Der 9. Mai: Fest des Erinnerns, Kunst des Vergessens
In der offiziellen sowjetischen Chronotopie des Erinnerns und Gedenkens gehörte der 9. Mai zu deren bedeutendsten Höhepunkten. Aber auch auf der privaten Agenda der Feierkultur stand der „Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus“ in der ehemaligen Sowjetunion ganz oben. Nach der festlichen Ouvertüre des 22. April (der Lenin-Geburtstag) seelisch vorpräpariert, stieg der Sowjetmensch in die feierlich-ausgelassene Stimmung am 1. Mai ein, um dann zum 9. Mai erst richtig in Fahrt zu kommen. Zur normalen Tagesordnung wurde ab Mitte des Monats wieder übergegangen.
Für den singulären Stellenwert des Siegestages war freilich nicht nur die wechselseitige Resonanzwirkung der drei aufeinanderfolgenden Feierzeremonien verantwortlich. Während man am 9. Mai des historischen Friedens von 1945 mit Militärparaden und Massendemonstrationen gedacht hat, wurde an diesem Tag gleichsam ein Friedensabkommen zwischen den Herrschern und Beherrschten jährlich erneuert und bestätigt. Das Erinnern an das ungeheuerliche Ausmaß der nationalen Tragödie und des privaten Leids im Zweiten Weltkrieg machte das Vergessen von aktuellen innenpolitischen Konflikten und Spannungen möglich. Seine soziale Penetranz gründete der Feiertag aber auch darauf, dass für die sowjetische Bevölkerung und Führung zumindest an diesem Ausnahmetag der Traum von ihrer weltweiten Akzeptanz und Achtung in Erfüllung zu gehen schien.
Was die Sowjetbürger von der Ideologie und Politik des kommunistischen Regimes auch immer gehalten haben, das große Verdienst der UdSSR im Zweiten Weltkrieg war für sie unhinterfragbar. Heutzutage, nach dem Zerfall der Sowjetunion, haben die Russen kaum noch Anlässe zu feiern. Während die festlichen Höhepunkte der kommunistischen Meistererzählung wie der Tag der großen Oktoberrevolution längst ausgedient haben, ist der „neu-russische“ Zeremonienkanon noch nicht richtig etabliert. Umso größere Bedeutung kommt in dieser trostlos verödeten Erinnerungslandschaft dem Gedenken an den Sieg über den Hitlerfaschismus zu.
Die Wichtigkeit, die diesem Feiertag von staatlicher Seite aktuell zugemessen wird, zeigt sich schon in dem Aufwand seiner Vorbereitung. Kaum hatten sich nach dem Salut zum 55. Jahrestag des Sieges die Kanonen abgekühlt, als schon auf höchster politischer Ebene damit begonnen wurde, das 60. Siegesjubiläum vorzubereiten. Im August 2000 wurde diese Aufgabe dem nach einem speziellen Präsidentenerlass eingerichteten Organisationskomitee „Pobeda“ („Sieg“) übertragen. Dieses sollte sich nun in Vorbereitung des Jubiläums um die „Hebung des internationalen Ansehens der Russischen Föderation“, um die „Betreuung der Kriegsveteranen“, um die „Erziehung der Jugend im Geiste des Patriotismus“ usw. kümmern. Im April 2004 kam es zusätzlich noch zur Bildung einer Arbeitsgruppe des Staatsrates der Russischen Föderation, die das Pobeda-Komitee unterstützen sollte.
Die Liste der von diesen Gremien geplanten Aktionen und Kampagnen ist gewaltig. Laut einem Zwischenbericht der Staatsratsarbeitsgruppe seien schon im Juni 2004 überall im Lande zahllose Bürgerinitiativen für „oral history“ ins Leben gerufen, Pfadfinderbrigaden gegründet, Künstler- und Pressewettbewerbe ausgerufen, neue Gedenkstätten errichtet und „Wachen der Erinnerung“ gehalten worden. Medien, die sich des Themas besonders angenommen hatten, erhielten staatliche Subsidien. Unter Slogans wie „Frauen im Dienste des Vaterlandes“ oder „Wir sind stolz auf unsere Heimat“ wurde angeblich von Kaliningrad bis Kamtschatka gesungen und gedichtet, gewandert und gegrillt – oder auch geschossen: so gab es Initiativen, die schon zu Sowjetzeiten populären militärisch-patriotischen Jugendspiele „Zarnica“ wieder einzuführen.
All diese angestrengte Betriebsamkeit, Rhetoriken und Riten altsowjetischer Provenienz zu reanimieren und das im privaten Rahmen noch überaus wichtige Datum ideologisch zu verwerten, hielt sich zunächst allerdings im bescheidenen Rahmen und schien sogar ganz im Sand zu verlaufen. Kein Wunder, denn das Programm schuf vorwiegend vergangenheitsorientierte Kodierungen und wirkte ähnlich hoffnungs- und trostlos wie die Militärparaden der letzten Jahre mit ihrer schwermutig spielenden Blasmusik über den Marschkolonnen und ihrer sich schwerfällig über den Roten Platz fortschleppenden Kampftechnik, die – obwohl frisch lackiert – allzu sehr an fossile Reptilien aus der Sackgasse der erbarmungslosen Naturgeschichte erinnerte, um das Gefühl der Zuversicht und Zukunftssicherheit vermitteln zu können. Das Problem war noch im Juni 2004 aus dem Bericht der Arbeitsgruppe herauszulesen. Es fehlte nämlich trotz aller Bemühungen „eine besondere Atmosphäre des Festes, der Einigkeit, des Patriotismus und des Stolzes auf die eigene Heimat“, hieß es in dem Dokument. „Der Stellenwert der militärisch-patriotischen Themen im russischen Kulturleben und vor allem ihre Präsenz im Informations- und Kulturraum Russlands bleiben nach wie vor kaum wahrnehmbar“.
Schon bald sollte sich diese Stimmungslage aber dramatisch wandeln. Dies hatte jedoch nichts mit den etwas gequält und antiquiert wirkenden (Re)animationsmaßnahmen des Pobeda-Komitees zu tun, sondern mit einer erhitzten internationalen Kontroverse. Der nahende 60. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg wird zur Zeit durch eine von baltischen Republiken ausgelöste Auseinandersetzung überschattet, die ausgerechnet das bislang ungebrochene Selbstbewusstsein der Russen, wenigstens einmal in der Geschichte – von 1941 bis 1945 – auf der Seite der „absoluten Wahrheit“ gestanden zu haben, zur Disposition stellt. Der Unmut der russischen Öffentlichkeit ist entsprechend groß und laut und geht quer durch alle sozialen Schichten und politischen Gruppierungen.
Der Reiseboykott
Ende 2004 sind an zahlreiche internationale Gäste offizielle Einladungen zur feierlichen Parade „Tag des Sieges“ am 9. Mai verschickt worden. Darunter wurden über fünfzig Staatschefs einschließlich des US-Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers nach Moskau eingeladen. Zwei europäische Oberhäupter aber – die Präsidenten Estlands, Arnold Rüütel, und Litauens, Valdas Adamkus – haben Putins Einladungen am 7. März 2005 offiziell mit der Begründung abgelehnt, der 9. Mai habe für ihre Völker nicht eine Errettung und Befreiung, sondern den Beginn einer brutalen „dritten Okkupation“ durch die Rote Armee bedeutet (siehe dazu auch den Aufsatz von Melanie Arndt und Veronika Gerber). „Wir können unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass das estnische Volk über seine eigene Zukunft nicht frei entscheiden konnte, unser Schicksal wurde mit dem Hitler-Stalin Pakt, abgeschlossen am 23. August 1939, besiegelt", hieß es aus Tallin. Die Leistungen der sowjetischen Soldaten im Kampf gegen Nazideutschland seien zwar unbestritten. Nach dem 9. Mai 1945 hätten aber die Esten als Volk unter dem stalinistischen totalitären Regime leiden müssen.
Demgegenüber hat sich die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga dem Reiseboykott zwar nicht angeschlossen, dadurch aber für noch mehr Zündstoff gesorgt, weil sie erklärte, die Moskauer Feierlichkeiten als eine Bühne nutzen zu wollen, um die sowjetische Besatzung des Baltikums sowie die stalinistischen Verbrechen in Mittel- und Osteuropa insgesamt öffentlich anzuprangen. „Als Präsidentin eines Landes, das lange Zeit besonders unter der sowjetischen Herrschaft gelitten hat, fühle ich mich verpflichtet, die Welt darauf hinzuweisen, dass dieser, die Menschlichkeit bisher am stärksten missachtende Konflikt (der Zweite Weltkrieg) sich nicht so produziert hätte, wenn die beiden totalitären Systeme, das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion, nicht im Geheimen die Aufteilung der Gebiete in Osteuropa untereinander vereinbart hätten.“ Beide Tyrannen, Hitler und Stalin seien auf Grund des Molotow-Ribbentrop-Nichteingriffspaktes für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verantwortlich gewesen. Diese Geschichtsdeutung wurde am 26. April 2005 offiziell durch eine Deklaration auch im Parlament Litauens fast einstimmig (ein Abgeordneter stimmte dagegen) inauguriert. Alle drei Länder haben im Prinzip die in Jalta und Potsdam festgeschriebene europäische Nachkriegsordnung in Frage gestellt.
Da die Russische Föderation als die Rechtsnachfolgerin der UdSSR gilt, ist aus der baltischen Sicht auch der aktuelle Adressat der Geschichtsverantwortung juristisch-formal klar definiert. Zwar hat die Präsidentin Lettlands ihr Verständnis für die Erlebnisgeneration geäußert, deren Bewusstsein nicht mehr veränderbar sei. Diese Menschen würden am 9. Mai sowieso „Wobla auf Zeitungspapier servieren, Wodka saufen, Tschastuschkas herumsingen und sich daran erinnern, wie heldenhaft sie das Baltikum erobert hätten.“ Wie Vike-Freiberga aber der Moskauer Deutschen Zeitung (04.04.05) vertraulich eröffnete, betrachtet sie die mangelhafte Vergangenheitsbewältigung der Russen insgesamt unter dem sozialpathologischen Gesichtspunkt als ein gefährliches Problem: „Ich habe den Eindruck, dass Russland noch nicht bereit ist, sich der Aufarbeitung im notwendigen Umfang zu stellen. Das wird noch viel Zeit brauchen. Als gelernte Psychologin würde ich sagen, dass die Erinnerungsarbeit eine Art psychologischer Akt ist, bei dem man sich einem bestimmten Punkt nähern muss. Das können Sie mit Menschen vergleichen, die aufgrund schmerzhafter Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit Neurosen haben. Es ist sehr mühsam, aber man muss sich damit auseinander setzen. Sonst wird man nie geheilt.“
Diese und ähnliche Stellungnahmen aus Tallin, Riga und Vilnius bedeuteten natürlich einen Crashkurs. Rasch folgten ihnen Proteste auf der politischen Bühne und Empörung in den russischen Medien. Das Siegesjubiläum bekam auf diese Weise ein Leitthema, in dem sich die unterschiedlichen politischen und historischen Dispositive und Positionierungen deutlich herauskristallisierten.
Der Krieg der Denkmäler und die baltische Meistererzählung vom „kleineren Übel“
Die im März entbrannte Kontroverse zwischen Russland und den drei neuen EU- und Nato-Mitgliedern Estland, Lettland und Litauen resultierte aus einem lange andauernden Konflikt. In ihr geht es letzten Endes um die Interpretation und Bewertung der russland-baltischen Beziehungsgeschichte, die alles andere als widerspruchslos war. Seit 1721 (Estland) bzw. 1795 (Lettland und Litauen) Teil des Russischen Reiches, erhielten bekanntlich die drei baltischen Staaten in Folge der revolutionären Ereignisse von 1917 die Unabhängigkeit. Die in der baltischen Geschichtsschreibung vorwiegend apologetisch dargestellten darauffolgenden Jahre waren allerdings von durchaus ambivalenten Entwicklungen (Militärputschs) gekennzeichnet. Der Abschluss des Molotow-Ribbentrop-Paktes hatte schließlich dazu geführt, dass die drei Länder von der Roten Armee im Juni 1940 wieder besetzt und zu sowjetischen Teilrepubliken erklärt wurden. Im Sommer 1941 folgte die Okkupation durch die deutsche Wehrmacht, die erst im Herbst 1944 nach dem Einmarsch der Russen beendet wurde.
Dass sich hinter diesen historischen Eckdaten eine leid- und widerspruchsvolle Geschichte von Widerstand, Kollaboration, Völkermord und Vertreibung verbirgt, ist allgemein bekannt. Nach dem sowjetischen Einmarsch im Juni 1940 wurden im Baltikum Tausende „Helfer der Konterrevolution“ von der NKWD ermordet oder in die Lager verschleppt. Als nur ein Jahr später die Deutsche Wehrmacht die Sowjetmacht wieder vertrieben hatte, erwartete sie ein jubelnder Empfang der Bevölkerung als eine Befreierarmee. Nun war die Gesellschaft der drei Republiken schon lange tief gespalten. Von großen prosowjetisch orientierten Bevölkerungsteilen wurde diese Freude freilich nicht geteilt. Erst recht nicht von den Juden, die z.B. in Vilnius den Großteil der Stadtbewohner darstellten. In Litauen brach sofort nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR ein antisowjetischer Aufstand auf, der allerdings als ein antijüdisches Pogrom endete. Mit Hilfe der Litauischen Brigaden „Lietuvia Savisaugos Dalys“ (Litauische Abwehr) wurde bis zum Ende 1941 ca. 80% der jüdischen Bevölkerung Litauens vernichtet. Auch von den 93 000 Juden in Lettland wurden bis zum Kriegende 70 000 ermordet, und zwar meistens durch die lettischen „Hilfswilligen“ der deutschen Okkupanten. In Estland und Lettland traten die Menschen 1941 massenweise den baltischen Legionen der Waffen-SS bei, nur ein Teil von ihnen wurde zwangsrekrutiert. Auf dem weisrussischen und ukrainischen Territorium beteiligten sich diese Hilfstruppen ebenfalls aktiv an den Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Später, gegen Kriegsende kämpften die Legionäre in den Reihen der deutschen internationalen Kampftruppe gegen die anrückenden Einheiten der Roten Armee. Teilweise flüchteten die baltischen Kämpfer später zusammen mit den Deutschen. Tausende tauchten aber unter und führten als befürchtete „Waldbrüder“ einen erbitterten Partisanenkrieg weiter, der noch bis 1953 andauerte und dessen Niederschlagung aus heutiger Sicht der baltischen Historiographie unter dem Signum „Verbrechen des Stalinismus“ betrachtet wird.
Nachdem nun 1991 in Tallin, Riga und Vilnius die Unabhängigkeit erklärt worden war, rückte das sogenannte „dritte Erwachen“ der Balten zwangsläufig die Frage in den Mittelpunkt, wie sich die nunmehr souveränen Völker gegenüber ihrer „bewegten“ Vergangenheit zu verhalten hätten. Im politischen Spektrum aller drei Länder setzten sich in ihrem Selbstfindungsprozess die national-konservativen Positionen durch. Die zu Sowjetzeiten nur noch als „Banditen“ abqualifizierten Untergrundkämpfer wurden zu nationalen Helden glorifiziert. Die ehemaligen SS-Legionäre erhielten Renten als verdiente Kriegsveteranen, viele bekommen sie noch bis heute von Deutschland ausbezahlt. Freilich bemühten sich die neuen politischen Eliten der Region um die Wahrung gewisser westeuropäischer „Standards“ der Geschichtsinterpretation, die diskursive Grenze des Sagbaren und Denkbaren verschob sich dennoch kontinuierlich in die rechtspopulistische Richtung.
Wie man die „wahre“ baltische Geschichte auch immer lesen mag, wird sie zur Zeit auf der offiziellen Ebene zweifelsohne auf bestimmte politische Verwertungsoptionen hin gelesen. Einen Konsens glaubt ein Großteil der Balten schon lange in der theodizeisch anmutenden Meistererzählung des „kleineren Übels“ gefunden zu haben. Die drei kleinen Völker seien demnach zwischen die Fronten der in ihrer Brutalität durchaus vergleichbaren Übermächte geraten und hätten sich zwischen Stalin und Hitler entscheiden müssen. Als das „geringere Übel“ hätten dann viele aus ihrer fast ausweglosen Lage heraus das NS-Regime angesehen, ohne seine Ideale wirklich geteilt zu haben. So erklärte bei der Einweihung des Denkmals für die estnischen SS-Legionäre auch der Bürgermeister von Lihula Tiit Madisson, dass das Denkmal Menschen geweiht sei, die zwischen zwei Übeln hätten wählen müssen und sich für das geringere entschieden hätten. Mit dem Verweis auf die historische Alternativlosigkeit wird für die baltische Rezeption des Zweiten Weltkrieges auch in den deutschen Medien – wie zuletzt im SPIEGEL (25.04.05) – Verständnis geäußert.
Die unumgehbare Konsequenz dieser diskursiven Balanceakte ist aber offensichtlich. Die kollektive Identität des „kleinen Volkes“ stellt einen Entlastungsmechanismus zur Verfügung, um jegliche historische Mitverantwortung zu externalisieren – eine Konstellation, die bekannterweise auch andernorts die Vergangenheitsbewältigung wesentlich erschwert hat. Das Oxymoron des „kleineren Übels“, nach welchem die „kleinen Völker“ angeblich gesucht haben sollen, erscheint zwar desto plausibler, je mehr auf die Verbrechen des Stalinismus hingewiesen wird. Doch der gewünschte Effekt ergibt sich auch aus der Verharmlosung des Nationalsozialismus und der Einklammerung des Holocaust als ein tragisches Epiphänomen, das bei der komparativen Gewichtung des „Übels“ nicht mit auf die Waage gelegt werden darf. Die diskursive Arbeit am „kleinen Übel“ muss am Ende mit rein „mathematischer“ Logik dazu führen, dass es immer kleiner wird bis die magische „Null“ an der Schwelle zwischen Gut und Böse erreicht ist, die dann auch überschritten werden kann. Das ist der Grat, an dem im Baltikum die „Mythen der Nationen“ neu erfunden werden.
Bei dieser Mythenbildung werden viele kaum endgültig lösbare moral- und geschichtsphilosophische Probleme und Streitfragen der individuellen und kollektiven Verantwortung angesichts der unendlichen Wechselbeziehungen und Verstrickungen der europäischen Zeitgeschichte berührt, doch aber nicht aus einem „akademischen“ Interesse heraus. Die darin objektiv liegenden Aporien werden zum einen in den Dienst nationalistischer Ressentiments gestellt und zum zweiten systematisch zum Sprengstoff umfunktioniert, um vermeintliche innen- und außenpolitische Gegner anzugreifen. Der Verweis auf den Nichteingriffsvertrag und das geheime Zusatzprotokoll über die Aufteilung Osteuropas zwischen der UdSSR und Nazideutschland von 1939 entfaltet gerade in dieser Konstellation eine fast magische Suggestivkraft und ruft die alte „Präventivschlag-These“ wieder auf den Plan. Demnach sollen die „Russen“ wenigstens indirekt auch an der Judenverfolgung im Baltikum die Mitschuld tragen, da Hitler keine andere Wahl gehabt hätte, als die Sowjetunion anzugreifen, während die Juden als die angeblich aktivsten Kommunisten ihr Schicksal selber besiegelt hätten. So schließt sich der kausale Teufelskreis der europäischen Verbrechensgeschichte, ohne dass die drei „kleinen Völker“ an dieser Geschichtsverkettung partizipiert hätten.
Immerhin wurde in Estland der Holocaust-Gedenktag 2002 eingeführt, wenngleich das zu Verstimmungen mit der Jüdischen Gemeinde des Landes führte, die darin eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung des Holocaust gesehen hat. Spezielle Historikerkommissionen sind 1998 in Tallin, Riga und Vilnius einberufen worden (mehr dazu im Aufsatz von Melanie Arndt und Veronika Gerber). Das im vergangenen Sommer im west-estnischen Ort Lihula feierlich eingeweihte Denkmal für die estnischen Angehörigen der Waffen-SS musste auf eine Weisung der Regierung als „das Ansehen Estlands schädigend“ schnellstens entfernt werden. Während der Demontage kam es zu Übergriffen von Demonstranten, die den Abtransport der Statue in SS-Uniform verhindern wollten. Ähnliche Auseinandersetzungen um Gedenktafeln, Denkmäler und Kriegsgräber haben vielerorts stattgefunden oder werden noch erwartet – darunter auch direkt am 60. Jahrestag des Kriegsendes. Am 9. Mai ist nach Angaben von Echo Moskvy in Estland die Einweihung des Denkmals für die 20. estnische SS-Legion geplant. Die inzwischen als der „Krieg der Denkmäler“ bekannten Zwischenfälle machen überdeutlich, wie schwierig sich die „Geschichtsarbeit“ im Baltikum gestaltet. Mit der Verschiebung des gesamten Bezugsrahmens des kulturellen Gedächtnisses und der Wertemaßstäbe sind hier die bis dahin „unverbrauchten“ individuellen Erinnerungen entarchivierbar und abrufbar geworden. Diese sollten selbstverständlich an symbolischen Orten lokalisiert und vergegenständlicht werden. Eine Kollision mit konträren Geschichtsbildern und deren materiellen Relikten war damit vorprogrammiert.
Wo liegt die Grenze der EU? Der neue Streit
Selbst in den so verschiedenen Lebensläufen ihrer jetzigen Präsidenten kommt die beschriebene historische Ambivalenz der drei neuen EU-Mitglieder zum Ausdruck. Während die Esten als Präsidenten einen ehemaligen Vorsitzenden des ZK der Kommunistischen Partei Estlands haben, wird Litauen mit Valdas Adamkus von einem greisen Kriegsveteranen regiert, dem Kollaboration mit den Nazis nachgesagt wird. Der „Widerstandkämpfer“ Adamkus floh 1945 vor der Roten Armee nach Deutschland und emigrierte 1949 aus München in die USA, wo er dann zunächst eine große administrative Karriere im Bereich des Umweltschutzes machte. Die 1937 in Riga geborene lettische Präsidentin lebte als Kind in einem Lübecker Flüchtlingslager und ist dagegen im kanadischen Exil zu Blühzeiten der Cold War Culture aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und hat an der Universität Montreal eine Professur innegehabt.
So verschieden diese persönlichen Schicksale auch sind, so ähnlich ist die Haltung der baltischen Staatsoberhäupter gegenüber der Russischen Föderation. Seit Jahren verlangen sie von den Russen, den Molotow-Ribbentrop-Pakt für völkerrechtswidrig zu erklären und somit ihre Eingliederung in die Sowjetunion als eine Okkupation zu verurteilen. Im Prinzip geht es den baltischen EU-Mitgliedern darum, die historische Kontinuität zu den vor dem Krieg zwei Jahrzehnte lang bestanden habenden Staaten zu sichern, was natürlich weitreichende rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. (Eine etwas vorsichtigere Position bezog anfangs Vilnius, da Litauen gerade durch den Nichtangriffspakt von 1939 territorial begünstigt wurde und u.a. seine jetzige Hauptstadt erhalten hat.)
Aus der russischen Sicht hat man es im Baltikum dagegen mit Nachfolgerstaaten der drei sowjetischen Republiken zu tun, so dass diese Länder in historischer Verantwortung gemeinsam mit Russland stehen müssten. Die Ereignisse von 1940 werden als ihr freiwilliger Beitritt zur UdSSR gedeutet, während am 9. Mai ohne Wenn und Aber die Befreiung des Baltikums von den Nazis gewürdigt werden muss. Für den damit umrissenen Dissens der Vergangenheitsdeutung muss aber vor allem im Fall Estlands und Lettlands schnellstens eine Lösung gefunden werden, da damit die von der EU geforderte Unterzeichnung noch fehlender bilateraler Grenzverträge mit der Russischen Föderation zusammenhängt. Dabei ist die Frage des genauen Verlaufs der nordöstlichen Grenzen der EU alles andere als unumstritten.
Eben die besagten Grenzverträge sind der eigentliche Hintergrund bzw. Anlass der aktuellen Spannungen. Bislang wurde ihre Unterzeichnung von Putin abgelehnt. Als einen Grund nannte er Menschenrechtsverletzungen gegenüber der russischen Bevölkerung in der baltischen Region. Inwiefern ein solcher Vorwurf nur ein vorgeschobenes Argument war und ob er eine Berechtigung im streng rechtlichen Sinne hat, sei hier dahin gestellt. Dass aber die Minderheitenpolitik dieser Länder für EU-Verhältnisse präzedenzlos hart geregelt ist, steht allemal fest. Die „Russen“ stellen in Lettland ca. 36% und in Estland immerhin 28% der Gesamtbevölkerung dar, viele sind in diesen Ländern geboren. Hunderttausende besitzen trotz dem keine estnischen oder lettischen Pässe, weil die restriktiven Einbürgerungsprozeduren dem im Wege stehen. In den national-konservativen Kreisen dieser Länder wird über dieses Dauerproblem als eine unangenehme Folge der systematischen Russifizierung aus Sowjetzeiten lamentiert. Die „Okkupanten“ und „Okkupantenkinder“ werden aufgefordert, Estland und Lettland zu verlassen – eine Einstellung, die im Baltikum keineswegs als rechtsextrem oder marginal angesehen wird.
Nun schien Anfang 2005 eine Kompromisslösung dennoch möglich. Jedenfalls wurde zwischen Putin und seinen baltischen Amtskollegen ein gemeinsames Treffen „Russland – Baltikum“ gleich nach den Feierlichkeiten, am 10. Mai verabredet. Dieses sollte mit der Unterzeichnung der bilateralen Vereinbarungen enden. Die Vertragsunterzeichnung wollte aber Moskau an spezielle politische Deklarationen knüpfen, um damit eine bestimmte Interpretation der für Unruhe sorgenden Beziehungsgeschichten „Russland-Estland“ und „Russland-Lettland“ festzuschreiben.
In den vom russischen Außenministerium verfassten Erklärungsentwürfen kam allein die Moskauer Geschichtsversion zum Ausdruck. Das Lettland betreffende Dokument (veröffentlicht von der Nachrichtenagentur REGNUM) verkündete etwa: „Beide Seiten stellen fest, dass die Völker Russlands und Lettlands wie zwei alte Nachbarn zweiundeinhalb Jahrhunderte lang zusammen gelebt haben, zusammen teilten sie ihre Freuden und Not, zusammen schufen sie kulturelle und materielle Güter. Die Schicksale vieler Tausender Russen und Letten haben sich während des Lebens in einem gemeinsamen Staat miteinander verwoben. Friedlich, ohne Streit und Gewalt haben sich die Völker nun voneinander geschieden, nachdem sie sich entschlossen haben, souveräne Staaten zu bauen.“
Am 9. Dezember 2004 wurden die Erklärungsentwürfe an die Regierungen Estlands und Lettlands mit der Bitte um Stellungnahmen übergeben. Der Inhalt beider Texte ist aber in die baltische Presse durchgesickert und sorgte sofort für große Aufregung. In Riga kam es zu Protesten auf den Straßen. Die Demonstranten haben der eigenen Regierung unterstellt, einen Grenzvertrag mit Russland geheim vorzubereiten, durch welchen die territorialen Verluste Lettlands (Pytalovo bzw. ehem. Abrene im Pskover Bezirk der RF) anerkannt und der Rechtsnachfolgeanspruch des Landes gegenüber der am 18. November 1918 ausgerufenen Lettischen Republik aufgegeben werden sollte. Dass dieser Vorwurf zumindest gegenüber dem Lettischen Außenministerium unberechtigt war, zeigte sich allerdings am 26. April, als nach Angaben der Nachrichtenagentur REGNUM dort beschlossen wurde, die Unterzeichnung des Grenzvertrages ebenfalls mit einer Erklärung zu verbinden. Im Dokument, von dem sich die Präsidentin Lettlands angeblich sofort distanziert haben soll, wird mit dem Verweis auf den Lettisch-Russischen Grenzvertrag vom 11. August 1920 die Option offen gehalten, auf die noch ungelösten lettischen Territorialansprüche gegenüber Russland zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen. Prompt kam die Reaktion aus dem Moskauer Außenministerium: Die Vertragsunterzeichnung sei unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Am 26. April beschäftigten die schwierigen Fragen der Geschichtsdeutung auch den Litauischen Sejm, der in einer speziellen Note von Russland verlangte, die Okkupation Litauens als „historische Wahrheit“ anzuerkennen. „Der Litauische Sejm riskiert sein eigenes Land um die Hauptstadt und beträchtliche Territoriumsteile bringen!“, reagierten die russischen Medien. Die Duma-Fraktion der konservativen Partei „Rodina“ (Heimat) unterbreitete sofort einen Deklarationsentwurf, in dem eine Revision der litauischen Grenzen mit dem Argument gefordert wurde, dass Litauen den Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 als illegal erklärte, während das aktuelle Territorium der Republik gerade mit diesem Abkommen zu ihren Gunsten auf Kosten Polens, Weißrusslands und der Russischen Föderation geregelt worden war.
Der polemische Schlagabtausch erreichte schließlich seinen vorläufigen Höhepunkt am 29. April auf der 5. Vollversammlung Baltischer Staaten in Pjarnu, an der die drei Länder „anlässlich des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges“ eine gemeinsame Deklaration an die Duma und den russischen Föderationsrat verabschiedeten, in der von Russland nicht nur die Anerkennung der Okkupation, sondern auch eine Entschädigung für die kommunistischen Verbrechen gefordert wurde. Nicht ohne gewisse Logik konterte am 4. Mai das russische Außenministerium: Die Zweifel an der Legitimität der sowjetischen Machtorgane in den baltischen Republiken würden die Legitimität der Souveränitätserklärungen durch diese Organe im Jahr 1990 in Frage stellen.
Pro und Kontra in der russischen Öffentlichkeit
In den russischen Medien werden die Entwicklungen im Baltikum meistens unter dem Signum „Neofaschismus“ und „Revanchismus“ präsentiert, und zwar schon seit Jahren. Ab dem Frühjahr 2005 hat sich das Thema aber zunehmend mit dem bevorstehenden 60. Jahrestag des Sieges über das NS-Deutschland verschmolzen. Die Erinnerung an den Krieg schlug vielerorts in martialische Rhetorik um.
Selbstverständlich muss die Einladung an die lettische Präsidentin wiederrufen werden, fordert der Moderator einer der populärsten russischen TV-Sendungen „Odnako“ Michail Leontjew in der Komsomol’skaja Pravda. (Nach der Befragung von „Runet“, eines der größten russischen Internetportals, befürworteten 65,8 % der Nutzer einen solchen Vorschlag.) Viel wichtiger sei aber langfristig die Stärkung der militärischen Macht Russlands, damit die Balten „die Hose voll bekommen“. Bis es soweit ist, wird die Schlacht mit anderen Mitteln ausgetragen. Die Föderale Nachrichtenagentur REGNUM hat anlässlich des 60. Jahrestages einen Karikaturenwettbewerb „Tod den faschistischen Okkupanten“ ausgeschrieben und als einen Preiskadidaten eine lettische Flagge mit Hackenkreuz präsentiert.
Waren die anachronistischen Versuche des Pobeda-Komitees, die Jugend zu „patriotisieren“, zuerst kläglich gescheitert, so kann es jetzt die Imageverluste doppelt kompensieren. Am 24. April wurde z.B. zu einer großen studentischen „Flash-Mob-Aktion“ gegen die „Rehabilitation des Faschismus“ und Geschichtsfälschung durch „käufliche Wissenschaftler“ vor der Botschaft der Estnischen Republik in Moskau aufgerufen. Das ersehnte patriotische Erwachen der Jugend reicht bis in die ostsibirischen Weiten. In Ulan Ude (Burjatisches Autonomes Gebiet) organisierte das regionale Komitee der der Regierungspartei nahestehenden Jugendverbände „Einheit“ am 29. April eine studentische Protestdemonstration. In einem Sex-Shop wurde speziell für die Veranstaltung eine aufblasbare Puppe gekauft, die die lettische Präsidentin darstellen sollte.
Für die Kriegsveteranenverbände war das Streitthema bereits im vergangenen Herbst zum 60. Jubiläum der sowjetischen Befreiung des Baltikums in den Mittelpunkt gerückt. Das spezifische Anliegen dieser Gruppen ist der Status der in der Region lebenden russischstämmigen Kriegsveteranen, für welche die Okkupationsthese kein geschichtspolitisches Abstraktum ist. Am 13. Oktober 2004 (Tag der Befreiung von Riga) wurde von der Zeitung Izvestija eine Pressekonferenz „60. Jahre der Befreiung Lettlands vom Faschismus. Leben und Schicksal der Befreiungskämpfer im demokratischen Lettland“ veranstaltet. Aleksandr Kasakov aus dem Vorstand des Russischen Gemeindenverbandes Lettlands entrüstete sich in seiner Ansprache über die von dem Regime der „westlichen ExilLetten“ installierten Geschichtsdeutung, wonach die Republik von den Sowjets okkupiert gewesen sei, und protestierte gegen die Gerichtsprozesse, die in Riga den ehemaligen sowjetischen Befreiern zur Zeit gemacht würden.
Trotzt allgemeiner Aufregung zeichnet die Debatte um das Baltikum dennoch eine erstaunliche Polyphonie der Sichtweisen aus. Noch aufschlussreicher als martialische Aufrufe und Proteste sind für die Situation vielleicht gerade diejenigen Stimmen, die darum bemüht sind, die baltische Haltung nachzuvollziehen. Darunter finden sich Interpretationen von erfrischen der Kuriosität. Eine Art politische Physiognomie soll helfen, die westlichen Nachbarn besser zu verstehen. Die Esten sehen ja wie die echten Arier aus, erklärt in ihrem Aufsatz „Warum die Balten SS-Kreuze tragen“ (Komsomol’skaja Pravda) die als Estland-Expertin geltende Galina Sapožnikova die spezifische Affinität der estnischen Bevölkerung zu den Deutschen. Dies hätten die Esten den deutschen Baronen zu verdanken, die von ihrem „Privileg der ersten Nacht“ extensiv gebrauch gemacht haben sollten. Sehr überzeugend hätten dann die estnischen Schauspieler in den sowjetischen Kriegsfilmen die Rollen der Nazis gespielt. Kein Wunder, dass sich diese Sympathie festgesetzt habe.
In einer der größten russischen Zeitungen Izvestija erschien am 21. März ein leidenschaftliches Plädoyer für die Letten mit dem Verweis auf die Verbrechen des Stalinismus. Erst in den 1980er Jahren habe man in Lettland die ganze Wahrheit darüber erfahren. Dies hätte wie ein Schock gewirkt und dazu geführt, dass beim Referendum von 1991 74% der Stimmberechtigten für die Souveränität der Republik votiert haben. Durch die Nichtverurteilung des Molotow-Ribbentrop-Paktes habe Russland aber selbst der bedauerlichen Heroisierung der SS-Legionäre Vorschub geleistet. Im Übrigen sollte man diese zerbrochenen alten Menschen nicht permanent dämonisieren. Denn sie seien auch selbst Opfer der erbarmungslosen Geschichte gewesen. Die deutschen Kriegsveteranen gedenken ihrer gefallenen Kameraden. Warum sollten die lettischen Soldaten nicht auch Recht dazu haben?
So etwas vergisst man nie: eine einmalige Einstimmigkeit quer durch die Parteien
Im Spektrum der politischen Parteien im russischen Parlament finden sich keine bedeutenden Sympathisanten der baltischen Ansichten. In ihrer Argumentation und Programmatik sind die Unterschiede trotz dieser Einstimmigkeit aber gewaltig. Die Duma-Fraktion der rechtspopulistischen Partei Vladimir Žirinovskijs, LDPR (7,8% der Duma-Plätze), hat naturgemäß gefordert, kurzen Prozess mit Lettland zu machen. Nach der Auffassung Aleksej Ostrovskijs, der für die auswärtigen Angelegenheiten der Fraktion zuständig ist, soll auf den lettischen Affront mit dem sofortigen Abbruch aller diplomatischen Beziehungen reagiert werden.
Als ihre propagandistische Domäne betrachtet die Feiern zum „Tag des Sieges“ die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Am 17. April startete im Moskauer „Izmajlovo“ die Internationale Konferenz „Beiträge zum großen Sieg. Die Rolle der Kommunisten“. In der Ansprache des Parteichefs Gennadij Zjuganov an die Konferenzteilnehmer hieß es: „Auf den Straßen europäischer Hauptstädte marschiert wieder die Waffen-SS. Die sowjetischen Befreier werden zu Okkupanten erklärt. Kinder und Enkel der Sieger dürfen nicht in ihrer Muttersprache in der Schule lernen. Die USA erklären ganze Kontinente für die Sphären ihrer Interessen. Bewaffnete Konflikte sind in allen instabilen Regionen entbrannt. All das spricht dafür, dass uns ein neuer großer Krieg erwartet.“ Statt die Faschisten zu verurteilen, habe man im US-Kongress die Russische Föderation aufgefordert, sich für die angebliche „Okkupation“ Baltikums, „dieses unveräußerlichen Teils des historischen Russlands“, zu entschuldigen, was nichts anderes als die Vorbereitung einer neuen Intervention gegen unser Land bedeute, sagte Zjuganov weiter. Während der Vorbereitungen zum 60. Tag des Sieges habe sich die Verlogenheit der jetzigen russischen Machthaber nochmals deutlich gezeigt. Die wirklichen Patrioten würden von der Macht als Faschisten denunziert. Die kapitalistische Klasse Russlands – die „Oligarchen“ wie Abramovič, Friedman oder Aven sowie die „prowestliche“ Regierung Putins – habe sich in diesen Verschwörungsplänen gegen das eigene Volk mit dem Kapital des Baltikum und des Westens solidarisiert. In dieser schweren Stunde erkläre sich nun die KPRF dazu bereit, die historische Verantwortung für die Wiedergeburt des Landes und die Wiederherstellung der erneuerten Sowjetunion zu übernehmen.
Der beruhigende Gedanke ist, dass die KPRF mit ihren 10,4% der Duma-Plätze und ihrem kontinuierlich schwindendem Einfluss, kaum Hoffnungen auf diesen historischen Auftrag haben kann. Genauso wie die in den Medien oft monierten (zuletzt am 30. April in der Neuen Zürcher Zeitung) und meistens von der KPRF ausgehenden Versuche der Restalinisierung Russlands, zumindest zur Zeit keine ernsthafte Chance haben.
Während die Kommunisten auf ihrer alten Strategie einer chauvinistisch durchdrungenen Emotionalisierung und Mobilmachung der sich nach den „guten alten Zeiten“ sehnenden Rentnergeneration festhalten und zur Restauration der UdSSR aufrufen, betrachtet die konservative Partei „Rodina“ (Heimat, 8,9% der Duma-Plätze) die Baltikumdebatte vom russisch-nationalen Standpunkt her. Kommunikationstechnisch setzt sie nicht auf die donnernden Volkstribunen mit zornig erhobenen Fäusten und Trompetenmusik, sondern auf die Inszenierung von Experten. Profitieren kann sie dabei von den professionellen Fähigkeiten und der Autorität Natalja Naročnickajas. Die Tochter des berühmten Akademiemitgliedes Aleksej Naročnickij ist wie ihr Vater Historikerin, sie arbeitet am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der RF und gehört zur Duma-Fraktion der „Rodina“.
Die „geopolitische“ und „juristische“ Argumentation der Politikerin auf der offiziellen Internetseite ihrer Partei ist zwar nicht originell, sie versteht es allerdings, die Suggestivwirkung historischer Kausalitätskonstruktionen und eine Rhetorik der „Wissenschaftlichkeit“ zu nutzen, wie sie in Russland zur Zeit populär ist. Ihre Position ist insofern von Interesse, als dass Naročnickaja den Spieß polemisch umdreht und dabei gerade auf Grund ihrer eigenen national-konservativen Einstellung dieselbe Sprache spricht wie ihre baltischen Opponenten, die sich ebenfalls als „anthropologische Apriori“ in die historische Szene setzen wollen. Ihren Ausgangspunkt legt sie weit vor die sich diskursiv verfestigte „Stunde Null“ des „Baltikumproblems“ um 1920, und zwar im Russischen Imperium. Nur allzu gerne schließt sie sich der baltischen Ablehnung der bolschewistischen Macht als illegal an, allerdings mit der Konsequenz, dass dann auch die als Ergebnis der Intervention der Entente und des Friedens von Brest-Litovsk entstandenen „quasistaatlichen Strukturen“ im Baltikum keine Existenzberechtigung haben dürften. Mehr noch, die Balten selbst hätten die Schuld am Sieg der Kommunisten mitzutragen. Hätten sie doch die Roten gegen die Weißen Armeen gerade deshalb gestützt, weil sie wussten, dass die Weißgardisten den „bolschewistischen Ausverkauf“ des russischen Territoriums nie zulassen würden.
Man könnte an dieser Stelle die Geschichtsexpertin fragen, ob es nun wirklich im Interesse der Russischen Föderation sei, auch noch die Rechtsnachfolge des untergegangenen Zarenreiches anzutreten mit allen damit verbundenen unangenehmen Konsequenzen. Dass sie dafür sofort tausend gute Gegenargumente finden würde, steht aber auch fest. Die Ereignisse des Jahres 1940 interpretiert Naročnickaja entsprechend als völkerrechtlich abgesicherte Wiederherstellung des russischen Territorialanspruchs: Man behauptet, dass die Obersten Sowjets der baltischen Republiken, die 1940 den Beitritt zur UdSSR erklärten, unter den Bedingungen der sowjetischen Okkupation „undemokratisch“ gewählt worden seien. „Sollte man die von den baltischen Politikern (und ihren Beschützern) für die Ereignisse des Jahres 1940 eingeführten Standards anwenden“, argumentiert Naročnickaja weiter, „dann würde man mit großer Sicherheit zu dem Schluss kommen, dass 1920 bei der Unterzeichnung der Verträge zwischen Sowjetrussland und Litauen, Lettland und Estland keine legitime Trennung des Baltikums vom Russischen Imperium stattgefunden hat. (...) Ulmanis, ein faschistoider Diktator kam an die Macht mit Hilfe deutscher Bajonette unter den Bedingungen der deutschen Okkupation. Dasselbe gilt für Litauen und Estland.“
Auf der hier kurz umrissenen Konzeption Naročnickajas gründet sich die offizielle Haltung ihrer Partei gegenüber den baltischen Nachbarn. Am 19. Januar 2005 hat sich die Rodina-Fraktion der Duma mit einem Brief „anlässlich des 60. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg“ an Putin gewandt, in dem die Regierungen in Tallin, Riga und Vilnius beschimpft werden. Der Präsident wurde aufgefordert, die Einladungen an die baltischen Staatschefs zurückzurufen und keine bilateralen Verträge mit ihnen abzuschließen.
Vor dem geschilderten Hintergrund nimmt sich nun die Position Vladimir Putins und der Partei „Edinaja Rossija“ (Das geeinte Russland), die mit Ihren 67,6% der Sitze im Parlament zu recht als die „Partei der Macht“ angesehen wird, eher milde aus. Zumindest rhetorisch-taktisch rückt der russische Präsident den „Pragmatismus“ in den Mittelpunkt der Debatte. Seine Beziehungen zum Baltikum würde Russland unabhängig davon ausbauen, ob die Präsidenten dieser Länder nach Moskau kommen oder nicht, sagte Putin während einer Pressekonferenz in Bratislava am 25. Februar und äußerte die Hoffnung, dass am Ende doch „der gesunde Menschenverstand und die Interessen der eigenen Völker“ siegen würden (siehe den Bericht der Izvestija). „Die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges können verschieden bewertet werden“, sagte der Präsident weiter. „Wir respektieren die Meinung derjenigen Menschen im Baltikum, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges den tragischen Verlust der Souveränität ihrer Länder verbinden“. Aber, bemerkte Putin, „wir respektieren auch die Meinung derjenigen, die sagen, dass die lettischen Schützengardisten die Bolschewiken gerettet haben, als versucht wurde, sie zu entmachten. Die Geschichte dieses Teils Russlands und Europas ist kompliziert und erfordert eine ausgewogene Umgangsweise.“
Wohl am schwersten haben es in der Baltikum-Debatte die „prowestlich“ orientierten oppositionellen Parteien wie die Partei „Jabloko“ von Grigorij Javlinskij. Der 60. Jahrestag des Sieges und der damit verknüpfte Konflikt ist eindeutig nicht „ihr Thema“. Die Wahrung der Distanz zu den großen Parteien erscheint für die „Westler“ gerade in diesem Kontext äußerst schwierig, wenn überhaupt möglich. Angesichts der großen Bedeutung der Auseinandersetzung musste man sich dennoch positionieren. Am 10. Februar, als das weitere Szenario in der „Einladungs-Affäre“ schon relativ gut absehbar war, versuchte Javlinskij den Fragen des Radiosenders Echo Moskvy noch auszuweichen. Er habe nämlich gehört, dass die baltischen Staatschefs am 9. Mai doch nach Moskau kommen wollten. Damit wäre das Problem vom Tisch. Einen Monat später musste Javlinskijs Stellvertreter Aleksej Arbatov doch noch Stellung beziehen (Echo Moskvy am 8. März).
Auf die Frage des Journalisten, wer nun für die Zuspitzung des jetzigen Konflikts verantwortlich sei, Moskau oder die Balten, antwortete der als äußerst liberal und „prowestlich“ geltende habilitierte Historiker und Chef des Zentrums für Internationale Sicherheit am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen: „Was war zuerst da? Huhn oder das Ei? Russland hat sich viele nicht ganz gerechtfertigte Aktionen gegen die baltischen Saaten erlaubt, aber diese taten so etwas auch. Aber wenn man auf die Konfliktquellen zurückkommt, so sind aus meiner Sicht doch die Balten an den Komplikationen in unseren Beziehungen der letzten Periode schuld. Damit meine ich ungefähr das letzte Jahrzehnt. Weil es zu schnell in Vergessenheit geraten ist, was hätte eintreten können, wenn nicht das demokratische Russland (ich meine jetzt nicht die Partei, sondern Russland) da gewesen wäre, das 1991 einen demokratischen Entwicklungsweg gewählt hat – dass ohne dieses demokratische Russland die Staaten des Baltikums ihre Souveränität nicht gekriegt hätten. Die UdSSR hätte diese Souveränität einfach zerquetscht oder sie hätten sie erkämpfen müssen mit großen Verlusten, mit Blutvergießen und Opfern. Im Übrigen verfolgte der Putsch von 1991 unter anderem das Ziel, die baltischen Länder in der UdSSR beizubehalten, wie die UdSSR selbst zu retten. Dieser Putsch scheiterte und an die Macht kamen andere Politiker. Sie erinnern sich doch, welche demokratische Stimmungswelle herrschte damals, die Öffnung gegenüber dem Westen. Nach zwar in ihrem Maßstab relativ unbedeutenden, aber doch tragischen Ereignissen in Vilnius und Riga gingen in Russland Tausende Demokraten auf die Strassen. Als man über die Unabhängigkeit abstimmte, stimmte die große Mehrheit der im Baltikum lebenden Russen dafür. Aber sie konnten sich damals nicht vorstellen, dass schon bald nach dem Erhalt der Unabhängigkeit sehr nationalistische politische Kräfte an die Macht kommen würden, vor allem in Lettland und Estland, die die Russen zu Sündenböcken machen würden für die Verbrechen des stalinistischen Regimes, welches übrigens nicht das russische Regime war. Das war ein sowjetisches Regime.“
Nicht weniger eindeutig viel die Antwort Arbatovs auf die Frage aus, ob nun das Nichtkommen der zwei baltischen Staatschefs nach Moskau als eine Beleidigung anzusehen sei. Dies würde man den Balten zu Recht so einfach nicht verzeihen können. „So etwas vergisst man nie. Dass Estland und Litauen diese Entscheidung getroffen haben, ist aus meiner Sicht politisch dumm. Unter dem historischen Gesichtspunkt ist es eine absolute Inkonsequenz und eine völlig unberechtigte Logik. Ich sage dazu: das ist dasselbe als wenn die Tschechen plötzlich aufhören würden zu irgendwelchen Feierlichkeiten nach Frankreich oder England zu fahren (von Deutschland gar nicht zu reden), weil sie im Jahr 1938 genauso zu den Geiseln der Vereinbarungen zwischen den großen europäischen Mächten gemacht worden sind.“ Arbatov räumt allerdings ein, dass auch die russische Seite in bestimmten Punkten einlenken müsse. Es wäre durchaus möglich, den Einmarsch der sowjetischen Truppen im Baltikum 1940 als Okkupation zu verurteilen, aber unter der Bedingung, dass man die Russische Föderation in diesem Kontext als einen neuen Staat betrachten würde, der für das stalinistische Regime keine alleinige Verantwortung trage. Er, Arbatov, lobe den russischen Präsidenten zwar nur ungern, Putin habe aber die Bereitschaft zu einem entsprechenden Dialog bereits signalisiert, allerdings bisher ohne Erfolg.
Geschichte, ein Terrain der Unsicherheit
Die widersprüchlichen Prozesse der nationalen Selbstevaluierung auf der Basis einer prinzipiellen Reformulierung der am 1. August 1975 durch die Helsinki-Schlussakte der KSZE anerkannten Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges in den baltischen Ländern sind nicht nur in Russland mit zunehmender Besorgnis betrachtet worden, sondern auch in der EU, wie zuletzt im vergangenen April René van der Linden, der neue Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, während seiner Visite nach Sankt Petersburg betonte. Deutliche Kritik der neuen EU-Mitglieder hat aber bislang gefehlt.
In den deutschen Medien waren die gezeigten Konfliktlinien bisher kaum präsent. Die wenigen Kommentare verraten eine gewisse Ratlosigkeit angesichts des baltischen Sonderweges. Der SPIEGEL meldete sich am 24. April mit der Überschrift „Moskaus selektive Geschichtsschreibung empört Russlands Nachbarn“ zu Wort. Akribisch-distanziert im Gestus einer objektiven Berichtserstattung beschreibt der Aufsatz die Aufmärsche der ehemaligen SS-Legionäre in Lettland, präsentiert dann einen 80-Jährigen jüdischen Holocaustüberlebenden, der an der 1998 in Riga einberufenen Historikerkommission teilnehmen darf (das Denken von den „anthropologischen Apriori“ her bestimmt auch die personelle Organisation der wissenschaftlichen Geschichtsarbeit, die auf „paritätischen“ Prinzipen gründet), um dann unvermittelt zu der Konklusion zu kommen: „Es gab Massenmörder und stolze Vaterlandsverteidiger unter den Letten, die auf deutscher Seite kämpften, Freiwillige und Zwangsrekrutierte. Und es gab zweifelsfrei viele, die nach dem ersten Jahr sowjetischer Besatzung und den Deportationen nach Sibirien den Einmarsch der Hitleristen für das kleinere Übel hielten.“ Beschrieben sei das alles im neuen Buch „Lettische Geschichte im 20. Jahrhundert“, welches die Präsidentin Lettlands ausgerechnet bei einem Auschwitz-Besuch Putin in die Hand gedrückt haben soll. Die Machthaber im Kreml wollten aber die darin dargelegten historischen Fakten unverständlicherweise nicht akzeptieren. So das Fazit Walter Mayrs.
„Die Maßstäbe für Kollaboration und Widerstand, an denen das Geschehen in Frankreich oder den Niederlanden gemessen werden kann, passen hier nicht“, beschreibt Reinhard Veser in der FAZ (01.03.05) diese diskursive Sackgasse, in die auch er sich offenbar verirrt hat. „Es ist an der Zeit, diese Geschichte endlich wahrzunehmen, so schwer auch zu ertragen ist, dass darin das Leiden der Opfer als einzige Gewißheit bleibt, weil Gut und Böse sich unentwirrbar verschränkt haben, wo die Völker zwischen zwei totalitäre Diktaturen geraten sind.“ Wenige Wochen später mit der Zuspitzung des Konflikts findet derselbe Autor schon etwas schärfere Worte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (10.04.05): „Denn es ist unbestreitbar, dass sich fast alle bedeutenden politischen Kräfte - auch Liberale und Sozialdemokraten - in eine gefährliche Nähe zu den Deutschen begeben hatten. Die Unsicherheit, die sich daraus ergab, dauert bis heute an.“
Der 60. Jahrestag des Kriegsendes hat nun an der baltischen Küste eine tsunamiartige „mnemische Welle“ verursacht, die die Versatzstücke des historischen Mosaikbildes noch einmal durcheinander gebracht und diese „Unsicherheit“ vielfach gesteigert hat. Die sich erst formierenden baltischen Demokratien werden durch das aktuelle Aufeinanderprallen von disparaten Geschichtsbildern mit schwierigen Fragen konfrontiert. Wie schafft man sich angesichts ihrer historischen Disposition eine positive nationale Biographie und zukunftsfähige Erinnerungskultur, die auch noch EU-kompatibel bleiben soll? Wie soll dies in den von altsowjetischen Denk- und Verhaltensmustern doch noch durch und durch imprägnierten Gesellschaften gelingen, deren kritische Reflexion und Erneuerung gerade dadurch erschwert ist, dass sie in ihrem Bemühen eine kulturelle Kontinuität zum „Abendland“ und somit die EU-Betrittsreife nachzuweisen, das kommunistische Regime der Jahre 1945 bis 1991 genauso wie die NS-Herrschaft von 1941 bis 1944 als etwas Exogenes abtun und die eigene Beteiligung an den Megaprojekten Russisches Imperium, Drittes Reich und Sowjetunion leugnen wollen? Wie erreicht man schließlich auf der Basis einer tendenziell mit primordialen Codes der kollektiven Identität argumentierenden Geschichtsdeutung den sozialen Frieden in einem Staat wie z.B. Lettland, wo vor 60 Jahren eine nationale Minderheit völlig ausgerottet worden ist, und aktuell eine andere Minderheit ersatzweise als der Träger der historischen Schuld am Kommunismus systematisch inszeniert wird?
Gewiss bleibt die entschiedene Abrechnung mit dem kommunistischen Regime auch in der Russischen Föderation eine kulturelle Herausforderung, die das Land noch zu bewältigen hat. Die produktive Geschichtsarbeit in Russland wird aber kaum dadurch gefördert, dass die „Schuldfrage“ zwischen den Regionen des untergegangenen Zarenreichs und den Subjekten der ehemaligen Sowjetunion hin und her geschoben wird. Die „Überzeichnung“ des Jahrestages des Sieges über Hitlerdeutschland durch die bilateralen Streitfragen der ehemaligen Sowjetrepubliken schafft völlig abwegige Kodierungen und macht eine zukunftsfähige Kompromissfindung noch aussichtsloser, da diese Überzeichnung – will man es oder nicht – zur kaum abschließbaren Diskussion über die Vergleichbarkeit von Diktaturen führen muss, die dann obligatorisch in der Sackgasse des immer kleiner werdenden „Übels“ endet. Nicht nur im Baltikum, sondern immer mehr auch in der russischen Öffentlichkeit erzeugt diese Debatte relativistische Nebeneffekte, die permanent neue mittelbare und direkte Stalin-Hitler-Vergleiche diskursiv produzieren.
Die erste unhintergehbare Bedingung für ein Herauskommen aus dem baltischen Dilemma wäre gewiss die, dass der kritische Blick auch nach Innen gerichtet wird, etwa in das angeblich „heroische Zeitalter“ der Republiken zwischen 1920 und 1940, in welchem sich diejenigen politischen Konstellationen und mentalen Prädispositionen formiert hatten, die die ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Krieges erst möglich machten. Auch die wechselseitigen Beziehungen, Verstrickungen und Allianzen zwischen den Herrschenden und Beherrschten dürfen nicht in einer „Unzeit“ der „Okkupation“ ausgeblendet werden.
Wie selektiv die Russen die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auch immer sehen mögen, was ihre Einigkeit im „Krieg der Geschichtsbilder“ vielleicht stärker noch als die einleitend genannte sowjetische Tradition des Erinnerns begründet, ist die Tatsache, dass dieses Land im Gegensatz zu den drei Baltischen Republiken außerhalb der Europäischen Union liegt, die bisher in Fragen der Diskussionskultur und demokratischen Vergangenheitsbewältigung als der Maßstab gelten durfte. Die zitierten Stellungnahmen Aleksej Arbatovs aus der demokratischen Jabloko-Partei machen deutlich, dass gerade das Bewusstsein über diese prinzipielle Positionsdifferenz auf der kognitiven Karte der Demokratie eine Erklärung dafür sein könnte, warum der jetzige baltische Affront gegen den 60. Jahrestag des Sieges die Russen quer durch alle Parteien auf die Palme bringt.
Zitierempfehlung:
Igor J. Polianski, Die kleineren Übel im großen Krieg. Der 60. Jahrestag des Sieges: Das Fest des historischen Friedens und der Krieg der Geschichtsbilder zwischen Baltikum und Russland, in: Zeitgeschichte-online, Thema: Die Russische Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“, Mai 2005, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/russerinn...
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