von Jan C. Behrends

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1. Oktober 2013

 

Am 23. September 2013 verkündet die russische Aktivistin und Sängerin der Punkrock-Band Pussy Riot, Nadežda Tolokonnikova, dass sie im mordwinischen Straflager IK-14 einen Hungerstreik beginnt.[1] Sie begründet ihren Entschluss mit Zwangsarbeit, Gewalt und Demütigung, die den Lageralltag prägten und eine menschenwürdige Existenz unmöglich machten. Detailliert beschreibt sie das Regiment der Angst und des Terrors, mit dem sich die Lagerverwaltungen ihre Insassen unterwerfen. Jeder Protest gegen Willkür und Gewalt ziehe harte Strafen und die Isolation von den anderen Gefangenen nach sich.

Tolokonnikovas Brief veranschaulicht die Kontinuität von Gewalt und Repression in Russland. Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende der UdSSR hat sich die russische Führung von Michail Gorbačevs Projekt der oktroyierten Zivilisierung Russlands verabschiedet.[2] Die Straflager des russischen Ostens hatte die Liberalisierung ohnehin kaum erreicht. Nach wie vor sind sie eine eigene Welt, ein Gewaltraum, der eigenen Gesetzen folgt. Auch wenn die Gewaltexzesse nicht mehr die Dimension haben wie in den Jahren, die Aleksandr Solženicyn und Varlam Šalamov aus eigener Erfahrung eindrucksvoll beschrieben haben, bleibt die Kontinuität staatlicher Repression bedrückend: Die Entrechtung von Bürgerinnen und Bürgern ist in Russland weiterhin Realität. Ein geringfügiges Vergehen – das „Punk-Gebet“ in der Moskauer Kathedrale – genügt, um Sklavenarbeit und Schikane ausgesetzt zu werden in einem Lager, das seinen Insassen nur wenige Stunden Schlaf und kaum Möglichkeiten zur Hygiene bietet. Der Staat beantwortet symbolischen Protest mit der Unterwerfung des Individuums.

Die Geschichte der russischen Gegenwart lässt sich jedoch nicht auf das Fortwirken des autoritären Staates beschränken. Vielmehr gilt es, den Blick auf die russische Gesellschaft zu richten und zu fragen, welche Impulse von ihr ausgehen. Bereits seit den 1960er Jahren gehört ziviler Protest gegen staatliche Willkür zur politischen Kultur Russlands. Die Dissidenten hatten der revolutionären Gewalt, die Russland im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägte, abgeschworen und sich darauf besonnen, dem sowjetischen Leviathan gewaltfrei entgegenzutreten. Sie forderten Regeln, Verfahren und Gesetzlichkeit ein und versuchten mit diesen Mitteln, den autoritären, aber kaum legitimen Staat in seine Schranken zu weisen. Der KGB und andere parteistaatliche Instanzen verfolgten die oppositionelle Szene unbarmherzig: Einschüchterung, sozialer Abstieg, Lagerhaft und Einweisung in die Psychiatrie gehörten zu den Mitteln, mit denen Protest gegen die kommunistische Obrigkeit verhindert werden sollte.[3] Eine fundamentale Änderung ergab sich erst durch Gorbačevs Perestroika: Nun wurde aus illegaler Dissidenz eine politische Opposition. Diejenigen, die sich gegen die sowjetische Herrschaft gestellt hatten, wurden in der Regel rehabilitiert und bekamen die Möglichkeit, sich politisch zu betätigen. Für kurze Zeit wurden ihre Ideale – Freiheit, Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit – auch zum erklärten Ziel der Herrschenden.

Doch die gesellschaftliche Liberalisierung endete bereits wenige Jahre nach dem Ende der Sowjetunion. Im zweiten Teil der Herrschaft Boris El’cins machte sich das Gewicht der Gewaltapparate wieder bemerkbar – Polizei, Innenministerium, Armee und Geheimdienste waren nach dem Abschied vom Kommunismus nicht reformiert worden. Sie drängten entschlossen zurück an die Macht. Der Krieg in Tschetschenien mit seinen Gewaltexzessen signalisierte, dass die liberale Phase zu Ende war und dass die Gewalt mit Furor ins politische Leben Russlands zurückkehrte. Seit dem Jahr 2000 kam es dann zur fast vollständigen Restaurierung autoritärer Herrschaft und zur weitgehenden Zerstörung der pluralistischen Strukturen, die in der Perestroika entstanden waren. Bei wachsendem Wohlstand schien es dennoch für lange Jahre, als ob das neue Regime als legitim und stabil angesehen würde.

Die Proteste, die seit dem Herbst 2011 Russland erschüttern, zeigen, dass die Unterwerfung der russischen Gesellschaft, ihre Ruhigstellung durch die Verheißungen des Konsums, ein zweites Mal gescheitert ist. Wie im Spätsozialismus sieht sich der autoritäre Staat wiederum der Herausforderung durch eine Opposition gegenüber, die sich friedlich auf den Straßen Gehör verschafft. Mischa Gabowitsch hat eine erste Analyse von Russlands neuer Protestkultur vorgelegt.[4] Sein Buch ist jedoch weit mehr als nur eine Analyse des Protests und seiner Forderungen: Es ist eine Geschichte der russischen Gegenwart. Gabowitsch bietet der deutschen Öffentlichkeit die historische Tiefe und konzeptionelle Breite, die in der medialen Berichterstattung fehlt. In einer bewundernswerten Tour d’Horizon beschreibt er sowohl die Genese des Regimes und die Struktur seiner Gewaltapparate als auch die Gründe für seine Krise. Er erklärt, wie sich die russische Gesellschaft im Protest neu konstituierte, aus welchen Gruppen sich die Bewegung zusammensetzt, welche Praktiken sie entwickelte und welche Forderungen sie vereint. Dabei wechselt der Verfasser virtuos zwischen der Mikroebene, individuellen Erfahrungen und dem soziologischen Blick auf die gesamte Gesellschaft. Durch diese unterschiedlichen Perspektiven, durch seine Bereitschaft, sich nicht auf Moskau und St. Petersburg zu beschränken, sondern auch die russische Provinz zu beachten, erhalten seine Leser einen differenzierten Blick auf die politische Kultur des gegenwärtigen Russland. Wie in der sowjetischen Zeit sticht dabei die Spannung zwischen Gewalt und Zivilität hervor: Der Gewaltkultur des Staates treten Bürgerinnen und Bürger entgegen, die das Ideal der zivilen Konfliktlösung verbindet.

Wie lassen sich die Chancen der russischen Protestbewegung beurteilen? In Russland gilt, was auch der chinesische oder iranische Fall gezeigt haben: So lange die Gewaltapparate loyal zum Regime stehen, ist ein Umsturz wenig wahrscheinlich. Nadežda Tolokonnikova steht mit ihrer Prominenz für viele Tausend russische Bürgerinnen und Bürger, die in die Mühlen der Staatsgewalt gerieten. Sicherheit vor staatlicher Willkür gibt es in Russland nicht. Mischa Gabowitsch weist in seiner Studie jedoch mit Recht darauf hin, dass nicht spektakuläre politische Erfolge, sondern der schleichende Wandel vermutlich die stärkste Waffe der Protestierenden ist. Die Bürger auf den Straßen können dazu beitragen, Korruption und Machtmissbrauch anzuprangern, die Legitimität des Regimes zu hinterfragen, alternative Werte zu präsentieren, Öffentlichkeit zu schaffen und zivile Konfliktlösungen aufzuzeigen. Die westlichen Gesellschaften sind gut beraten, Russland nicht auf seine Herrschenden zu reduzieren und den Kontakt zu Vertretern seiner vielfältigen Gesellschaft zu suchen. Das ist nicht nur eine Frage des Anstands – der westliche Protest gegen die Haftbedingungen Tolokonnikovas und die politische Justiz sollten sicher noch deutlicher sein. Es ist auch eine Frage des Interesses und der Neugier, denn dort, wo so fundamentale Konflikte ausgetragen werden wie in den postsowjetischen Gesellschaften, lassen sich Dynamiken des Politischen studieren, die neue Protestformen hervorbringen. Russland ist ein Laboratorium des zivilen Protests.

 

[2] Jan C. Behrends: Oktroyierte Zivilisierung. Genese und Grenzen des sowjetischen Gewaltverzichts 1989, in: Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012, S. 401-423.

[3] Vgl. als Erfahrungsbericht die Episoden in David Satter: Age of Delirium. The Decline and Fall of the Soviet Union. New Haven, CT 1996.

[4] Mischa Gabowitsch: Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur, Berlin 2013.