von Olivier Lamon

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6. Juni 2019

Seit November letzten Jahres und den ersten Protesten der Gelbwestenbewegung in Frankreich äußerten sich zahlreiche HistorikerInnen und andere Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen in der Öffentlichkeit. Die Journalistin Chloé Leprince fragte im Januar in einer Radiosendung von France Culture: „Sind die WissenschaftlerInnen dazu verdammt, irgendetwas über die ‚Gelbwesten‘ zu sagen?“[1] Damit stellte sie die Relevanz wissenschaftlicher Interventionen in Frage. Ist die Arbeit von HistorikerInnen für die Beantwortung aktueller Ereignisse geeignet? Wie können sich HistorikerInnen ohne empirisches Material und ohne Distanz zu einem Ereignis ihrer eigenen Zeit stichhaltig äußern?

„Der Historiker schreibt immer in der Gegenwart.“[2] Dieser Satz des Historikers Robert Muchembled erinnert daran, dass die historische Arbeit selbst immer abhängig vom Kontext ist und dass HistorikerInnen unwiderruflich die Themen, Probleme, Interessen, Werte und Empfindungen ihrer Zeit in ihre Arbeit einfließen lassen. Jede vermeintliche Grenzziehung zwischen einer engagierten und aktiven Position einerseits sowie einer Position neutraler Beobachtung andererseits ist somit nur lückenhaft. Es ist die Entscheidung jedes Historikers oder jeder Historikerin, ob er oder sie eine parteiische Haltung gegenüber einem Ereignis wie den Gelbwestenprotesten einnimmt oder nicht.

 

Die Gelbwesten und deren Ideenlabor

Intellektuelle, einschließlich der*diejenigen der traditionellen französischen Linken, waren zunächst vom Aufkommen der Gelbwestenbewegung überwältigt, da sie „Denkfelder sprengten“[3]. Ihre militante Positionierung erwies sich daher als weniger überraschend als 1995 und 2016 während der Streiks gegen den Juppé-Plan und der Nuit debout.

Die Situation hat sich seitdem verändert, wie die Petition des Collectif universitaire contre les repressions policières (Universitäres Kollektiv gegen Polizeirepression) im März 2019 zeigte. Die mehr als tausend WissenschaftlerInnen dieses Kollektivs – darunter nicht nur HistorikerInnen – erklärten sich darin zu Verbündeten („Komplizen“) der Gelbwesten. Diese von SpezialistInnen für soziale Bewegungen, Strafverfolgung und politische Gewalt gestartete Initiative sieht die gegenüber den DemonstrantInnen angewandten Maßnahmen als übertrieben und eine Form der Unterdrückung an. Die Petition zielt darauf ab, „die Bevölkerung auf die ernsthaften Gefahren aufmerksam zu machen, die die neue Politik der Regierung [...] für die öffentlichen Freiheiten und Menschenrechte darstellt“[4]. Mit ihrer Unterschrift positionieren sich die Intellektuellen und verleihen der Petition durch ihren Status als ExpertInnen Legitimität, ohne die Bewegung ausdrücklich zu unterstützen.

Auch HistorikerInnen nutzen die Instrumente der Sozialwissenschaften, um Position zu beziehen. Ludivine Bantigny, Historikerin und Expertin für die Ereignisse im Mai 1968, unterstützt die Gelbwestenbewegung, lobt einerseits ihre „emanzipatorische Reichweite“ als auch andererseits die „aktive politische Phantasie bei der Ausarbeitung von Forderungen, Beschwerde- oder Hoffnungsbüchern“[5]. Sie ermutigt zudem die Gewerkschaften, ihren Kampf fortzusetzen. Ihre Position ist aus politischer und epistemologischer Sicht transparent.[6] Im Gegensatz dazu steht die Position von Patrick Boucheron, Mediävist am Collège de France, der stets Professionalität predigt, aber seinem eigenen Rat nicht folgt, indem er Gutachten verfasst, die keine wissenschaftlichen und historischen Grundlagen haben.[7]

Samuel Hayat, ein auf die Revolution von 1848 spezialisierter Politikwissenschaftler, nimmt eine engagierte Position gegenüber der Bewegung ein: Grundsätzlich äußert er sich zugunsten der Bewegung, widerspricht aber zugleich einigen ihrer Forderungen. Mit dem Ziel der „Erneuerung einer Politik der Emanzipation“ verbindet seine Haltung einerseits die von der Bewegung verurteilte professionelle parteipolitische Konzeption und andererseits die von der Bewegung verteidigte konsens- und bürgerorientierte Konzeption. Damit versucht er, den „Dissens zu demokratisieren“. Hayat leiht sich dafür Denkmechanismen von den VerteidigerInnen der „demokratischen und sozialen Republik 1848“: Die Idee, „die Massen in die Politik zu bringen, nicht um sie über dieses oder jenes Maß abstimmen zu lassen, sondern um eine Klassenpolitik zu erreichen“, hat für den Politologen zur Folge, „soziale Spaltungen [und alle Herrschaftsverhältnisse] sichtbar zu machen und sie nicht hinter einem solchen partizipativen Instrument zu verstecken, so demokratisch es auch sein mag“[8].

 

Vergleichen, um zu verstehen

HistorikerInnen können in die öffentliche Debatte über die Gelbwesten eingreifen, ohne eine parteipolitische Perspektive einnehmen zu müssen. Einige HistorikerInnen setzen sich beispielsweise mit den historischen Ereignissen auseinander, auf die sich die Gelbwesten selbst beziehen (Französische Revolution, '68 usw.). Dabei betonen sie häufig die Tatsache, dass sich jede aufständische Bewegung auf historische Ereignisse bezieht, um deren mobilisierende Kräfte für die eigene Bewegung zu nutzen.

 

Andere HistorikerInnen bedienen sich eines traditionellen Werkzeugs der Geschichtswissenschaft: dem Vergleich, in diesem Fall einem diachronen Vergleich. Es geht nicht darum, mit Hilfe einseitiger Vergleiche den Wert der Gelbwesten herabzusetzen oder zu erhöhen, indem beispielsweise im kollektiven Gedächtnis verwurzelte historische Referenzen abgeleitet werden. Die Wahl des Vergleichsparameters gibt vor allem Aufschluss über die Ausrichtung der oder des Vergleichenden, wie die Historikerin Mathilde Larrère betont: Die Gelbwesten mit den „Jacqueries“ zu vergleichen scheint abwertend intendiert zu sein, indem sich der Vergleich auf Archaik oder Gewaltausübung bezieht, während der positivere Vergleich mit den „Sans-Culottes“ die Gelbwesten in eine große historische Bewegung einbezieht.[9]

Wenn sich der Historiker*die Historikerin für einen Vergleich entscheidet, sollte er/sie einen streng festgelegten Vergleich vorschlagen, der die potenzielle Singularität der Gelbwestenbewegung analysiert und so das Verständnis verbessert.[10] In diesem Sinne haben die Historiker Nicolas Delalande und Alexis Spire, Spezialisten für die Geschichte der Steuern, die Gelbwestenbewegung in die lange französische Geschichte der Anti-Steuerrevolten aufgenommen.[11] Michelle Zancarini-Fournel, Expertin für Frauen- und Geschlechtergeschichte, versucht die Bewegung in Bezug auf die Geschichte der Beziehungen zwischen Herrschenden und Unterdrückten sowie in Bezug auf politische, wirtschaftliche und kulturelle Dominanz besser zu verstehen: Sie wertet damit die Rolle der Provinz auf und unterstreicht den zunehmenden Einfluss von Frauen während sozialer Unruhen.[12] Gérard Noiriel, Autor der kürzlich veröffentlichten Une histoire populaire de la France, betont die Bedeutung der Arbeiterklasse im Laufe der Geschichte und weist darauf hin, dass die Gelbwesten „die Verdeckung der sozialen Beziehungen und die Ignoranz der Arbeiterklasse“[13] durch die Regierungspolitik ausgedrückt hätten. Die Historikerin Danielle Tartakowsky analysiert die von den Gelbwesten angewendeten Mittel – unangemeldete Demonstrationen, Besetzung des öffentlichen Raums sowie Straßensperren – und betont die ungewöhnliche Kombination aus Steuer-, Sozial- und Kaufkraftforderungen in der direkten Demokratie. Weiterhin unterstreichen Tartakowsky und andere ExpertInnen für soziale Bewegungen die von den Gelbwesten – bewusst oder unbewusst – aufgenommenen Traditionslinien sowie deren einzigartigen Charakter. Dieser bestehe unter anderem darin, dass die Demonstrationen jeden Samstag in den wohlhabenden Vierteln des Pariser Westens stattfinden, die von den traditionellen sozialen Bewegungen außer Acht gelassen wurden.[14] Diese Aneignung neuer Räume, die Durchführung von unangekündigten Demonstrationen oder der Verzicht auf Gewerkschaften erklärten die anfängliche Passivität der Intellektuellen, die die Gelbwestenbewegung nicht sofort hätten fassen können.

Inzwischen hat sich die Situation geändert: HistorikerInnen reagieren in der Öffentlichkeit auf die Gelbwesten, einem Phänomen ihrer Zeit. Sie erinnern daran, dass die Geschichte keine Flucht aus der Gegenwart ist, für die die Vergangenheit ein Ventil darstellt. Die Geschichte ist, wie der Mitbegründer der Annales-Schule Marc Bloch schrieb, „eine Wissenschaft von den Menschen in der Zeit, und sie muß ständig die Erforschung der Toten mit der der Lebenden verbinden“[15]. HistorikerInnen sind – ob sie offen engagiert ins Zeitgeschehen eingreifen oder nicht – nicht ausschließlich auf Archive, Universitäten und ihre Elfenbeintürme beschränkt. Ihr Platz liegt nicht außerhalb des Geschehens – und noch weniger über ihm –, sondern in dessen Zentrum. Ihr profundes Wissen über die Vergangenheit macht sie nicht zwangsläufig zu Trägern historischer Wahrheit, die in der Lage wären, die Gegenwart ohne Fallstricke aufzuklären, aber ihr methodischer und hermeneutischer Zugang zur Vergangenheit erlaubt es ihnen, Hinweise und Hypothesen für die Analyse anzubieten, um die Gegenwart besser verstehen können.

 

Im Original wurde der Artikel auf Französisch verfasst und für die Veröffentlichung auf Zeitgeschichte-online von Jan-Luca Albrecht und Robert Friedrich unter Aufsicht des Autors übersetzt. 

 

 


[1] Chloé LEPRINCE, Les chercheurs sont-ils condamnés à dire n’importe quoi des ‚gilets jaunes‘?. In: Franceculture.fr, 18.01.2019 [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[2] Robert Muchembled, Culture populaire et culture des élites dans la France moderne, Paris 2011 [1978], S. 1.
[3] Comment les ‚gilets jaunes‘ ont fait exploser les cadres de pensée. In: Mediapart, 24.01.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[4] COLLECTIF DES UNIVERSITAIRES CONTRE LES REPRESSIONS POLICIERES, Universitaires, nous nous déclarons ‚complices‘ des gilets jaunes. In: Change.org, März 2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[5] Ludivine BANTIGNY, Le mouvement des ‚gilets jaunes‘ a une portée émancipatrice, Kommentar von N. Truong. In: Lemonde.fr, 28.2.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[6] Zu den Positionen von Ludivine Bantigny siehe: Ludivine BANTIGNY, L’œuvre du temps: mémoire, histoire, engagement, Paris 2019.
[7] Patrick BOUCHERON, Quelqu'un qui dit‚ ‘je vous l'avais bien dit‘, je ne l'écoute pas, Kommentar von N. Demorand und L. Salamé. In: France Inter, 7.2.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019]. Siehe in diesem Zusammenhang die Kontroverse zwischen Patrick Boucheron und Gérard NOIRIEL, Patrick Boucheron: un historien sans gilet jaune. In: Le populaire dans tous ses états, Blog von G. Noiriel, 11.2.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[8] Samuel HAYAT, „Les Gilets jaunes et la question démocratique“. In: Samuelhayat.wordpress.com, Blog von S. Hayat, 24.12.2018, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[9] Mathilde LARRERE, Les problématiques portées par les ‚gilets jaunes‘ sont le propre des révoltes depuis le Moyen Age. In: Le Monde, 5.12.2018, online eingesehen, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019]..
[10] Innerhalb der historischen Disziplin haben Vergleiche eine lange Tradition, die besonders durch die Arbeit von Marc Bloch geprägt ist; siehe insbesondere Marc BLOCH, Réflexions d’un historien sur les fausses nouvelles de la guerre. In: Revue de synthèse historique, Bd. 33, 1921. Bloch, der Mitbegründer der Annales-Schule, unternimmt einen Vergleich zwischen dem mittelalterlichen Kommunikationssystem und dem Kommunikationssystem der Schützengräben, das er während des Ersten Weltkrieges verwendete, um die Erfahrung der Gegenwart durch Kenntnisse der Vergangenheit besser zu verstehen. Siehe auch: Hartmut KAELBLE, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999.
[11] Nicolas DELALANDE,’Gilets jaunes‘, les habits neufs de la révolte fiscale“, Stellungnahme zu A. Chemin. In: Le Monde, 23.11.2018, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019]; Alexis SPIRE, Gilets jaunes: ‚Il n’est pas surprenant que le mouvement ait pris dans les zones rurales ou les villes moyennes’, Stellungnahme zu A. Leclerc. In: Le Monde, 16.11. 2018, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[12] Michelle ZANCARINI-FOURNEL, Les femmes ont une place majeure dans l’histoire populaire, Stellungnahme zu G. Pronet. In: Libération.fr, 23.2.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[13] Gérard NOIRIEL, Patrick Boucheron: un historien sans gilet jaune. In: Le populaire dans tous ses états, Blog von G. Noiriel, 11.2.2019, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[14] Vgl. die interaktive Karte Plongée dans le Paris populaire, 1830–1980 von Libération.fr, [zuletzt aufgerufen am 6. Juni 2019].
[15] Marc BLOCH, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, hrsg. von Peter Schöttler, Stuttgart: Klett-Cotta, 2016, S. 54.