Der 88-jährige Dokumentarfilmer Frederick Wiseman hat seinen neuesten Film „Ex Libris“ einer Einrichtung gewidmet, die nur unwesentlich älter ist als er selbst: der im Jahr 1911 gegründeten Public Library in New York. Wie in seinen 41 Filmen zuvor verzichtet er auch dieses Mal auf Kommentare aus dem Off und geht stattdessen mit seiner Kamera hinein in die Lesesäle, die Diskussionen und die Arbeitsprozesse. Seine Beobachtungen sind so erwartbar wie überraschend und zeigen vor allem eins: Die Bibliothek ist ein wichtiger Lernort für die Demokratie.
Mitten in Manhattan, an der Kreuzung der Fifth Avenue mit der 41. Straße sitzt das Hauptgebäude der New York Public Library (NYPL). Tatsächlich wirkt es in seiner Beaux-Art-Architektur mit dem herrschaftlichen Portal und den zwei marmornen Löwen davor wie eine alte, Respekt einflößende Dame aus einem früheren Jahrhundert, der niemand den Platz streitig machen will. Der museale feudale Flair verstärkt sich noch im Inneren des Gebäudes. Lesesäle mit Holzvertäfelung, Tischlampen und nachgedunkelten Ölgemälden an den Wänden erinnern eher an eine Filmkulisse, wenn da nicht die vielen Computerbildschirme auf den Tischen wären.
Fassade und Inhalt
Wisemans Kamera streift immer wieder mit dem Blick eines Ästheten durch das Gebäude. Im nächsten Schnitt aber zeigt er die Telefonauskunft in ihrem etwas angestoßenen vollgepackten Interieur. Geduldig erklären die Bibliothekare und Bibliothekarinnen hier, dass Einhörner Fabelwesen und keine Tiere sind, die Gutenbergbibel gerade nicht ausgeliehen werden kann und welche Medien der Anrufende ausgeliehen hat. Ohne dass Wiseman fragt oder kommentiert, wird klar, dass die Auskunft Gebenden nicht nur bibliothekarische Kenntnisse, sondern auch ein breites Allgemeinwissen und Humor brauchen, aber auch mehrsprachig und psychologisch geschult sein müssen, um hier arbeiten zu können.
Der hohe bildungspolitische Anspruch der Einrichtung durchzieht als roter Faden und als formalästhetische Leitlinie den Film. Gezeigt werden Buchpräsentationen mit so illustren Autoren wie dem Evolutionsbiologen und bekennenden Atheisten Richard Dawkins, dem britischen Musiker Elvis Costello, mit Patti Smith oder dem Autor Ta-Nehisi Coates, ohne dass deren Namen erwähnt oder gar eingeblendet werden. Genauso wenig wie der Name der Kinderbibliothekarin in einer Zweigstelle, die über den Aufschwung der Ausleihen von Mathematiklehrbüchern spricht. Ebenso bleiben die Fließbandarbeiter ungenannt, die trotz der automatischen Rückgabe der Medien notwendig sind, um die Bücher, Filme und CDs an ihren Platz im Regal zu bringen. In einem auf Egalität ausgerichteten Umfeld sind alle gleich wichtig – so die Message.
Digitale Herausforderung
Doch die soziale Wirklichkeit sieht anders aus, wobei als eines der größten Probleme für demokratische Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft der digitale Analphabetismus ausgemacht wird. Denn wenn von den Herausforderungen des digitalisierten Wandels gesprochen wird, wird selten an jene gedacht, die gar keinen Internetzugang haben und denen damit ein partizipatorischer Umgang mit der modernen Informationswelt verwehrt ist. In New York sind es drei Millionen Menschen, die keinen eigenen Internetanschluss haben. Deshalb verleiht die NYPL eben nicht nur Bücher und Filme, sondern auch Hotspot-Pakete mit einem begrenzten Datenvolumen. Darüber hinaus werden Schulungen angeboten, die die basalen Funktionsweisen eines Computers und des Internets erklären, um so digitale Inklusion überhaupt zu ermöglichen.
Ein weiteres Missverständnis wird im Film thematisiert. Obwohl sehr viel digitalisiert wird – der Film zeigt eindrücklich, wie viel Handarbeit dafür notwendig ist –, liegt ein Großteil der von der Bibliothek angebotenen Inhalte nicht digitalisiert vor. Anthony Marx, Leiter der NYPL, bezeichnet diese Tatsache als den Heiligen Gral des 21. Jahrhunderts. Alles zu digitalisieren wird kaum möglich sein! Das Verständnis dafür, dass die alte Dame NYPL mit ihren Bücherregalen und Leselampen auch im digitalen Zeitalter ihre Daseinsberechtigung hat, muss immer wieder neu erkämpft werden.
Mäzenatentum und Armut
Anders als in der deutschen Bibliothekslandschaft bedeutet das Wort public (öffentlich) keineswegs, dass die NYPL ausschließlich aus öffentlichen Geldern finanziert wird. Tatsächlich macht die staatliche Förderung gerade einmal 61 % des Bibliotheksetats aus. Und selbst dieser Beitrag ist unsicher. Als die letzte Finanzkrise 2008 ihren Höhepunkt erreichte, sank die öffentliche Förderung der NYLP auf einen Tiefpunkt. Mäzenatentum und Spenden sind da unerlässlich und ein fester Bestandteil der Haushaltsplanung, wie in fast allen kulturellen Einrichtungen der Vereinigten Staaten, auch das zeigt der Film: die Ausrichtung der Werbekampagnen auf die potentiellen Spender und Spenderinnen, die in extra dafür ausgestatteten Gala-Veranstaltungen umworben werden, wo an ihr philanthropisches Gewissen appelliert wird.
Das ist nicht der einzige Unterschied zur hiesigen Situation der öffentlichen Bibliotheken. Die NYPL ist in einem noch viel höherem Maße Volkshochschule, Kulturzentrum, Jobcenter und Aufenthaltsort für Menschen, die es sich nicht leisten können, in ein Café zu gehen, um im Warmen zu sitzen.
Empathie und Pathos
Frederick Wiseman erzählt davon in seinem Film mit viel Empathie, aber nicht ohne Pathos. Ausführlich zeigt er die Diskussionen innerhalb der Verwaltung über den Anspruch, die Strategien und die Ideale der NYPL. Das ist mitunter ermüdend, für die Bibliotheksangestellten wie für die Zuschauer und Zuschauerinnen. Wenn dann aber ein klassisches Quartett gezeigt wird, das für Menschen spielt, die gebannt zuhören, wobei einige sich wohl nie eine Karte für die Carnegie Hall leisten werden können, ist das berührend. Ebenso wie die Musikstunde für eine Gruppe von Krabbelkindern oder das Seminar für Schulkinder, die einen Roboter bauen und dabei lernen, dass sie etwas leisten können. Politische Diskussionen über den Umgang mit rechter beziehungsweise rechtsradikaler Literatur, wie sie zuletzt auf dem 107. Deutschen Bibliothekartag in Berlin geführt wurden, kommen nicht vor.
Vielmehr wird dem Idealismus gehuldigt, den Bibliothekare und Bibliothekarinnen brauchen, um immer wieder darauf hinzuweisen, wie notwendig ihre Arbeit für eine demokratische Gesellschaft ist, wie wichtig ein egalitäres Bildungsangebot außerhalb des Schulsystems ist. Khalil Gibran Muhammad, 2015, im Jahr der Entstehung des dreieinhalbstündigen Films, Leiter des Schomburg Centers for Research in Black Culture, einer Zweigstelle der NYPL, bringt es auf den Punkt: „Wir retten Leben“ und unterstreicht damit, was eine Architektin für Bibliotheksbauten im Film sagt: „Es geht nicht um Bücher, es geht um Menschen.“
EX LIBRIS – Die Public Library von New York
Regie: Federick Wiseman (USA 2017)
Filmproduktion: Zipporah Films
Der Film wurde am 4. September 2017 im Wettbewerb der 74. Internationalen Filmfestspiele von Venedig uraufgeführt und lief ab 13. September 2017 in den US-amerikanischen Kinos. Bei uns in Deutschland wurde der Film erstmals am 8. Oktober 2017 im Rahmen des Filmfests Hamburg gezeigt. Deutscher Kinostart war der Tag der Bibliotheken am 24. Oktober 2018.