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel hob die skizzierte Debatte mit seinem meinungsstarken Bestseller-Buch „Deutsche Krieger“ von 2020 kurzzeitig ins Rampenlicht einer größeren Öffentlichkeit.[5] Zuletzt plädierte der medienpräsente Historiker in Anbetracht der sogenannten Zeitenwende für das Leitbild des „demokratischen Kriegers“ (Herberg-Rothe/Thiele) und bezeichnete „das System der Wehrmacht“ als „relativ schlau“, wenn es darum gehe, „Soldaten Identität, Kohäsion und Motivation“ zu vermitteln.

 

Tabuthema „Wehrmacht“ und „gelebte Militärkultur“

Sozialwissenschaftler*innen der Bundeswehr untersuchen und kommentieren aufmerksam diese Identitätsdebatten. Leider werden ihre zahlreichen Studien kaum über die Fachkreise hinaus rezipiert. In einem jüngst veröffentlichten Forschungsbericht sprechen sie von einer kontraproduktiven „Tabuisierung der Wehrmacht“ im „Unterricht“, in „Handreichungen und Lehrmaterialien“ für die Soldat*innen. Dies öffne den Raum für „Heimlichkeiten und Legendenbildungen“.[6] Das „militärische Agieren der Wehrmacht“ sei vielmehr „aus professioneller Sicht zu analysieren, einzuordnen, zu kritisieren und auf seine heutige Relevanz zu befragen.“ Gleichermaßen seien die „historischen Hintergründe und insbesondere die Rolle der Wehrmacht im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg zu problematisieren.“ Die Wissenschaftler*innen stellen fest, dass in der Bundeswehr aus militärkulturellen Gründen das Ansehen der Kampftruppen – und damit der „Kriegertypus“ - höher bewertet werde als beispielsweise jenes der sie unterstützenden Kräfte, wie die Sanitäts- und Logistikeinheiten. Sie schreiben, dass Soldat*innen, die einem „ausgeprägten militärischen Elitebewusstsein anhängen und der Traditionswürdigkeit der Wehrmacht das Wort“ redeten, „empfänglicher für rechtsextremistische Positionen“ seien.[7] Die Autor*innen der Studie empfehlen als Mittel gegen diese Tendenz, den Bundeswehrangehörigen die Möglichkeit zu bieten, „subjektiv empfundene Diskrepanzen zwischen offiziellen Leitbildern und gelebter Militärkultur zu thematisieren.“ Weiter solle vermittelt werden, „dass militärfachliche Kompetenzen mit den Leitbildern der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform nicht konkurrieren, sondern korrespondieren.“[8] Die Studie zeigt nicht nur die aktuelle Prägekraft der „Krieger/Staatsbürger“-Debatte. Sie offenbart auch, dass soldatische Identitätsdebatte und Rechtsextremismusprävention zwei Seiten derselben Medaille sind.

 

„Korrespondieren“ statt „konkurrieren“

Wie aber soll das entschiedene „Sowohl-als-auch“ der Bundeswehrsozialwissenschaftler*innen umgesetzt werden? Die Wehrmacht stärker und differenzierter in der Ausbildung deutscher Soldat:innen zu thematisieren, ist richtig und gut. Schließlich fühlte sich manch ein deutscher Veteran im Afghanistaneinsatz an Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Ein auf eigenen Wunsch anonym gebliebener Bundeswehrsoldat, der 2010 an den Kämpfen um das afghanische Dorf Isa Kehl teilnahm, zog seinerzeit eine Linie zur deutschen Luftlandeoperation auf Kreta im Sommer 1941: „Heute kommt mir das so vor wie in den Berichten alter Kreta-Kämpfer: Eingeschlossen. Ohne Munition. Ohne Nachschub. Mit dem Rücken zur Wand. Überall lauert der Feind, über den du nichts weißt. Als würden zwischen den Gefechten keine 69 Jahre liegen.“[9] Um ein Tabuthema anzugehen, benötigt es einen geschützten Raum zur offenen Diskussion. Der erste Schritt zur Enttabuisierung ist das Einüben einer guten Diskussionskultur in den Streitkräften, und dies ist sicherlich im Umfeld „gelebter Militärkultur“ keine leichte Aufgabe. Doch die Wehrmacht ist nicht das einzige verdrängte Thema in den deutschen Streitkräften. Gut für die Identitätsdebatte wäre es, Stimmen aus den Reihen der Bundeswehr, die beharrlich in Wort und Tat für die Innere Führung einstehen und von den diskursprägenden Fürsprechern des Kriegertypus ignoriert werden, mehr Gehör nicht nur in der sogenannten Persönlichkeitsbildung der Truppe zu verschaffen. Als diskussionswürdiges Beispiel für eine Gewissensentscheidung gegen einen Kriegseinsatz kann der Fall des Bundeswehr-Oberstleutnants Jürgen Rose betrachtet werden, der 2007 seinen Disziplinarvorgesetzten um die Entbindung von seinen bisherigen Aufgaben am Tornado-Waffensystem bat. Für Oberstleutnant Rose bedeutete „der Einsatz der Bundeswehr-Tornados in Afghanistan die Teilnahme Deutschlands an völkerrechtswidrigen und vom NATO-Vertrag nicht gedeckten Militäraktionen“.[10] Seine Geschichte, aber auch die ähnlich gelagerten Fälle von Major Florian Pfaff oder Oberleutnant Philip Klever sind beispielsweise im Buch „Deutsche Krieger“ von Sönke Neitzel eine Fehlstelle.[11]

 

Fazit

Das gegenwärtige Verhandeln des soldatischen Selbstverständnisses von Bundeswehrangehörigen ist eine Bottom-Up-Bewegung engagierter, oft einsatzerfahrener Soldat*innen, die sich zuletzt öffentlichkeitswirksam in der Etablierung eines „Nationalen Veteranentages“ in Deutschland gezeigt hat. Die Wiederentdeckung und Bekräftigung einer (vermeintlich existenten) national gerahmten, deutschen Kriegerkultur ist ein Boomerang-Effekt des Einsatzes der Bundeswehr im Afghanistankrieg und erlebt aktuell angesichts des Kriegs in der Ukraine eine gewisse Fürsprache.[12] Ein wiederkehrender Punkt dieser Debatte ist der Umgang mit dem historischen Erbe der Wehrmacht, beispielsweise wenn es um die Bewährung der Soldat:innen im Kampf geht. Wohin dieser Diskurs politisch und gesellschaftlich führen wird, bleibt offen, aber die Zivilgesellschaft täte gut daran, diese Entwicklungen aufmerksam zu beobachten, gegebenenfalls korrigierend zu begleiten - besonders jetzt, wo die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht immer dringlicher diskutiert wird. Sollen die von Zeit- und Berufssoldat*innen der Kampftruppen in Auslandseinsätzen gemachten Kriegserfahrungen die mentale Grundlage der inneren Ausrichtung einer Armee mit Wehrdienstfreiwilligen oder Wehrpflichtigen zur Landes- und Bündnisverteidigung bilden? Die Gesellschaft wird langfristig die Kosten dieser Entwicklungen tragen müssen. Begrüßenswert in der Debatte wäre es, marginalisierten Stimmen aus den Reihen der Bundeswehr mehr Gehör und Gewicht im Diskurs zu verschaffen. Auch könnte die Militärsoziologie der Bundeswehr (wieder) mit lauterer Stimme sprechen.

 


[1] Zur Einführung in die Thematik Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005.
[2] Siehe beispielsweise Heike Groos, Ein schöner Tag zum Sterben. Als Bundeswehrärztin in Afghanistan, Frankfurt am Main 2009; Achim Wohlgethan/Dirk Schulze, Endstation Kabul. Als deutscher Soldat in Afghanistan – ein Insiderbericht, Berlin 2009; Johannes Clair, Vier Tage im November. Mein Kampfeinsatz in Afghanistan, Berlin 2012; Rainer Buske, KUNDUZ. Ein Erlebnisbericht über einen militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Jahre 2008, Berlin 2016; Christian Gerstner, Unter dem Schwert. 15 Jahre im Kommando Spezialkräfte, Berlin 2023; Hagen Vockerodt, 1638 Tage im Krieg. Die Kehrseite der Einsatzmedaille, Berlin 2024; Wolf Gregis, Das Karfreitagsgefecht. Deutsche Soldaten im Feuer der Taliban, Berlin 2025.
[3] Siehe Vorwort von Marcel Bohnert, in: Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, hrsg. von Marcel Bohnert und Lukas J. Reitstetter, Berlin 2014, S. 15—19, hier S. 15. Und Jan-Philipp Birkhoff, Führen trotz Auftrag. Zur Rolle des militärischen Führers in der postheroischen Gesellschaft, in: Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, hrsg. von Marcel Bohnert und Lukas J. Reitstetter, Berlin 2014, S.105—128, hier S. 114 ff.
[4] Marcel Bohnert/Julia Egleder, Deutschlands Veteranen. (Über-) Leben nach dem Einsatz, Hamburg 2023.
[5] Sönke Neitzel, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Berlin 2020.
[6] Heiko Biehl/Nina Leonhard/Markus Steinbrecher, Armee in der Demokratie. Ausmaß, Ursachen und Wirkungen von politischem Extremismus in der Bundeswehr, Forschungsbericht 138, Potsdam 2025, S. 151.
[7] Ebd., S. 150.
[8] Ebd.
[9] Zitiert nach Marc Hansen, Vom Friedensalltag zur Kriegserfahrung. Eine kulturgeschichtliche Annäherung an Bundeswehrsoldaten im Kampfeinsatz, in: Auftrag Auslandseinsatz. Neueste Militärgeschichte an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Streitkräften, hrsg. von Bernhard Chiari, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien, S. 263—273, hier S. 263. Angemerkt sei, dass das Militärhistorische Museum der Bundeswehr unlängst das Wirken der Wehrmacht mit Sonderausstellungen und Interventionen über die Fallschirmjäger oder die Verbrechen der Luftwaffe im „Dritten Reich“ kritisch beleuchtet hat. Siehe Armin Wagner/Magnus Pahl (Hg.), Mythos Fallschirmjäger? Hitlers Elitetruppe, Berlin 2021; Karin Grimme/Stephan Horn/Stephan Lehnstaedt (Hg.), Die Luftwaffe im „Dritten Reich“. Verbrechen, Zwangsarbeit, Widerstand, Berlin 2023.
[10] Jürgen Rose, Ernstfall Angriffskrieg, Frieden schaffen mit aller Gewalt?, Hannover 2009, S. 160.
[11] Weiterführend Matthias Gillner, Für einen „die ethischen Grenzmarken des eigenen Gewissens bedenkenden Gehorsam“. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gewissenfreiheit des Soldaten und seine Konsequenzen für die Bundeswehr, in: Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sozialwissenschaftliche Analysen, Diagnosen und Perspektiven, hrsg. von Sabine Jaberg, Heiko Biehl, Günter Mohrmann und Maren Tomforde, Berlin 2009, S. 193-214.
[12] Weiterführend Angelika Dörfler-Dierken, Soldaten, Krieger und Kämpfer oder Staatsbürger in Uniform?, in: Bundeswehr und Gesellschaft – Wahrnehmungen im Wandel, hrsg. von Martin Elbe und Angelika Dörfler-Dierken, Wiesbaden 2024, S. 33-48.

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Zitation

Stephan Horn, „Deutsche Krieger“ oder „Staatsbürger in Uniform“?. Impuls für die identitätspolitische Debatte der Bundeswehr, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/deutsche-krieger-oder-staatsbuerger-uniform