Derzeit vergeht kaum eine Woche, in der nicht lautstark eine zunehmende Verfettung moderner Menschen und Gesellschaften beklagt wird. In Deutschland gilt beinahe ein Viertel der Erwachsenen als adipös, in den USA sind es fast 35%, und die American Medical Association hat „obesity“ jüngst als chronische Krankheit anerkannt. Die World Health Organization warnt schon seit geraumer Zeit vor einer Epidemie, die von den westlichen Gesellschaften ausgehend den gesamten Planeten erfasse. Bereits im Jahr 2001 hat die WHO den Begriff „globesity“ geprägt, um dieses Phänomen zu beschreiben.
Medizinische Terminologie wird immer dann gern aufgerufen, wenn gesellschaftliche Krisen als existenziell wahrgenommen werden – darauf hat Reinhart Koselleck schon vor Jahren hingewiesen. Viel Körperfett gilt offenbar als Zeichen reduzierter Leistungsfähigkeit und auch mangelnder Leistungsbereitschaft, und zwar des individuellen Körpers sowie, en masse, des Gesellschaftskörpers insgesamt. Die Rede von einer „Adipositas-Krise“ behauptet die grundlegende Gefährdung einer Gesellschaft, die systemisch um die erfolgreiche Selbstführung ihrer Mitglieder kreist.
Die vielfältigen Ängste, die um Körperfett und die individuellen wie kollektiven Gefährdungsszenarien kreisen, sind zutiefst historisch. Diese Geschichte untersuchen wir an der Universität Erfurt in einem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojekt über „Das essende Subjekt“. Dabei schauen wir vor allem in die USA. Öffentliche Debatten und auch lebenswissenschaftliche Analysen verorten die historischen Anfänge dieses Krisenszenarios zumeist in den 1980er, bestenfalls den 1970er Jahren. Ein großer Schurke in dieser Geschichte ist die Nahrungsmittelindustrie, die die Menschen nicht nur mit bequemen und billigen, sondern auch mit kalorisch hochverdichteten Produkten lockt, um ihre Profite zu maximieren. Als anderer Übeltäter ist der zunehmende Bewegungsmangel des (post)modernen Alltags ausgemacht, der mit dem Schlagwort des „sitzenden Lebensstils“ auf den Punkt gebracht werden soll. Eine historische Betrachtung zeigt jedoch, wie die Geschichte industriell verfertigter Nahrungsmittel und mit ihr die Furcht vor falscher Ernährung schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte. In dieser Zeit begann sich auch ein biopolitischer Diskurs zu etablieren, der bereits über mangelnde Körperbewegung als Kennzeichen eines modernen Lebensstils klagte. Wie die Historikerin Nina Mackert gezeigt hat, standen dickere Körper um 1900 nicht mehr nur für Erfolg und Wohlstand, sondern sie galten fortan zunehmend als Ausdruck von Faulheit, Unwissenheit und mangelnder Selbstführung. Begleitet war diese Umdeutung des Körperfetts von einem ersten Fitness- und Ernährungshype, der auf die Kultivierung der Körperlichkeit ausgerichtet war und vor allem unter Männern der weißen Mittelklasse um sich griff.
Durch eine solche historisch weitere Perspektive soll natürlich nicht behauptet werden, eine gerade Linie führe vom 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart. Die Geschichte des Dickseins, seiner Bedeutungen und seiner Problematisierung ist wechselhaft und verschachtelt – diesseits wie jenseits des Atlantiks. Und auch dann, wenn die Betrachtungen erst in den 1970er Jahren einsetzen und sich auf die USA konzentrieren, ist diese Geschichte komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Wenn man diese Geschichte verstehen will, dann reicht es nicht, die Nahrungsmittelindustrie und den sitzenden Lebensstil zu ihren Schurken zu erklären. Denn sie bedarf der Rückbindung an die grundlegende Funktionsweise solcher Gesellschaftsordnungen, die um das freie Individuum kreisen und das Recht auf Freiheit auch immer an die Pflicht koppeln, das Beste aus den gegebenen Freiheiten und aus sich zu machen. Nur wer sich gut um sich selbst kümmert, so lautet die liberale Maxime, trägt auch zur Kräftigung des Kollektivs bei.
Um nun die Wucht der gegenwärtigen Klagen über die „Adipositas-Krise“ greifen zu können, muss man diese Verantwortung und Verpflichtung bedenken, die freiheitliche Gesellschaften den einzelnen zusprechen – und zwar für sich selbst, für ihr Leben und dessen „erfolgreiche“ Gestaltung. Diese Geschichte der Selbstverantwortung durchläuft diverse Konjunkturen, in denen die 1970er Jahre schon in den Augen von Zeitgenossen eine Zäsur markierten. Amerikanerinnen und Amerikaner kreisten so sehr wie noch nie um das „Ich“, schrieb der Journalist und Romancier Tom Wolfe im New York Magazine vom 23. August 1976. Wolfe taufte die Siebziger als „Me decade“, in der das Ich den Rhythmus des Lebens vorgebe und die Menschen mehr denn je danach strebten, sich selbst zu verwirklichen und aus sich ein erfolgreiches Projekt zu machen. Nach den identitätspolitischen Kämpfen der vorangegangenen fast 20 Jahre, in denen vor allem um körperlich gedachte Kategorien wie Geschlecht, Hautfarbe und Sexualität und deren gesellschaftliche und politische Bedeutungen gerungen worden war, bot sich der Körper als zentraler Referenzpunkt von Selbstgestaltung wie Gesellschaftsordnung geradezu an. Über den Körper ließ sich bestimmen, wer und was man war oder nicht war und wo man stand.
Eine ständig größer werdende Zahl an Menschen arbeitete mit geradezu religiösem Eifer daran, ihre Körper zu gestalten, um so ihre Position in der „Me“-Gesellschaft selber zu bestimmen und zu optimieren. Vor allem Läufer, von denen es jeden Tag mehr gab, berichteten von regelrechten Konversionserfahrungen, die sie aus einem Leben der Faulheit, des fetten Essens, des Alkohols und des Verfalls erlöst hatten: "I was in such bad shape“, hieß es etwa in einem Brief eines Kardiosportlers an Kenneth Cooper, einen der Apostel der Fitness-Bewegung, „I weighed 247 pounds and my heart would beat like a drum when I got up from my chair to go to the refrigerator."
Gepredigt wurden harte Arbeit am Körper, Selbstdisziplin und eine reine Lebensführung, die sich in einem langen und gesünderen Leben und einer fitten Erscheinung auszahlen sollten: Die protestantische Ethik hatte eine neuartige körperliche Form angenommen, mit Joggern und Aerobicsportlerinnen als den neuen Auserwählten. Wer nicht fit war – oder besser: wer nicht fit erschien – war entweder unwissend oder zu nachlässig, um hart genug an sich selbst zu arbeiten.
Tom Wolfe erklärte die Suche nach Selbsterfüllung aus den Identitätspolitiken der 1960er Jahre sowie aus einem Sog beinahe ungebremsten Wohlstandswachstums heraus, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast die gesamte amerikanische Gesellschaft erfasst habe. Dabei übersah er aber offenbar soziale, kulturelle und körperliche Differenzierungen, die in der Körperfixierung der „Me“-Gesellschaft mitschwangen. Nur kurz nach Wolfe beschrieb das Time Magazine Ausschlüsse und Untiefen im Amerika der 1970er Jahre. Vor allem African Americans und Latinos, hob der weit beachtete Artikel hervor, lebten als neue „Underclass“ in den wachsenden Slums der amerikanischen Innenstädte. Neu daran war weniger die Armut nicht-weißer Menschen in Amerika, sondern vor allem, dass viele von ihnen räumlich wie sozial zunehmend abgekapselt vom Rest der Gesellschaft und deren Potenzialen existierten, und dies trotz eines Jahrzehnts der Bemühungen, eine „Great Society“ aufzubauen. In einer „Me“-Gesellschaft, die die Erfüllung des Selbst zum Programm erhob, an dem angeblich alle Menschen in Amerika teilhaben konnten, bekam das Leben in der „Underclass“ mehr denn je den faden Geschmack, eine Folge selbstverschuldeter Unfähigkeit zu sein. Dass eine solche Unfähigkeit insbesondere Latinos und African Americans attestiert wurde, korrelierte mit der damals ohnehin sehr virulenten Vorstellung, vor allem African Americans seien in ein ganzes „Bündel von Pathologien“ (Daniel P. Moynihan) verstrickt, das sie ohnehin nicht entwirren könnten und dem sie sich ergeben hätten.
Nur wenig später, im Januar 1978, publizierte die Kulturkritikerin Susan Sontag in der New York Review of Books den ersten von drei Artikeln über „Krankheit als Metapher“, mit deren Hilfe ich noch einen weiteren Kontext für eine historisch-kritische Betrachtung der „Adipositas-Krise“ öffnen will. Selbst mit einer Krebsdiagnose konfrontiert, sezierte Sontag in diesen Texten den medizinischen wie öffentlichen Diskurs in den USA, der eine Krebserkrankung als Konsequenz einer wenig lebensbejahenden Persönlichkeit verstand. Auch wenn Sontag nicht eine einzige Zeile über das Dicksein schrieb, lassen ihre Texte doch messerscharf erkennen, wie sich die Wahrnehmung von Krankheit als Folge und Zeichen einer falschen Lebenseinstellung in die Kultur der „Me Gesellschaft“ fügte, in der sich so vieles um die Gestaltbarkeit des Körpers und den Willen zur Arbeit am Selbst drehte. Schließlich und endlich gilt Fitness als durch Training optimierte Gesundheit, als Folge der Konversion zu einem lebensbejahenden Lebensstil, der auch an der erarbeiteten Körperform ablesbar sei. Über die Spulen der just erfundenen Videorekorder geisterten die Bilder von Jane Fondas mit – so lassen uns die Videokassetten glauben – großer Lebensfreude antrainiertem Idealkörper wie in einer Endlosschleife durch die amerikanischen Wohn- und Schlafzimmer.
Der Kulturwissenschaftler Robert McRuer spricht von einer „compulsory able-bodiedness“, die sich bis heute immer fester im Herzen westlicher Gesellschaften eingenistet habe. Diese ‚Zwangsfitness‘ fordert nicht nur produktive Menschen, sondern sie leitet deren Produktivität zudem von ihrer körperlichen Erscheinung ab. Dicke Körper stehen für ein Scheitern an den Anforderungen einer solchen Gesellschaft, und, wenn sie zum Massenphänomen werden, scheint das Scheitern dieser Gesellschaft selbst zu drohen. Dabei wird der Gefahrenherd insbesondere bei den Unterprivilegierten verortet, bei der „Underclass“ eben, die als diejenigen firmieren, die zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung nicht in der Lage sind: Bei African Americans, Latinos und Latinas sowie beim „White Trash“, bei den Unwissenden und Unfähigen eben, deren Körper in besonderem Maße jenseits von BMI-Toleranzschwellen liegen und als adipös betrachtet werden. Im Gegensatz dazu führen vor allem die weißen Mittelklassen ihre Produktivität, Selbstverantwortlichkeit und Lebensbejahung auf: Mehr denn je bevölkern sie die Sportstudios und machen City-Marathons zu Massenevents, von denen Frank Shorter nicht zu träumen wagte, als er 1972 bei den Olympischen Spielen in München nach 42,195 Kilometern als erster über die Ziellinie lief, um dann zur Ikone der amerikanischen Laufbewegung zu werden.