von Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon

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10. Juni 2021

Mit unserem Hashtag #IchBinHanna, der auf ein Erklärvideo des BMBF zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz zurückgeht, sind prekäre Arbeitsbedingungen wie nie zuvor in den Twitter-Fokus geraten. Dank tausender Tweets von Wissenschaftler:innen, die Forschung und Lehre unter prekären Arbeitsverhältnissen in Deutschland ein Gesicht geben, hat es der Hashtag auf Platz 1 der Trends in Deutschland geschafft. Wer unter #IchBinHanna über prekäre Anstellungsverhältnisse twittert, muss auch Erwerbslosigkeit fürchten oder hat sie bereits erlebt: Die Kurzzeit-Kettenbefristung nach Wissenschaftszeitvertragsgesetz führt immer wieder zu Lücken vor, zwischen oder nach Anstellungsverhältnissen – weitergeforscht wird oft aber trotzdem, dann in der Erwerbslosigkeit, finanziert über ALG 1, Hartz IV, Rücklagen oder familiäre Unterstützung. Was genau hat es mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf sich – und was wissen wir über Forschung in der Erwerbslosigkeit?

Wissenschaft jenseits der Professur findet in Deutschland überwiegend unter den Rahmenbedingungen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) statt. Es handelt sich hierbei um ein Sonderbefristungsrecht für die Wissenschaft, das wesentlich zu einer beachtlichen Befristungsquote an deutschen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen beigetragen hat: 92% der ohne Professur Beschäftigten unter 45 sind befristet angestellt.[1] Ein zentrales Element dieses Sonderbefristungsrechts ist die Höchstbefristungsdauer von 6+6 Jahren vor und nach der Promotion. Nach einer Anstellung in diesem Umfang dürfen nur noch unbefristete Verträge ausgestellt werden. Angesichts fehlender Planstellen werden Wissenschaftler:innen, die bis dahin keine der wenigen entfristeten Stellen ergattert haben, jedoch aus dem System gedrängt. Die damit einhergehenden Probleme wurden jüngst immer wieder auf Twitter unter den Hashtags #FrististFrust, #unbezahlt[2], #acertaindegreeofflexibility und #95vsWissZeitVG[3] diskutiert.

 

Die Entwicklung des Sonderbefristungsrechts

Das WissZeitVG ist im Jahr 2007 in Kraft getreten. Befristungen in der Wissenschaft gab es aber auch schon vorher in beachtlichem Umfang. Es waren Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft, der Wissenschaftsrat, die Westdeutsche Rektorenkonferenz bzw. seit 1990 die Hochschulrektorenkonferenz und andere, die spätestens seit den 1970er Jahren kontinuierlich eine Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten forderten.[4] 1985 wurden schließlich entsprechende Befristungsregelungen in das Hochschulrahmengesetz (HRG) aufgenommen. Obgleich das Gegenteil eingetreten ist, soll sich mit dem WissZeitVG auch eine Intention des Gesetzgebers verbunden haben, Entfristungen zu befördern.[5] Noch in jüngerer Zeit forderten Bundestag und Bundesregierung immer wieder ergebnislos dazu auf, die überbordende Befristungspraxis einzudämmen.[6] Gegenwärtig wird die Novelle des WissZeitVG von 2016 evaluiert; allerdings wird mit den Ergebnissen pandemiebedingt erst in der nächsten Legislaturperiode zu rechnen sein.

 

Desiderate der zeithistorischen Wissenschaftsforschung

Es überrascht, dass in der (zeit-)historischen Forschung bislang selten eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftspolitischen bzw. juristischen Grundlagen des eigenen Arbeitens stattgefunden hat.[7] Insbesondere ist selten thematisiert worden, dass die wenigsten Verträge in der Praxis eine der erforderlichen Qualifikationszeit angemessene Laufzeit haben, sondern Kurz- und Kürzestverträge und damit einhergehende Stückelungen an der Tagungsordnung sind. Dies bedeutet, dass Beschäftigte zwischenzeitlich auch immer wieder vertragslose Zeiten überbrücken müssen. Dabei wird die Forschung in diesen Zeiten der Erwerbsarbeitslosigkeit jedoch häufig keinesfalls unterbrochen, sondern fortgesetzt – finanziert über Ersparnisse, familiäre Subvention und nicht zuletzt Arbeitslosengeld 1 beziehungsweise Hartz IV.

 

Die Agentur für Arbeit als verdeckte Förderinstitution der deutschen Wissenschaft?

Statistiken zu Forschung auf ALG 1 und Hartz IV sind alles andere als zahlreich. Aus der nacaps-Studie geht zwar hervor, dass unter den Promovierenden lediglich 2 % ihre Weiterarbeit an der Qualifikation über ALG 1 oder Hartz IV finanzieren.[8] Jedoch erfasst diese Erhebung allein den aktuellen Beschäftigungsstatus Promovierender im Frühjahr 2019, ist also eine bloße Momentaufnahme. Indes fehlt eine Erhebung dazu, wie viele Promovierende im Laufe ihrer Promotion überhaupt je eine oder mehrere Phasen der Erwerbsarbeitslosigkeit aufweisen. Zwar ist bekannt, dass etwa die Anfangs- und Endphase der Promotion häufig durch Erwerbsarbeitslosigkeit charakterisiert sind[9] – wie viele Promovierende dies betrifft, lässt sich angesichts fehlender Zahlen allerdings nicht überblicken. Zusätzlich erschwert wird die Abschätzung der Ausmaße des Promovierens in der Erwerbsarbeitslosigkeit dadurch, dass das Thema schambesetzt ist. Zur Promotion Befragte geben gerade Zeiträume der Erwerbsarbeitslosigkeit nicht mit an.[10] Festhalten lässt sich zumindest, dass Promovieren in der Erwerbsarbeitslosigkeit stark fächerabhängig ist: Mit 15 % ohne Stelle oder Stipendium besonders hoch ist laut dem iFQ-ProFile-Workingpaper von 2012 der Anteil der Promovierenden in den Kunst- und Rechtswissenschaften, der Philosophie, der Geschichte und der Germanistik.[11]

 

Fehlende Daten zur Erwerblosigkeit von Wissenschaftler:innen nach der Promotion

Zu Phasen der Erwerbslosigkeit von Wissenschaftler:innen nach der Promotion gibt es bislang überhaupt keine konkreten Zahlen. Hier dürfte das Phänomen aber mindestens genauso häufig, wenn nicht häufiger sein. Schließlich ist die Postdoc-Zeit viel weniger strukturiert als die Promotionsphase. Promovierte werben außerdem oft sogar die Gelder für ihre Weiterbeschäftigung erst über Drittmittelanträge selbst ein und müssen so Zeiten überbrücken, in denen sich diese Anträge in der Begutachtung befinden. Dass nach der Habilitation eine Verpflichtung zur unentgeltlichen Lehre an der Heimatuniversität besteht, um den Titel „Privatdozent:in“ zu behalten, damit aber nicht unbedingt eine Anstellung verbunden ist, verschärft dieses Problem. Über die Folgen von Erwerbslosigkeit für die individuellen Karrierewege hinaus[12] ist es auch dringend erforderlich, aussagekräftige Zahlen zu erheben, um sichtbar zu machen, in welchem Ausmaß Forschung in Deutschland über ALG 1 und Hartz IV ‚zwischenfinanziert‘ wird.

 

Twitter-Impressionen zur Forschung in der Erwerbsarbeitslosigkeit

Im Rahmen einer Twitter-Umfrage gaben 51,2% der 363 Teilnehmenden an, während der Promotion oder Postdoc-Phase bereits erwerbsarbeitslos gewesen zu sein – 18,5% hatten von einer getätigten Arbeitslosmeldung keinen Gebrauch machen müssen, 30,3% waren bislang weder erwerbsarbeitslos noch entsprechend gemeldet. Das sind freilich noch keine validen Zahlen im Sinne empirischer Sozialforschung – gleichwohl weisen sie explorativ auf das skizzierte Desiderat hin. Aufschlussreich sind überdies die 63 Kommentare zur Umfrage: Hier berichten 53 Forscher:innen eindrücklich von ihren Phasen der Erwerbsarbeitslosigkeit. Dabei kommt häufig der Abschluss der Dissertation auf ALG 1 oder auf Hartz IV zur Sprache. Angesichts der erheblichen Diskrepanz zwischen der üblichen Dauer einer Promotion von durchschnittlich 5,7 Jahren und der durchschnittlichen Stellenlaufzeit Promovierender von 22 Monaten sollte dies eigentlich nicht überraschen.[13]

 

Erwerbsarbeitslosigkeit von Wissenschaftler:innen als Forschungsdesiderat

Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass Forschung auf ALG 1 und Hartz IV sich nicht in der Summe weniger Einzelfälle erschöpft, sondern System hat, so ergäbe sich daraus ein dringender politischer Handlungsbedarf. Zum einen ist Forschungsförderung mitnichten Zweck dieser Gelder. Zum anderen ist ein solches System mit immensen Risiken verbunden, die auf die Forscher:innen ausgelagert und individualisiert werden, obwohl Wissenschaft eine wesentliche staatliche Aufgabe ist. In der Erhebung von quantitativen und qualitativen Daten und ihrer Auswertung liegen daher wichtige Zukunftsaufgaben zeithistorischer Wissenschaftsgeschichte. Dabei können die Einordnung des WissZeitVG und der Diskussionen um ein Sonderbefristungswesen in ihren historischen Kontext wichtige Anhaltspunkte für die aktuelle politische Diskussion um die politisch-juristische Ausgestaltung der Grundlagen jeder Forschungsarbeit bieten.

 

Die Autor*innen des Beitrags haben mittlerweile einen Blog produziert, der die Presse- und Berichterstattung zum #IchBinHanna aufzeichnet:
Presse und Berichterstattung zu unserer Grassroots-Initiative, die prekärer Arbeit in der Wissenschaft ein Gesicht gibt
 

 


[1] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, S. 111 (letzter Zugriff 10.05.2021).
[2] Vgl. Karoline Döring: #unbezahlt? Die materiellen Grundlagen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, in: Cord Arendes et al.: Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert. Interventionen zu aktuellen Debatten. Berlin, Boston 2020, S. 7-14.
[3] Die kollaborativ zusammengetragenen Gravamina finden sich hier: Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon (Hrsg.): https://95vswisszeitvg.wordpress.com (letzter Zugriff: 10.05.2021).
[4] Es wäre sicherlich reizvoll, eine Netzwerkanalyse des obersten Wissenschaftsmanagements der alten Bundesrepublik vorzunehmen. Insbesondere führende Wissenschaftsmanager wie Reimar Lüst verdienten eine genauere Untersuchung.
[5] Freya Gassmann u.d.M.v. Jascha Groß und Cathrin Benkel: Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Eine erste Evaluation der Novellierung von 2016, S. 19 (letzter Zugriff 10.05.2021).
[6] Vgl. zuletzt die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021 (letzter Zugriff 10.05.2021).
[7] Jedoch jüngst Ariane Leendertz: Wissenschaftler auf Zeit. Die Durchsetzung der Personalpolitik der Befristung in der Max-Planck-Gesellschaft seit den 1970er-Jahren. MPIfG Discussion Paper 20/15. 2020 (letzter Zugriff 10.05.2021), die die MPG untersucht, wobei jedoch viele Ergebnisse auf die universitäre Wissenschaft übertragbar sein dürften. Die Nachzeichnung der Entwicklung der juristischen Regelungen finden sich bei Friedrun Domke: Das Befristungsrecht des wissenschaftlichen Personals an deutschen Hochschulen zwischen wissenschaftlicher Dynamik und sozialer Sicherheit. Eine Untersuchung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Jur. Diss Köln 2019. Baden-Baden 2020.
[8] Vgl. Antje Wegner: Die Finanzierungs- und Beschäftigungssituation Promovierender, in: DZHW Brief 4 (2020), S. 6 (letzter Zugriff 11.05.2021).
[9] Vgl. ebd., S. 139.
[10] Kalle Hauss et al.: Promovierende im Profil. Wege, Strukturen und Rahmenbedingungen von Promotionen in Deutschland. Ergebnisse aus dem Profile-Promovierendenpanel; iFQ-ProFile-Workingpaper 13 (2012), S. 124 (letzter Zugriff 11.05.2021).
[11] Vgl. ebd., S. 124.
[12] So der Fokus des Projekts „Funktionen und Folgen von Arbeitslosigkeit von Forscher*innen“ (letzter Zugriff 21.05.2021).
[13] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, S. 124 bzw. S. 108 (letzter Zugriff 10.05.2021).