von Ilko-Sascha Kowalczuk

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1. Juni 2014

In den osteuropäischen kommunistischen Staaten gehörte die Wiederaneignung der Geschichte zu den Ausgangspunkten der systemstürzenden Reformen und Revolutionen 1989. In der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland war es umgekehrt. Erst in dem Maße, in dem das System verschwand und sich deutlich herauskristallisierte, dass der Systemumbruch in Deutschland durch die Wiedervereinigung einen von den ost- und ostmitteleuropäischen Entwicklungen gänzlich verschiedenen Weg einschlagen würde, erwies sich die Berufung auf die Vergangenheit als politisch relevant.
Der „17. Juni“ nahm dabei eine Sonderrolle ein. Wer 1989/90 die politische und historische Rehabilitierung dieses Datums erwartet hatte, sah sich getäuscht. Dem „17. Juni“  wurde nicht nur keine Bedeutung zugewiesen, er verlor auch noch die, die er bis dahin formal in der Bundesrepublik besessen hatte. „Der Tag der deutschen Einheit“ wurde 1990 letztmalig am 17. Juni als gesetzlicher Feiertag begangen und im Folgenden auf den 3. Oktober, den Tag des Vollzugs der deutschen Wiedervereinigung, verlegt. Nicht am Tag der ersten großen Massendemonstration in Leipzig (9. Oktober), nicht am ohnehin geschichtsträchtigen Tag der ersten freien Wahlen in der DDR (18. März) und nicht am Tag einer der größten deutschen Demokratiebewegungen, am 17. Juni, gedenkt Deutschland seiner in Freiheit wiedererlangten Einheit, sondern an jenem Tage, an dem in guter alter Tradition „große Männer Geschichte machten“.

Das wirft einen Schatten auf ein weit verbreitetes Geschichtsverständnis. Der 3. Oktober steht für staatliches, jeder andere der genannten Tage für gesellschaftliches Handeln, das den „3. Oktober“ überhaupt erst möglich machte. Die Geschichte der Macht wird häufig genug mit Geschichte allgemein verwechselt. In den letzten Jahren ist eine Reihe aus politikhistorischer Sicht zu Recht vielgelobter Bücher erschienen, in denen angesehene Historiker und Politologen den historischen Standort der Deutschen zu verorten suchen. „Vom langen Weg nach Westen“ ist da ebenso programmatisch zu lesen wie die „Geschichte des geteilten Deutschland“ unter der Serienüberschrift „Die Deutschen und ihre Nation“ rubriziert wird. Und was geschieht in diesen „nationalen Meistererzählungen“ ausgerechnet mit der demokratischen Volksbewegung für Freiheit und Einheit im Jahr 1953? Sie wird nicht nur marginalisiert und verknappt, sondern auch noch weitgehend auf die Machtfrage im herrschenden Apparat reduziert. In der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ wird zwar irgendwie versucht, den Vorgang gesellschaftshistorisch einzuordnen, aber der Autor ist so offenkundig lustlos allem gegenüber, was mit der SED-Diktatur zusammenhängt, dass seine knappen Ausführungen weder in sich stringent sind noch wenigstens faktisch immer stimmen. Besonders erstaunlich ist, dass die Frage, ob der Aufstand und seine Niederschlagung 1953 nicht entscheidend zum Legitimitätsgewinn der jungen Bundesrepublik beitrug und so der „17. Juni“ schließlich dazu führte, die Demokratie in der bundesdeutschen Gesellschaft fest zu verankern, meist nicht einmal thematisiert wird.

Dieser Befund verweist darauf, dass der „17. Juni“ in der historischen Forschung, Lehre und Publizistik nicht annähernd jenen historischen und gesellschaftlichen Platz errungen hat, der ihm zustünde. Der Volksaufstand im Jahr 1953 zählt zu den wenigen revolutionären Massenbewegungen in der deutschen Geschichte, die – die Mainzer Republik einmal außen vor gelassen – von 1848 über 1918/19 bis zu 1989 reichen. All dies waren Ereignisse mit unterschiedlichen Zielen, Verlaufsformen und Erfolgen. Das Jahr 1953 reiht sich in diese Aufzählung ein. Es unterscheidet sich von seinen Vorgängerereignissen dadurch, dass es mit dem Jahr 1989 eine unverhoffte Vollendung fand. Es geht dabei nicht einmal so sehr um einen historischen Vergleich zwischen den einzelnen Revolutionen, auch zwischen 1953 und 1989 überwiegen die Unterschiede, Gemeinsamkeiten waren nicht bestimmend. Aber beide Ereignisse spielten sich im selben System unter ähnlichen Rahmenbedingungen ab; auch ihre prinzipiellen Ziele ähnelten einander. Der nationale Aufbruchsversuch 1953 scheiterte, weil die sowjetische Armee ihre Verpflichtung, der DDR ihren Bestand zu garantieren, kompromisslos nachkam. 1989 dagegen spielten nationale Überlegungen bis zum Fall der Mauer am 9. November öffentlich aus guten Gründen fast keine Rolle. Da aber die Sowjetunion ihr bröckelndes Imperium in Europa nicht mehr zusammen halten konnte, transformierte sich die Demokratiebewegung wie von selbst in einen nationalen Aufbruch. Erst in diesem Moment, so könnte man idealtypisch formulieren, trafen sich auf den Straßen die Akteure von 1989 und 1953. Dabei ist ebenso idealtypisch festzuhalten, dass „die 1989er“ ihre Vorgänger, „die 1953er“, nicht erkannten, weil sie über deren Existenz kaum etwas wussten. Umgekehrt sahen viele 1953er in den 1989er keine wirklichen Gesinnungsgenossen.
Als problematisch erweist sich die angedeutete Einordnung des „17. Juni“ in die deutsche Geschichte aber auch deshalb, weil sie als bloßer Teil der DDR-Geschichte wahrgenommen wird und die DDR immer noch, trotz programmatisch anderslautender Bekundungen, weitgehend als Separatum behandelt wird. Es ist keine Ausnahme, wenn westdeutsch-sozialisierte Autorinnen und Autoren die DDR-Geschichte als einen Gegenstand betrachten, der den Ostdeutschen gehört. Die sollen sich gefälligst selbst daran abarbeiten. Im Januar 2012 haben zwei einflussreiche Zeithistoriker, Norbert Frei und Ulrich Herbert, etwas überraschend und unsinnig für Historiker behauptet, die DDR-Geschichte sei abgearbeitet, die Archivalien aus der DDR seien „langweilig“ und überhaupt – ganz im Sinne von Wehlers „Gesellschaftsgeschichte“ – „die Langeweile ist Teil des Forschungsproblems“ über die SED-Diktatur.

Der Platz des „17. Juni“ in der europäischen Geschichte erweist sich als noch problematischer. Wenn man einmal davon absieht, dass der „17. Juni“ ein beliebtes wissenschaftlich-historisches Thema für Fragen der internationalen Beziehungen darstellt, so ist zu konstatieren, dass über eine Einordnung des Volksaufstandes in die europäische Geschichte noch keine Debatte geführt worden ist. Die ständige Aktualität der Französischen Revolution in den politischen und intellektuellen Debatten Frankreichs verblüfft manchen Beobachter. Ebenso erstaunt schaut man immer wieder auf die Geschichtsvergessenheit in vielen europäischen Gesellschaften. Und doch werden die meisten immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt, wie wir gerade fassungslos und erschüttert in Osteuropa erleben müssen.

Deutschland wird in der europäischen Perspektive als Sonderfall behandelt. Die nationalsozialistische Herrschaft dominiert die Behandlung deutscher Geschichte, die bundesdeutsche Geschichte erscheint als Glücksfall und Erfolgsmoment. Die DDR spielt allenfalls als „16. Sowjetrepublik“ eine Rolle. Der Volksaufstand von 1953 aber scheint weder ein deutsches noch ein europäisches, nicht einmal ein osteuropäisches Ereignis gewesen zu sein.
Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass selbst in den kommunistischen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas, in den dortigen Widerstands- und Oppositionsbewegungen, die Vorgänge in der DDR kaum beachtet und noch weniger rezipiert worden sind. Die DDR galt zu sehr als Sonderfall.
Nach dem Fall der meisten kommunistischen Staaten in Europa sowie dem Ende der Apartheiddiktatur in Südafrika „wurden die Zeichen“, wie der französische Historiker Pierre Nora beobachtete, „einer wirklichen Globalisierung des Gedächtnisses gesetzt“. Es bildeten sich unterschiedliche, aber durchaus vergleichbare Formen der Vergangenheitsbewältigung heraus. Charakteristisch ist nicht nur, dass sich „der Gebrauch“ von Vergangenheit intensiviert hat. Zugleich ist zu konstatieren, „dass dem Historiker das Monopol genommen wird, das er traditionsgemäß auf die Interpretation der Vergangenheit besaß“, wie Nora beobachtete. Wann agiert ein Historiker als Wissenschaftler und wann als Bürger? Die Frage scheint banal. Dort, wo am lautesten die klare und eindeutige Antwort ultimativ und lautstark befördert wird, ist die Trennung fast immer am wenigsten gegeben. Es ist wie mit der vermeintlichen Objektivität der Wissenschaft: die wortgewaltigsten Vertreter dieses berauschenden Konzeptes gehören zumeist zu den skrupellosesten Verrätern der Objektivität sobald es um Stellen, Posten, institutionellen Einfluss und Pfründe geht.
Hier rückt der „17. Juni“ als Beispiel wieder ins Blickfeld. Wenn man zunächst seine Bedeutung für Deutschland betrachtet, so könnte man schnell mutmaßen, die Erinnerung ist im Wesentlichen in den fünfziger und sechziger Jahren in der Bundesrepublik auf breitem Niveau institutionalisiert worden, flachte dann zusehends im veränderten politischen Kontext ab und blieb schließlich ein weitgehend auf die Politik beschränktes Ritual, das gesellschaftlich die Form einer sozialpolitischen Errungenschaft besaß. In der DDR dagegen kam es zu keiner gesellschaftlichen Erinnerungsform, die über Propagandaformeln hinausreichte. Nach 1989 war „man“ sich zunächst ohne Diskussion einig, der „17. Juni“ bleibe bedeutungslos. Zaghafte Versuche, den „17. Juni“ als Gedächtnis- und Erinnerungsort zu beleben, blieben halbherzig. Die wissenschaftlichen Forschungen über den „17. Juni“ hingegen schritten schnell voran. Das aber hatte kaum Rückwirkungen auf Politik und Gesellschaft. Nicht einmal die Integration in übergreifende Zusammenhänge erfolgte innerhalb der Wissenschaft. Das beste Beispiel dafür: in die dreibändige voluminöse Ausgabe über die „Deutschen Erinnerungsorte“ (2001) fand der „17. Juni“ keine Aufnahme.

Wenn man nun konstatiert, dass der „17. Juni“ zu den zentralen Ereignissen in den letzten 200 Jahren deutscher Geschichte und als massenhafte Freiheitsbewegung für „Freiheit und Einheit“ zu den demokratischen Glanzpunkten der deutschen Geschichte zählt, stellt sich nicht mehr nur die Frage, wie dieser Stellenwert gesellschaftlich vermittelt und im deutschen Erinnerungskanon verankert werden könne. Es erhebt sich auch das Problem, ihn als Teil in die europäische Erinnerungskultur einzuführen. Der „17. Juni“ hätte gute Chancen, „dort“ verankert zu werden. Und dies aus mehreren Gründen. Erstens, weil er eine revolutionäre Volksbewegung für einen demokratischen Verfassungsstaat darstellte. Zweitens, weil er vor dem Hintergrund einer Diktatur Grenzen zu überwinden beabsichtigte. Drittens, weil er in vielen Staaten vergleichbare Pendants kannte bzw. ihm viele folgten. Viertens, weil er belegt, dass es trotz übermächtig wirkender politischer Eliten oder Systeme immer und überall lohnt, die Würde des Einzelnen zu verteidigen und zu behaupten. Und fünftens, darin liegt retrospektiv seine besondere Suggestionskraft, weil er im Verbund mit anderen nationalen Erhebungen und Entwicklungen schließlich eine unverhoffte und späte Vollendung 1989/90 im gesamten kommunistischen Machtbereich Europas fand.
Insofern steht „der 17. Juni“ auch für das neue Europa. Und wenn Europa Erzählungen und Mythen benötigt – und es benötigt sie dringend –, dann gehört die gescheiterte Revolution von 1953 für Freiheit, Demokratie und Einheit dazu. Nicht zuletzt angesichts des aktuellen Zustands Europas dürfte es hilfreich sein, darauf hinzuweisen, dass Krisen keine typische Erscheinung der Gegenwart sind.
Charakteristisch war es immer, sich dagegen zu wehren, sich einzusetzen, ohne zu fragen, was am Ende dabei herauskommt. In solchen Perspektiven, die die Geschichte „randvoll“ machen, wird die Gegenwart vielleicht nicht besser, aber unter Umständen zukunftsträchtiger.