von Jutta Braun

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1. Oktober 2013

Die DDR galt lange Zeit als das „Sportwunderland“.

Insgesamt 755 olympische Medaillen, 768 Weltmeister- und 747 Europameistertitel vermochte das vergleichsweise kleine Land mit nur 17 Millionen Einwohnern in vierzig Jahren Sportgeschichte aufzuhäufen. Mit dieser Bilanz schlug die DDR nicht nur die Bundesrepublik um Längen, vielmehr konnte sie in den 1970er Jahren zur drittstärksten Sportnation hinter den USA und der Sowjetunion aufsteigen und verdrängte bei den Winterspielen von Sarajewo 1984 sogar den "großen Bruder" von Platz 1 des Medaillenspiegels. Bis heute umgibt den DDR-Sport ein Hauch ostdeutscher Nostalgie. Von Vertretern des vereinten deutschen Sports wurde das Leistungssportsystem der DDR nicht selten als wünschenswertes organisatorisches Vorbild gepriesen.
Nach dem Ende der SED-Diktatur zog das untergegangene Sportsystem und vor allem seine vermuteten "Geheimnisse" nicht nur die journalistische Neugier, sondern auch das Interesse der Politik und der Wissenschaft auf sich. In der öffentlichen Debatte um die Strukturen dessen Strukturen blieben die eigentlichen Akteure, die Athleten selbst, häufig außerhalb des Blickfeldes.

Sandra Kaudelka will dies mit ihrer Dokumentation, zugleich ihr Abschlussfilm an der Film- und Fernsehakademie in Berlin, nun ändern und rückt vier Lebensläufe ostdeutscher Spitzensportler in den Mittelpunkt ihres Films. Im Fokus der Filmemacherin steht die mentale Verfassung der Protagonisten und deren Motivation: „Für mich stand  immer die Frage im Raum, warum es tatsächlich so viele gab, die sich dem Drill und dem Druck freiwillig ausgeliefert haben. Oder wurden sie auch gezwungen, so wie ich?“
In der Tat ist es ein autobiografischer Ansatz, der den Film trägt und begleitet: Denn auch Kaudelka selbst war, wie die meisten, bereits als Kind in das Leistungssportsystem aufgenommen worden, 1989 wurde sie sogar DDR-Meisterin im Wasserspringen, dennoch war der Mauerfall  für sie „der Tag, an dem mir die Freiheit von meinem ungeliebten Sport geschenkt wurde.“

Doch lässt Kaudelka, was man nach einer solchen Einführung hätte erwarten können, nicht allein Kritiker des Sportsystems zu Wort kommen. Vielmehr spiegeln die vier von ihr ausgewählten Athleten die gesamte Bandbreite möglicher Haltungen und Reflexionen gegenüber der eigenen Sport-Karriere. Der Umgang damit reicht von affirmativem Stolz bis hin zu scharfer Distanzierung von den eigenen sportlichen Leistungen und den unlauteren Methoden, die diese Leistungen ermöglichten.
Zu Wort kommen der Potsdamer Kugelstoßer Udo Beyer, Olympiasieger und dreifacher Weltrekordler, Brita Baldus, Europameisterin im Wasserspringen aus Leipzig, die Jenaer Sprinterin und Weltrekordlerin Ines Geipel sowie die 400-Meter-Läuferin und Olympiasiegerin von 1980 Marita Koch aus Rostock, deren letzter von 15 Weltrekorden bis heute ungebrochen ist.

Die Interviewpassagen, die die Protagonisten an ihren heutigen Wohn- und Arbeitsorten zeigen, werden immer wieder gebrochen durch historische Filmaufnahmen: Kaudelka hat hier seltene Filmausschnitte aus den 1970er und 1980er Jahren zusammengetragen, als Deutschland gegen Deutschland antrat: bunt-flimmernde Bilder von sportlichen Delegationsreisen zu internationalen Wettkämpfen, SED-Propagandaveranstaltungen und private Feiern im engeren Kreis der Athleten. Das übliche Amüsement über die verwerflichen Modeerscheinungen vergangener Dekaden (flächendeckende Dauerwelle in Ost wie West!) mischt sich hier beim Zuschauer mit Befremden über die selbstverständliche politische Indienstnahme junger Athleten in der DDR, etwa beim Verlesen von Elogen auf das sozialistische System.

Dennoch widersteht der Film der Versuchung, sich allein am ideologischen Überbau der politischen Systemkonkurrenz abzuarbeiten. Vielmehr werden in Kaudelkas Dokumentation die ungeheuren Folgen der Grundsatzentscheidung für den Leistungssport auf die Biografie der einzelnen Sportler deutlich.
Hierzu gehört schließlich auch die von Sportsoziologen gerne so genannte sporttypische „biografische Falle“, die die Athleten nach dem Ende der aktiven Karriere zu einem Berufsweg zwingt, auf den man sich aufgrund der hohen zeitlichen Belastungen durch den Sport in den Jahren zuvor kaum hat vorbereiten können. Bei den von Kaudelka Porträtierten wurde dieser vorhersehbare biografische Bruch noch durch die unerwartete politische Wende des Jahres 1989 überlagert.

Für einige bot die Wende Chancen für ein völlig neues Leben, andere stellte sie vor unerwartete Probleme: So hatte Brita Baldus trotz zweier Hochschulabschlüsse Probleme, einen adäquaten Job zu finden; Marita Koch und Udo Beyer entwickelten Unternehmergeist in der Sportartikelbranche und im Tourismusgewerbe. Und Ines Geipel, der die SED in der DDR die Promotionsmöglichkeit in Germanistik verweigert hatte, konnte im vereinten Deutschland ihre Talente entfalten und eine Laufbahn bis hin zur Hochschulprofessorin an der Schauspielschule Ernst Busch in Berlin beschreiten.

Im Zentrum des Films stehen die Erfahrungen der Athleten im Leistungssportsystem der DDR. Natürlich kann hier das Thema Doping nicht außen vor bleiben, auch wenn die Filmemacherin betont, sie wolle eine Reduktion des Themas auf die Dopingpraxis in der DDR vermeiden, weil dies der Komplexität des Alltags nicht gerecht würde.
Kaudelka nähert sich den Personen, ohne sie zu bedrängen oder gar entlarven zu wollen. Als etwa Marita Koch zum Thema illegale Leistungssteigerung beharrlich schweigt, insistiert sie nicht, obgleich ein bis heute gültiger Weltrekord von 1980 per se Fragen aufwirft und die Dopingvergangenheit von Koch an anderer Stelle bereits dokumentiert ist. Der Film versteht sich jedoch nicht als investigativer Journalismus, sondern spiegelt die seelische und intellektuelle Verarbeitung des Sports in einer Diktatur – und da gehört Verdrängen genauso zu den möglichen Verhaltensmustern wie konsequentes Aufklären.
Letzteres repräsentiert Ines Geipel. Und hier gewinnt der Filmtitel eine zusätzliche Bedeutungsebene: Denn hinsichtlich der Aufarbeitung der Vergangenheit des DDR-Sports blieb Ines Geipel über viele Jahre recht allein auf weiter Flur, eine mutige Außenseiterin innerhalb der Sportszene. Im Jahr 2006 wagte sie das im Sportkosmos bislang Undenkbare und beantragte ihren Weltrekord als „vergifteten Rekord“ aus den Annalen zu streichen, was die vereinte deutsche Sportbürokratie in große Ratlosigkeit stürzte. Ihr Name wurde schließlich gestrichen und durch ein Sternchen ersetzt, der Weltrekord hingegen blieb bestehen. Als Vorsitzende des Doping-Opferhilfevereins gehört Geipel bis heute zu den beharrlichsten Kritikern nicht nur des menschenverachtenden Zwangsdopings in der DDR, sondern auch der heutigen Unaufrichtigkeit im Umgang mit manipulierten Leistungen im internationalen Sport. Geipels Schicksal zeigt auch, wie brutal der SED-Staat mit seinen Goldkindern umging: Seit Beginn der 1970er Jahre wurden die Athleten im Sport- wie im Freizeitbereich rund um die Uhr bespitzelt. Bei politischer Unzuverlässigkeit erfolgte ihre "Herauslösung" aus dem Leistungssport: mit fadenscheinigen Begründungen, fingierten Vorwürfen oder, wie bei Ines Geipel, sogar forciert durch einen chirurgischen Eingriff, mit der die Stasi versuchte, sie „auf Eis zu legen“ – nachzulesen in der Opfer-Akte Ines Geipels in den Beständen der BStU.
Bei Ines Geipel suchte der Staat vor allem das zu verhindern, was er am meisten fürchtete: die Republikflucht ihrer Sportstars. Schließlich ging im Fall eines abtrünnigen Spitzensportlers nicht allein eine Spitzenkraft verloren. Der Imageschaden war enorm, wenn eine sozialistische Vorzeigepersönlichkeit, die als Galionsfigur für die DDR wirkte, es plötzlich vorzog, ihren Lebensweg im Land des „Klassenfeindes“ fortzusetzen. Schließlich floh Geipel im Sommer 1989, über die Grenze bei Sopron.

Das Filmteam begleitet Ines Geipel bei der Eröffnung der historischen Ausstellung "Sportverräter" 2011 im Willy-Brandt-Haus in Berlin, in der sie gemeinsam mit 14 anderen ehemaligen DDR-Sportlern in Interviewfilmen Auskunft darüber gab, weshalb sie die DDR fluchtartig verließen: die Ostsee durchschwimmend, in die Karosserie eines Autos eingeklemmt, mit falschem Pass per Flugzeug – Geschichten von Einzelkämpfern auch hier, von Versuchen, einen individuellen, wenn auch abenteuerlichen Weg aus dem System zu finden.

Der Film berichtet auch von dem subtilen Zwang, den der medaillensüchtige Staat bereits auf die Kinder ausübte. Kein Talent sollte in der an Einwohnern vergleichsweise kleinen DDR durchs Netz rutschen – dafür sorgte die ESA, die Einheitliche Sichtung und Auswahl, mit deren Hilfe alle Schulkinder der Republik gewogen und vermessen wurden mit dem Ziel, ihre Eignung für bestimmte Sportarten zu prognostizieren und sie entsprechend zu kanalisieren.
Sandra Kaudelka berichtet von ihren eigenen Erfahrungen: „Im Kindergarten war ich von einigen Erwachsenen gesichtet worden. Daraufhin begann ich im Alter von fünf Jahren mit dem Training. War man erst einmal im sozialistischen Leistungssportsystem gefangen und einigermaßen talentiert, kam man so schnell nicht wieder raus.“

Einen positiv gestimmten Kontrapunkt im Film setzt hingegen Udo Beyer, die Kugelstoßlegende vom ASK Vorwärts Potsdam. Erstmals räumt auch er ein, gedopt zu haben und erklärt gleichzeitig, vom System insgesamt profitiert zu haben und mit seiner Laufbahn hochzufrieden zu sein. Bei ihm gibt es kein Hadern mit der Vergangenheit – und auch das ist authentisch. Udo Beyer gehörte zu DDR-Zeiten zu den prominenten Werbeträgern im parteioffiziellen Selbstbild der Stadt Potsdam. So schmückten Bände über die Geschichte der Stadt vorwiegend drei Sujets: Produktionsszenen in Betrieben, Aufmärsche und Paraden – und eben Sportmotive wie die Schwimmhalle am Brauhausberg und die örtlichen Spitzensportler Peter Frenkel, Evelin Jahl, die Gebrüder Landvoigt und Udo Beyer.
Hier kommt ein Aspekt ins Spiel, der in Kaudelkas Film nicht behandelt wird (und es auch nicht muss), der jedoch beim Rückblick auf die DDR-Sportgeschichte heute noch wirkungsmächtig ist: die kollektive Erinnerung an die Erfolge des "Sportwunders DDR" und der damit einhergehende Unwille, sich kritisch mit den Schattenseiten dieses Teils der DDR-Geschichte auseinanderzusetzen. Das war zuletzt zu beobachten, als die Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Brandenburger Landtag im Februar 2013 das Thema "Sport in Brandenburg" verhandelte. Wie sehr sich die Geister schieden, war daran abzulesen, dass eine regionale Tageszeitung die kritischen Ergebnisse der Kommission zwar auf der Titelseite präsentierte, die beiden anderen führenden Blätter hingegen auf eine eigene Berichterstattung zur Sitzung komplett verzichteten. Der Stolz auf die Auszeichnungen des ASK Vorwärts Potsdam und der SG Dynamo Rudern ist hier nach wie vor ungebrochen, historische Aufarbeitung nur begrenzt erwünscht.

Der beeindruckende und zudem sehr unterhaltsame Film von Sandra Kaudelka offeriert das gesamte Spektrum der persönlichen Auseinandersetzung mit dem DDR-Sportsystem, mit dem Leben in einer Diktatur sowie der nicht einfachen Einsicht, dass man zu ihren Aushängeschildern gehört hat. Die Autorin wird damit ihrem Anspruch gerecht, nicht einen Film über "Opfer oder Täter" zu präsentieren, sondern über "Menschen und deren ganz eigene Geschichte".

 

Einzelkämpfer (Deutschland 2013), Regie: Sandra Kaudelka, 93'

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de

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