Geschichte ist für die Kommunistische Partei Chinas keineswegs nur ein akademisches Studienobjekt. Aus der Vergangenheit wird vielmehr die Legitimation für die Fortdauer der Ein-Parteienherrschaft in der Gegenwart abgeleitet, daher spielt die korrekte Bewertung historischer Ereignisse eine zentrale Rolle in der Parteipolitik. Dies zeigt sich etwa in den peinlich genau zu beachtenden terminologischen Vorgaben für die Benennung historischer Ereignisse in der Tagespresse, in der Propagierung staatlicher Feiertage, wie etwa den erst im März eingeführten offiziellen Gedenktagen an den (unverhofften) Sieg im Widerstandskrieg gegen Japan und an die Opfer des Nanjing-Massakers, bis hin zu den großen Symbolen staatlicher Macht.
Auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Herzen Beijings steht ein solches Symbol, das „Denkmal für die Helden des Volkes“. Das bis 1989 frei zugängliche Denkmal erinnert mit Hilfe von Flachreliefs an acht historische Ereignisse, denen nationale Bedeutung für den Sieg der chinesischen Revolution zugeschrieben wird. Eines der Reliefs erinnert an die Niederschlagung der „Bewegung des 30. Mai“, als im Jahr 1925 etwa ein Dutzend Studenten und Bürger Shanghais bei Protesten gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen in ausländischen Fabriken vor einer Polizeiwache im Internationalen Konzessionsgebiet erschossen wurden.
Während die Bewegung des 30. Mai in ihrer Funktion als Katalysator nationalen Revolutionsbewusstseins einen festen Platz im offiziellen Geschichtsbild gefunden hat, zeigt die Bewertung der beiden sogenannten „Tian’anmen-Zwischenfälle“ der Jahre 1976 und 1989 die Schwierigkeiten der kommunistischen Geschichtspolitik. In beiden Fällen war der Tod eines beliebten Politikers (1976 Zhou Enlai, 1989 Hu Yaobang) der Auslöser für das spontane Niederlegen von Kränzen und Blumen am Denkmal der Volkshelden. Aus dem Gedenken entwickelte sich jeweils Protest gegen aktuelle politische Zustände, der gewaltsam niedergeschlagen wurde. Während aber die im Zuge der Demonstrationen von 1976 inhaftierten Bürger nach dem Tod Mao Zedongs und dem Sturz der Viererbande rehabilitiert wurden und die offizielle Bewertung nicht mehr von einem „konterrevolutionären Umsturzversuch“, sondern von einer „patriotischen Bewegung“ sprach, wird die Erinnerung an die Ereignisse und Opfer der Proteste von 1989 bis heute rigoros unterdrückt.
Die Demonstrationen von 1989 richteten sich gegen eine Vielzahl von Missständen, darunter Kaderprivilegien, Pressezensur und Inflation. Der Verlauf und die Radikalisierung der Bewegung, die Unentschlossenheit der Parteiführung und die besonderen historischen Rahmenbedingungen, vor allem durch den Besuch Gorbatschows im Mai 1989, sind mittlerweile gut erforscht. Viel weniger aber wissen wir über die Proteste außerhalb Beijings. Anders als die ikonischen Bilder der Bewegung vermuten lassen, wurden in über 200 Städten die negativen Begleiterscheinungen der Wirtschaftsreformen und das Ausbleiben politischer Mitspracherechte angeprangert. Auch die Zahl der Opfer ist bis heute ungeklärt. Während interne Parteidokumente von rund 240 Toten sprechen, gehen akademische Schätzungen weit auseinander. Die von der privaten Organisation „Mütter von Tiananmen“ (www.tianmenmother.org) trotz scharfer politischer Restriktionen erstellte Opferliste umfasst mittlerweile 202 Namen. Einigkeit besteht in der Forschung über die Verantwortung für die militärische Niederschlagung der Proteste. Durch einen Abstimmungspatt im formell höchsten Parteiorgan, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, beschloss der inoffizielle „Ältestenrat“ der Kommunistischen Partei den Militäreinsatz gegen die Protestierenden. Eine Neubewertung des Ereignisses würde somit dieses Gremium und damit Deng Xiaoping selbst diskreditieren. Durch den starken Personenfokus der chinesischen Politik stellt das offizielle Geschichtsbild gleichzeitig immer auch ein Leistungszeugnis der jeweiligen Parteiführer dar, was eine unabhängige Bewertung einzelner historischer Ereignisse maßgeblich erschwert.
Während die ins Ausland geflohenen Führer der Protestbewegung sich teilweise weiter dem Gedenken an die Opfer oder der Propagierung demokratischer Reformen in China widmen, leiden die in China verhafteten Demonstranten bis heute in vielfältiger Weise an den Folgen politischer Unterdrückung. Der Schriftsteller Liao Yiwu hat einigen von ihnen in seinem Buch „Die Kugel und das Opium“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Eine Debatte über die Ereignisse findet in China jedoch zumeist nur in den Kreisen der unmittelbar Betroffenen statt. Die nach den Ereignissen geborene Generation hat zumeist nicht einmal mehr rudimentäre Kenntnisse über die Vorgänge von 1989, da die umfassende Medienzensur das Thema rigoros aus der Öffentlichkeit verbannt hat, auch wenn sich die Zensur durch trickreiche Synonyme oder alternative Stichwörter („35. Mai“) partiell umgehen lässt.
25 Jahre nach der Niederschlagung der Proteste lässt sich konstatieren, dass es der Partei gelungen ist ihr Herrschaftsmonopol gewaltsam zu bewahren und sich die Hoheit über die Interpretation der Geschichte zu sichern. Der Preis, den die chinesische Gesellschaft dafür gezahlt hat, ist jedoch hoch. Das Vertrauen in die politischen Führungseliten ist auf einem Tiefpunkt angekommen. Es erscheint undenkbar, dass heute der Tod eines Parteiführers weitreichende spontane Trauerkundgebungen hervorrufen könnte. Die allgemeine Desillusionierung in Anbetracht politischer Willkür und wirtschaftlicher Selbstbereicherung hat dazu geführt, dass die Partei sich verstärkt auf das Anfachen eines gegen Japan gerichteten Nationalismus zur Herrschaftssicherung stützt und mit Hilfe von offiziell verordneten Wertedebatten dem allgemeinen Misstrauen und Egoismus zu begegnen trachtet. Anlässlich seines Besuches im Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 2012 ließ sich der ehemalige chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao mit den Worten zitieren: „Ohne ein Verständnis der Geschichte kann es keine gute Zukunft geben“. Doch bislang lässt die Parteiführung den Satz ausschließlich in Bezug auf den Umgang Japans mit dem Erbe des Zweiten Weltkriegs zitieren. Hinsichtlich der chinesischen Geschichte bleibt es die Partei selbst, die entscheidet, welchen historischen Ereignissen unter der Prämisse des Patriotismus Geschichtswürdigkeit beigemessen wird.