von Chris Wahl

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7. Juni 2017

Es ist keine große Überraschung, dass der erste abendfüllende Film, der von filmarchivarischen Tätigkeiten im digitalen Zeitalter handelt, aus Österreich kommt. Zum einen, weil unser Nachbarland in seiner jüngeren Geschichte nicht nur eine starke dokumentarische Tradition, sondern auch ein reichhaltiges Angebot an experimentellen Filmen aus Archivmaterial hat, zum anderen, weil das Österreichische Kanzleramt kürzlich zwei Papiere zum nationalen Filmerbe veröffentlicht hat, die in ihrer analytischen Bestandsaufnahme und in ihren Vorschlägen für eine Zukunftsstrategie weit über das hinausgehen, was seit einigen Jahren beispielsweise in Deutschland öffentlich diskutiert wird. Dass solch ein Film überhaupt entstanden ist und auf den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wurde, zeigt zudem, wie brennend das Thema tatsächlich ist, auch wenn es bei der breiten Öffentlichkeit in seiner ganzen Tragweite und Komplexität, die auch der Dramaturgie von CINEMA FUTURES merklich zu schaffen gemacht haben, noch nicht angekommen sein mag.

Fast schon heldenhaft hat der Regisseur versucht, aus der Fülle möglicher Aspekte eine nachvollziehbare Ordnung zu schaffen, die sich niederschlägt in einer Struktur aus einem einführenden Prolog und sieben Kapiteln. Das Thema des ersten Kapitels The Unfriendly Takeover ist der durch eine kaufmännische Entscheidung um die Jahrtausendwende ausgelöste digitale Umbruch in der Distribution von Filmen, der direkte Auswirkungen auf deren Produktion und Projektion mit sich brachte, während die Digitalisierung der Postproduktion (Special Effects), wie im Prolog angesprochen, bereits in den 1990er Jahren angelaufen war. Das zweite Kapitel The Decline of the Silver Empire konzentriert sich auf die Herstellung von Filmmaterial – heute, aufgrund der im ersten Kapitel beschriebenen Vorgänge und trotz Massenentlassungen, ein Monopol der Firma Kodak, da Agfa und Fuji die Produktion völlig eingestellt haben. Traces of the Material Ghost kreist um die Feststellung, dass Filme selbst Archive des Lebens sind, die dieses gleichzeitig wieder auferstehen lassen können, dass sie also – frei nach Jan und Aleida Assmann – zugleich Speicher- und Funktionsgedächtnis sind. Im vierten Kapitel Instructions for a Time Capsule geht es im Kern um die Beschaffenheit und Besonderheit von analogem Filmmaterial und um dessen Restaurierung. Traces Undone behandelt die digitale Restaurierung von Filmen, The Digital Dilemma die Vor- und Nachteile der analogen oder digitalen Langzeitarchivierung. Der Film schließt mit dem siebten Kapitel A Day in the Life of ..., das sich mit der Archivierung des Internets bzw. aller massenmedialer Kanäle und damit auch mit der Schnittstelle zur Überwachung auseinandersetzt.

Stilistisch bedient sich Michael Palm einerseits an Merkmalen des Essayfilms, nicht nur wegen der Kapitelstruktur und der teilweise lyrischen Zwischenbilder der dadurch fast magisch erscheinenden Handlungsorte (z.B. der Packard Campus des Audio-Visual Conservation Center der Library of Congress in Culpeper, Virginia oder das George Eastman Museum in Rochester, New York), sondern auch wegen seiner selbst gesprochenen Voice-Over-Kommentare, deren persönlicher Impetus im Prolog auf der visuellen Ebene durch die Inszenierung der Vorführung eines Super-8-Films unterstützt wird, auf dem Palm als Kind, von seinem Vater gefilmt, zu sehen ist. Chris Marker, einer der international renommiertesten Protagonisten des Essayfilms, wird nicht nur mit seinem Film LA JETÉE (1962) direkt zitiert, sondern steht mit dem von ihm nicht zuletzt in SANS SOLEIL (1983) zentral verhandelten Zusammenhang von individuellem Erinnern, kollektivem Gedächtnis und bewegtem Bild auch Pate für einen Erzählstrang von Palms Film, der sich besonders im Kapitel Traces of a Material Ghost niedergeschlagen hat. Allerdings kann man Palm vorwerfen, dass dieser Themenkomplex nur bedingt mit dem Umbruch von analog zu digital und der ungewissen Zukunft von Film und Kino zu tun hat. Seine Interviewpartner, der Regisseur Apichatpong Weerasethakul und der Philosoph Jacques Rancière, können hierzu kaum etwas Substantielles beitragen. Da helfen auch hübsche Formulierungen des Regisseurs nicht weiter: „Wenn der Film keine Mumie ist, dann ist er ein Vampir, der immer wieder aus seinem Sarg steigt; der Schlaf des Films in den Dosen ist dem Schlaf eines Vampirs in seinem Sarg nicht unähnlich.“

Während der „sprechende“ Einsatz verschiedenster Ausschnitte aus Spiel-, Werbe- und Lehrfilmen sowie einzelner Musikstücke an die ironische Kommentierung ernster Themen bei Marcel Ophüls und damit an eine andere essayistische Tradition erinnert[1] , schließt die exzessive Arbeit mit Talking Heads in ihren besten Momenten an die Montagen der Fernsehfilme von Eberhard Fechner an, der gerne Berufsgruppen und Angehörige bestimmter Schichten porträtierte, indem er sie alle über dieselben Sachverhalte berichten ließ, was zu Bestätigungen, aber auch zu Widersprüchen in der Erzählung und damit zu einem komplexen Bild führte. Auch bei Palm gibt es glücklicherweise diese virtuell hergestellten Meinungsverschiedenheiten zwischen Filmhistorikern, Filmrestauratoren, Labortechnikern und Kuratoren, es gibt aber, und das ist sehr schön, im Gegensatz zu Fechner stellenweise auch eine Inszenierung der Interviewten in ihrer Arbeitsumgebung, die wieder zu ironischen Brechungen führen kann, wenn sie pfeifend in der Unendlichkeit ihrer Lagerhallen oder stolpernd in der Dunkelheit eines Containers des Internet Archives verschwinden, der bis vor kurzem noch das gesamte Web enthalten haben soll.

CINEMA FUTURES ist eine vielschichtige Studie über den Film als bewegtes Bild und als Material sowie in Ansätzen über das Kino als Institution, Ort und Medium, dies und noch mehr steckt in dem Begriff „cinema“, wobei sich der Plural „futures“ im Titel einerseits auf die unterschiedlichen Aspekte der Digitalisierung bezieht, andererseits und vor allem aber auf verschiedene Lösungswege für die Herausforderungen der Filmarchivierung im 21. Jahrhundert. Die unterschiedlichen Aspekte der Digitalisierung, die unmittelbar mit dem Erbe des Films zu tun haben und im Film zur Sprache kommen, sind die Umrüstung der Kinos, die digitale Restaurierung und Postproduktion, die sowohl Alterungsprozesse von Filmen als auch von SchauspielerInnen aufhalten kann, die so genannte Retro-Digitalisierung, das Einscannen analoger Filme zum Erhalt und/oder zur Zugänglichmachung und schließlich die digitale Langzeitarchivierung mit dem Verfall der Codes, dem Verfall von Formaten, Programmen und Systemen sowie der nötigen Migration von Daten und der Emulation von Software. Gleichzeitig spielt die analoge Archivierung eine große Rolle – als Notwendigkeit, als Alternative und als unlösbare Aufgabe, denn niemand weiß, wer in Zukunft die dazu notwendigen Maschinen, die nicht mehr hergestellt werden, bedienen und reparieren soll, woher das notwendige Filmmaterial und die Gelder kommen sollen, die derzeit natürlich eher in digitale Maßnahmen fließen. Was Palm damit sehr schön herausarbeitet und ganz zu Recht in seiner widersprüchlichen Offenheit stehen lässt, ist die Tatsache, dass wir uns nicht, wie so oft postuliert, in einem digitalen, sondern noch immer in einem hybriden analog-digitalen Zeitalter befinden, auch und gerade in der Welt des Films. Das augenzwinkernde Umschlagen im Vorspann von „A film by“ zu „A file by“ zeigt also mehr ein Oszillieren denn eine umfassende und vollständige Veränderung, auch wenn die Tendenz eindeutig sein mag.

Mit seinem letzten Kapitel A day in the life of ... setzt der Film einen Kontrapunkt zur zeitlich limitierten Haltbarkeit digitaler Daten und führt die dafür raumgreifende Totalität an, mit der Medienarchive bzw. Geheimdienste heute arbeiten können. Das mag eine schöne Perspektivierung für ein Filmende sein, hat aber mit dem vorliegenden Thema nur am Rande zu tun. Die Geschichte der Speichermedien und der Konservierung menschlichen Lebens über das Bewegtbild hinaus oder auch der immens wichtige Umgang mit Metadaten und Datenbanken wird ansonsten im Film nur in Form kleiner Einsprengsel erwähnt und hätte anders gewichtet oder ganz weggelassen werden sollen. Stattdessen wäre die Ausarbeitung beispielsweise des Bereichs der filmbegleitenden Materialien (Fotos, Plakate, Schriftgut usw.) vorstellbar gewesen, deren Digitalisierung und vor allem Verknüpfung mit den entsprechenden Filmen auf einer dem Filmerbe gewidmeten Plattform ein großes Versprechen der binären Codes einlösen würde. Nico de Klerk, langjähriger Mitarbeiter des Nederlands Filmmuseum in Amsterdam[2], hat sich kürzlich in seiner Promotionsschrift Showing and telling sehr kritisch dazu geäußert, wie internationale Gedächtnisinstitutionen die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Präsentation ihrer Bestände nutzen und wäre ein sehr guter Gesprächspartner gewesen.

Trotz kleinerer Einwände ist CINEMA FUTURES nicht nur ein verdienstvolles, interessantes und anregendes, sondern über weite Strecken auch ein unterhaltsames Werk, dem man eine weite Verbreitung und eine Erhaltung für die Zukunft nur wünschen kann.

Cinema Futures wurde im Jahr 2016 von der österreichischen Produktionsfirma Mischief-Films produziert und ist über Mischief-Films als DVD erhältlich (office@mischief-films.com).
Trailer des Films auf Mischief-Films

 

[1] Highlights sind sicherlich die „Anrufung“ von Mr. Spock aus STAR TREK und dessen fachmännische Begutachtung einer alten Filmrolle: „bad photography“ sowie die Vertauschung der Baumringe, auf denen Kim Novak in einer Szene aus Hitchcocks VERTIGO (1958) die Sterblichkeit der von ihr verkörperten Figur vermerkt, mit einer laufenden Filmrolle.
[2] heute: Eye Film Instituut Amsterdam